Erschöpft und zerschlagen krochen Tekla und Otto aus dem Laderaum. Sie hielt sich die Hand über die Augen und schirmte das Licht ab, obwohl der Himmel bewölkt war. Niemand redete, nur das Weinen der Kinder schnitt durch die Stille. Die Erleichterung, die Tekla empfand, stand auch in die Gesichter um sie herum geschrieben.
Teile der Kaianlagen waren zerbombt, Kräne lagen am Boden, und mehrere große Gebäude waren dem Erdboden gleichgemacht worden. Drei Lastwagen standen wie schwarze, ausgebrannte Metallskelette im Hafen, und etwas entfernt ragte der Bug eines Schiffes aus dem Wasser.
Otto wollte etwas herumgehen, um mehr von Kiel zu sehen. Der Wind war so stark, dass Tekla sich ihren Schal um den Kopf band. Sie kamen um die Ecke eines Lagergebäudes und blieben stehen. Teklas Blick ging zu Otto. Zuerst sah sie nur seine Überraschung, dann presste er die Lippen zusammen, und seine Kiefer bewegten sich ein paar Sekunden stumm. »Mein Gott!«, flüsterte er schließlich.
Alle Häuser waren weg, die Straße nur noch ein schmaler Pfad zwischen Bergen von Schutt. Mancherorts standen noch die Reste von Schornsteinen, Balken und Holzteile waren verkohlt, und Telefonmasten lagen mit zerrissenen Kabeln kreuz und quer zwischen den Trümmern. Der Gestank der Fäkalien mischte sich mit dem beißenden Rauch einzelner kleiner Feuer. Tekla bedeckte Mund und Nase mit dem Kragen ihres Mantels.
»Ich hatte ja keine Ahnung … dass es … dass es so schlimm ist«, sagte Otto.
Sie gingen weiter und bemerkten erst jetzt die kleinen Öffnungen in den eingestürzten Gebäuden. Sie führten in Keller, in denen Menschen ein und aus gingen. Fast alle trugen irgendwelche Sachen: Möbel, Matratzen, Eimer mit Wasser oder Bündel von Zweigen und Brennholz. Langsam gingen sie an einer Frau vorbei, die in einem Kessel rührte, der auf einer Feuerstelle aus Trümmersteinen stand. Neben ihr saß ein sechs- oder siebenjähriger Junge mit einem kleinen Kind auf dem Schoß. Keiner der beiden hatte Schuhe an den Füßen.
Etwas entfernt saß ein Mann in einem Sessel, seine Augen waren geschlossen, und er hatte den Kopf nach hinten gelehnt. Er rührte sich nicht, und Tekla fragte sich plötzlich, ob er tot sei. Denn sein Gesicht war staubgrau, und die Hände auf seinem Schoß bestanden nur noch aus Haut und Knochen.
Sie folgten einem Pfad über einen Berg aus Sand und Steinen. Tekla hörte Otto seufzen, als er ein paar Häuser erblickte, die noch unbeschädigt aussahen. »Nicht alles ist dem Erdboden gleichgemacht worden«, sagte er.
»Es sieht so aus, als würden die Menschen auf der Straße wohnen«, erwiderte Tekla.
»Sie haben nichts mehr, wo sie hingehen können«, antwortete er. »Bestimmt sind aber nur die großen Städte so zerbombt worden«, sagte er. »Zu Hause ist es sicher besser.«
Zu Hause? Sie hatte sich nie zuvor so fremd gefühlt. Und wie konnte er sich sicher sein, dass es dort anders war, wenn er doch auch nicht gewusst hatte, wie es hier aussah?
»Ja, bestimmt wird alles gut, wenn wir nach Demmin kommen«, sagte sie.
Nach vier Stunden in Kiel kamen endlich die Busse, die sie zu einem Park in Hamburg bringen sollten. Das Gelände wurde als Transitlager für Tausende von Soldaten und deren Frauen und Kinder genutzt, die aus den vormals von den Deutschen besetzten Ländern zurückkehrten.
Vor dem Eingang der Baracken hingen Eimer mit Reinigungsmitteln. Sie bekamen eine Blechwanne zum Waschen, und vor den Türen lagen Berge von Decken. Die Schlafsäle waren mit Etagenbetten ausgerüstet und boten Platz für jeweils vierzig Menschen.
»Beeil dich!«, rief Sonja Tekla zu. »Nehmt mehr Decken, als ihr braucht.«
Tekla verstand nicht ganz, warum, tat aber, was ihre Freundin sagte. Als sie die Baracke als zwei der Ersten betraten, stürzte Sonja sofort los, um das Bett in der hinteren Ecke am Fenster für sich und Stephan zu sichern. Tekla und Otto bekamen das Bett daneben. Sonja hängte die zusätzlichen Decken auf und baute eine Art Zelt, in das niemand hineinsehen konnte, und Tekla tat es ihr gleich.
»So!«, sagte Sonja zufrieden. »Jetzt haben wir wenigstens ein bisschen Privatsphäre.«
Das Bettzeug widerte Tekla an. Sie fragte sich, wie viel Ungeziefer und Hinterlassenschaften anderer Menschen wohl in den mit Stroh gefüllten Kissen steckten. Sie hatten weder Kissen- noch Bettbezüge, bloß Decken, und für einen Moment musste sie an ihr Bett zu Hause denken. Die weiche Decke mit dem frisch gewaschenen Bettzeug, das zum Trocknen in einer lauen Sommerbrise gehangen hatte. Sie suchte ein Hemd von Otto und einen Unterrock von sich heraus und legte sie um die Kissen.
Hinter der Baracke war die Latrine. Doch als Tekla aufs Klo musste, bemerkte sie, dass es keine Trennwände gab, ja dass nicht einmal der Männerbereich von dem der Frauen abgeschirmt war. Vor Entsetzen gelähmt, sah sie Frauen und Männer auf dem Balken sitzen und wandte sich angeekelt ab. Erst als es dunkel wurde, ging sie zurück und setzte sich auf eines der Löcher, ohne die anderen anzusehen.
Die Nacht war alles andere als still. Überall hörte sie Schnarchen, Husten und Räuspern. Die Menschen putzten sich die Nasen und niesten, Kinder weinten. Nach einer Weile stand sie auf. Sie sehnte sich nach einer Dusche. Noch im Hellen hatten sie herausgefunden, dass es im Lager nur wenige Duschen gab, weshalb sie den Entschluss gefasst hatte, mitten in der Nacht zu duschen, wenn alle schliefen. Doch als sie zu dem Sanitärgebäude kam, war die Schlange so lang, dass sie erst nach Stunden an der Reihe gewesen wäre. Ernüchtert ging sie zurück in die Baracke und kroch unter die Decke. War es wirklich erst einen Monat her, dass sie zu Hause in der Badewanne ihrer Eltern untergetaucht war und ihren Körper mit einer wohlduftenden Seife gewaschen hatte?
Es kam ihr so vor, als wäre das alles nicht nur eine Ewigkeit her, sondern wie ein Einblick in das Leben einer anderen.
Jeden Morgen erhielten sie zwei Scheiben Brot und eine Tasse Ersatzkaffee. Um zwölf Uhr gab es Mittagessen, das sie sich in einer Blechdose holten. Meistens handelte es sich um eine warme Suppe oder eine Grütze, die nach nichts schmeckte. Abends gab es dann wieder Brot, manchmal mit einem Stückchen Wurst.
Die Tage verliefen alsbald nach einer festen Routine. Tekla und Sonja fanden ein paar Seilreste, die sie zu einer Wäscheleine zusammenbanden und zwischen zwei Bäumen aufspannten. Abwechselnd bewachten sie die aufgehängte Wäsche, da die Menschen im Lager wie die Raben stahlen.
Die Soldaten, die keine Familie bei sich hatten und aus der Nähe kamen, wurden als erste entlassen. Wer nach Osten wollte, musste mehrere Wochen bleiben. Es kursierten Gerüchte, dass die Verhältnisse dort noch schlechter waren als im Westen. Doch kaum jemand konnte sich vorstellen, dass ein Noch-schlechter überhaupt möglich war.
Der menschliche Verfall im Lager erschütterte Tekla; wie schnell manche Leute ihre Würde verloren und Sachen taten, die sie zuvor niemals getan hätten, war ihr unbegreiflich. Die Scham legte aber auch sie schnell ab und saß neben den anderen auf der Latrine und verrichtete ihre Notdurft. Viele schien es auch nicht zu kümmern, dass alle – Männer wie Frauen – sie sehen konnten, wenn sie sich auszogen und wuschen. Manche Paare schliefen sogar in der Baracke miteinander. Und eines Nachts, als sie nicht schlafen konnte, weil eines der Kinder weinte, hörte sie, wie jemand einfach auf den Betonboden pinkelte.
Auch Hamburg war ein schrecklicher Anblick, noch schlimmer als Kiel. Sie durften sich frei außerhalb des Lagers bewegen, und ein paar Tage nach ihrer Ankunft gingen Tekla und Otto durch die Stadt, sahen aber nicht ein einziges heiles Haus, nur enorme Haufen aus Ziegeln, Beton und ausgebranntem Material. Überall roch es nach Moder, Verwesung und Exkrementen. Der Rauch der zahllosen offenen Feuerstellen blieb einem in den Kleidern hängen. Die Wasserleitungen waren zerstört, und die Toiletten funktionierten nicht richtig, doch nur an wenigen Stellen waren provisorische Latrinen errichtet worden.
Viele Straßen waren gesperrt, weil einzelne Steinen sich aus den Ruinen zu lösen und herabzustürzen drohten. An den Häuserecken florierte der Schwarzhandel. Männer mit Handkarren verkauften Kartoffeln und Karotten oder tauschten sie gegen Wertsachen oder andere Waren ein. Tekla bemerkte ein sechzehn- oder siebzehnjähriges Mädchen, das sich langsam an einen Händler heranpirschte. Plötzlich rannte sie los, schnappte sich eine Karotte und wollte weglaufen. Sie war aber nicht schnell genug. Der Mann packte sie, riss sie zu Boden, nahm ihr die Karotte aus der Hand und schimpfte auf sie ein. Das Mädchen blieb noch eine Weile am Boden liegen, bis es sich aufrappelte. Ihre Kleider waren steif vor Dreck, das Gesicht blass und die Haare zerzaust und fettig.
Gleich daneben kam eine alte Frau aus einem Loch in der Wand gekrochen. Sie schwankte, versuchte, auf den Beinen zu bleiben, musste sich dann aber auf einen Stein setzen. Sie stützte den Kopf in die Hände.
Es kann doch nicht sein, dass es im Osten noch schlimmer ist, dachte Tekla. Wie soll das denn gehen? In Demmin ist es bestimmt anders. Ganz bestimmt.