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»Hast du Lust, mit rauszufahren?«

Alfred stand in einem alten blauen Overall und roter Mütze mit weißer Bommel auf der Treppe.

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ein andermal, vielleicht.« Ich schlug die Strickjacke enger um mich. In der Zugluft war mir kalt geworden.

»Nur eine kleine Angeltour?«, sagte er. »Du brauchst ein bisschen Abwechslung.« Sein Blick war freundlich.

Er kümmert sich, versucht mir zu helfen, dachte ich und spürte, dass seine Fürsorge mich rührte.

»Ich … zieh mich nur schnell um.«

 

Wir fuhren zu den Schären vor der Insel. Auf dem Weg pfiff Alfred »It’s a long way to Tipperary«. Als wir da waren, schaltete er den Motor aus und reichte mir eine Angel. Das Boot schaukelte so, dass ich mich an der Reling festhalten musste. Das Meer war rau, in der Nacht hatte es Regen und Wind gegeben, doch jetzt trieben helle Wolken über den Himmel, und die Sonne kam zum Vorschein.

»Ja, ja«, seufzte Alfred zufrieden. »Das gute Leben.«

»Ist es nicht einsam, das ganze Jahr über hier allein zu wohnen?«

»Einsam?« Er sah mich ehrlich überrascht an. »Nein, ich fühle mich nie einsam. Ich habe ja meine Kinder auf dem Festland und kann zu ihnen fahren, wann ich will. Am liebsten bin ich aber hier. Man muss nicht einsam sein, nur weil man allein wohnt. Außerdem …« Er kratzte sich mit dem Handrücken am Kinn, »bin ich ja auch nicht ganz allein.«

»Nicht?«

»Es gibt da eine Dame in der Stadt.« Er sah mit einem Mal etwas verlegen aus. »Wir sehen uns, wenn ich Lust auf Gesellschaft habe.«

»Wie schön. Ich würde ihr gern mal hallo sagen, wenn sie zu Besuch kommt.«

»Sie kommt eigentlich nur im Sommer. Meistens fahre ich zu ihr, sie regt sich immer über irgendetwas auf, wenn sie hier ist.« Er schmunzelte vor sich hin, sah glücklich aus und wirkte mit einem Mal jünger. »Aber Alice ist eine sehr nette Frau.«

»Hast du nie überlegt, hier wegzuziehen? Zu ihr?«

»Das habe ich von Anfang an klargemacht. Sowohl Alice als auch meinen Kindern gegenüber: Ich bleibe hier, bis sie mich raustragen.«

Alfred befestigte die Leine an der Reling.

»Du kanntest meine Großeltern doch ziemlich gut«, sagte ich.

»Hier kannte jeder jeden«, antwortete er und nahm eine Thermoskanne und zwei Tassen aus seinem Rucksack. »Am besten kannte ich aber deinen Großvater. Wir waren zusammen fischen, haben gemeinsam im Bootshaus gesessen und die Netze und Reusen fertig gemacht. Und manchmal haben wir uns einen Kleinen gegönnt, wenn wir mit der Arbeit fertig waren«, sagte er und reichte mir eine Tasse.

Ich trug das Medaillon, das ich in Großmutters Sachen gefunden hatte, die kaputte Kette hatte ich durch eine andere ersetzt. Ich nahm es ab und zeigte Alfred das Bild. »Das sind meine Urgroßeltern, oder?«

»Doch ja, ich glaube, das sind Teklas Eltern.«

»Ich hatte immer gedacht, das Haus hätte Großmutters Familie gehört«, sagte ich. »Dass sie sich deshalb hier niedergelassen haben. Sowohl meine Urgroßeltern als auch Großmutters Bruder sind vor meiner Geburt gestorben. Ich habe keinen von ihnen jemals kennengelernt. Ich weiß fast nichts, nur dass Großmutter aus Kragerø kommt und Großvater aus Kristiansand.«

»Konrad und Tekla haben das Haus hier gekauft … lass mich nachdenken … das muss 1953 oder 54 gewesen sein.«

»Wo haben sie vorher gewohnt?«

»In Kragerø.«

»Und warum sind sie hier rausgezogen? Für Großvater muss das doch beschwerlich gewesen sein. Er hat doch in der Stadt gearbeitet.«

»Ach, die hatten schon ihre Gründe.«

»Wie meinst du das denn?«

»Tja … vielleicht hatten sie einfach Lust, hier zu wohnen.«

Ich hielt seinen Blick fest. »Ich habe ein Foto gefunden, als ich Großmutters Sachen aufgeräumt habe«, sagte ich. »Von ihr und einem deutschen Soldaten.«

»Was du nicht sagst.« Alfred schaute auf das Wasser.

»Hatte Großmutter während des Krieges einen deutschen Geliebten?«

»Sie waren anständige Menschen. Und das gilt sowohl für deinen Großvater wie auch für deine Großmutter.« Er blickte mich an.

»Du wusstest es?«

»Genaues weiß ich auch nicht«, sagte er ausweichend. »Wie gesagt, kannte ich ja vor allem deinen Großvater. Konrad war wirklich ein feiner Kerl.«

»Alfred, was weißt du?«

Wieder schaute er weg. »Hat sie dir nie etwas gesagt?«

»Nein.«

»Dann wollte sie vermutlich nicht darüber reden.«

»Aber was weißt du, Alfred?«, wiederholte ich.

»Du solltest mit jemand anderem darüber reden«, sagte er entschieden.

»Mit wem denn?«

Er starrte gedankenverloren vor sich hin. »Mit Birgit, vielleicht. Teklas Freundin.«

»Die Großmutter im Sommer immer hier besucht hat?«

»Ja, sie kannte Tekla aus ihrer Kindheit, sie hat in ihrem Elternhaus gearbeitet.«

»Wie heißt sie mit Nachnamen?«

»Johansen, glaube ich.«

»Hat Großvater mal irgendwas gesagt …?«

»Ich dachte, wir könnten morgen Farbe kaufen«, unterbrach er mich. »Und der Zaun braucht auch einen neuen Anstrich. Das ist viel Arbeit, wir sollten also nicht warten.«

Es zupfte an der Schnur, und er holte die Leine ein.

»Es führt zu nichts Gutem, wenn man in der Vergangenheit gräbt«, sagte er. »Tekla hätte es dir erzählt, wenn sie gewollt hätte, dass du es weißt. Und jetzt spielt es keine Rolle mehr. Sie sind ja beide schon tot.«

 

Als ich nach Hause kam, schmierte ich mir eine Scheibe Brot und ging ins Wohnzimmer. Ich stellte mich vor die Familienfotos. Eine ganze Wand voller Bilder von Großmutter und Großvater, meinen Urgroßeltern, von Lilla und mir, meinen Onkeln und deren Familien und von all meinen Cousinen und Tanten. Bilder aus mehreren Jahrzehnten.

Auch wenn weder Lilla noch ich Großmutter irgendwie ähnlich sahen, gab es eine Verbindung: Wir alle kannten Phasen mit Depression und Kraftlosigkeit. Woher kam das? Steckte das irgendwie in Großmutters Familie? Oder hatte das vielleicht auch mit meinem Vater zu tun? So viele Fragen: Wie war er? Wie waren seine Eltern gewesen, was hatten sie erlebt, was hatte sie geprägt und welche Eigenschaften hatten sie? Ich wusste so wenig.

Mein Stammbaum ist bloß ein kleiner Busch, dachte ich. Ein Busch mit einer winzigen, neuen Knospe.

Ich schaltete das Handy ein, löschte alle verpassten Anrufe und SMS von Jahn und suchte die Nummer des Altersheims in der Stadt heraus.

Und tatsächlich, dort wohnte wirklich eine Birgit Johansen. Sie sei bettlägerig, habe aber noch einen klaren Kopf, sagte die Frau am anderen Ende. Ich solle einfach zu Besuch kommen.