12

Ein Pfleger führte mich in Birgit Johansens Zimmer. Die Gardinen waren zugezogen.

»Wenn sie schläft, kann ich auch später wiederkommen«, flüsterte ich.

»Nein, nein, sie ruht sich nur aus.« Der Pfleger zog die Gardinen auf und beugte sich über das Bett. »Birgit. Es ist Besuch für dich gekommen.«

Es war fünf Jahre her, dass ich sie zuletzt gesehen hatte, und ich erkannte sie kaum wieder. Sie musste mittlerweile deutlich über neunzig Jahre alt sein. Ihr Körper war eingeschrumpelt, und die kräftigen dunklen Locken waren verschwunden. Das Gesicht war schief, ein Mundwinkel hing herunter.

»Was?«, fragte sie und blinzelte uns entgegen.

Der Pfleger drückte auf einen Knopf neben dem Bett und fuhr das Kopfteil hoch, so dass Birgit in eine sitzende Position gelangte. Sie kniff die Augen etwas zusammen, spitzte den Mund und betrachtete mein Gesicht.

»Setzen Sie sich ruhig hierher«, sagte der Pfleger und zog einen Stuhl zum Bett. »Sie hat Probleme mit dem Reden und wird schnell müde.«

»Hallo, Birgit.« Ich nahm ihre Hand und beugte mich vor. »Ich bin’s, Juni, Teklas Enkelin. Erinnerst du dich an mich?«

Sie zog die Stirn in Falten und starrte mich an. Dann lächelte sie. »Juni? Natürlich erinnere ich mich an dich.«

Ihre Stimme war nur ein Flüstern. Aber in ihrem Blick lag jetzt mehr Leben. Ich plauderte ein bisschen, erzählte ihr, dass ich jetzt im Haus meiner Großeltern lebte.

»Es ist so schön auf der Insel«, sagte sie undeutlich und schwer atmend.

Ich musterte sie ein paar Sekunden, dann sagte ich vorsichtig: »Es gibt da eine Sache, bei der ich mich frage, ob du mir helfen könntest.«

»Ja?« Sie nahm den Griff, der über dem Bett hing und versuchte, sich etwas weiter nach oben zu ziehen. Es gelang ihr aber nicht. Ich beeilte mich, ihre Matratze etwas weiter anzuheben, zog sie etwas nach vorn und schlug ihr Kissen auf.

»Was möchtest du wissen?«, fragte sie.

Ich entschloss mich, direkt zur Sache zu kommen, und erzählte ihr von dem Foto von Großmutter mit dem Soldaten. »Hatte Großmutter während des Krieges einen deutschen Geliebten, Birgit?«

»Der Krieg«, sagte sie nur und sah aus dem Fenster. »Darüber lohnt es sich nicht zu reden.« Sie legte sich die Hand auf die Brust und atmete ein paarmal schwer. Ihr Blick wurde ausweichend. Sie starrte auf ihre Hand. Strich ein paarmal über die Decke.

Ich nahm das Foto von Großmutter und dem Soldaten heraus. »Weißt du, wer das ist, Birgit?«

Sie nahm mir das Foto aus der Hand und betrachtete es mit zitternden Fingern. Dann deutete sie auf die Brille auf dem Nachtschränkchen.

»Tekla und Otto«, sagte sie.

»Wie hieß er weiter?«

»Adler. Otto Adler.«

»Die Russen kommen«, hatte Großmutter gesagt. Ich kannte mich mit der Kriegsgeschichte nicht sonderlich aus, wusste aber, dass sich die Rote Armee vor dem Fall Berlins aus dem Osten genähert hatte. Ich drehte das Foto um und zeigte auf die Handschrift.

»War Großmutter im Juni 1945 in Deutschland?«

»Im Juni? Das weiß ich nicht.«

»War sie später da?«

»Tekla wollte nicht darüber reden.« Birgits Worte wurden immer undeutlicher, und sie sprach langsamer.

»Aber war sie mal in Deutschland?«

Birgit nickte.

Ich musterte sie eine Weile, dann nahm ich ihre Hand. »Weißt du, was mit Otto geschehen ist?«, fragte ich.

»Tekla … hat … nie … darüber … gesprochen.«

Birgit schloss die Augen, und ihr Atmen verriet mir, dass sie wieder eingeschlafen war.

Ich holte tief Luft und sah mich um. Über dem Bett hing ein Gemälde. Ich beugte mich vor und erkannte Großmutters Signatur. Dabei war das Bild so ganz anders als ihre üblichen Werke. Es war düster. Schwarz, dunkelblau und grün. Großmutter war aber doch für ihre intensiven, klaren Farben bekannt. Himmel, Meer und Licht.