Es war wärmer geworden, und in den nächsten Tagen war ich jeden Tag auf dem Wasser. Von Jahn hatte ich nichts gehört, ich fühlte mich durch das Kontaktverbot aber sicherer. Dass er eine Gefängnisstrafe riskierte, wenn er mich aufsuchte, war vielleicht Drohung genug, damit er mich in Ruhe ließ. Eine strafrechtliche Verurteilung würde das Bild, das er von sich aufgebaut hatte, in sich zusammenstürzen lassen. Auf dem Boot waren Seekarten, und während ich das Netz auslegte, das ich im Bootshaus gefunden hatte, fühlte ich innerlich plötzlich eine ungewohnte Freude. Ich würde es nicht Glück nennen, eher war es die plötzliche Abwesenheit von Angst. Ein Gefühl wie Freiheit.
Ich bekam wieder mehr auf die Reihe, und es gelang mir, endlich Sachen anzupacken, die ich lange vor mir hergeschoben hatte. Es waren beinahe anderthalb Wochen vergangen, seit ich bei meiner Ärztin gewesen war. An diesem Nachmittag rief ich sie an und bat sie, einen Termin in der Klinik zu machen, außerdem suchte ich mir einen Scheidungsanwalt und machte einen Termin mit ihm aus.
Anschließend begann ich, Großvaters Sachen in der alten Kommode unter der Wanduhr durchzusehen. Die oberste Schublade war voller Papiere. Kontoauszüge, Briefe, Quittungen, Grundbuchauszüge, ein Plan von Haus und Grundstück und von Bootshaus und Hafen. Dass er an Letzterem als Miteigentümer beteiligt war, hatte ich nicht gewusst. Ich zog die untere Schublade heraus und musste lächeln, als ich seinen alten Kassettenrecorder sah. Er hatte viele unterschiedliche Kassetten, am häufigsten hatte er aber Jim Reeves und Vera Lynn gehört. »The Forces’ Sweethart«, nannte er sie immer. Ich drückte auf Play, und ihre Stimme erfüllte den Raum. There’ll be blue bells over the white cliffs of Dover. Tomorrow, just you wait and see.
Wenn Großvater seine Kassetten abspielte, sang er meistens mit. Und Großmutter sagte dann immer: »Was für eine schöne Stimme du hast, Konrad.« Seine Antwort war immer nur ein Grunzen gewesen, es war ihm aber anzusehen, wie gerne er das hörte.
Ich schaltete den Recorder aus, als ich ein Klopfen an der Tür hörte. Es war Georg. Er hatte eine Antwort von seinem Freund in Deutschland erhalten.
»Peter hat etwas über Otto Adlers Familie herausgefunden«, sagte er aufgeregt und hängte seine Jacke an die Garderobe. Er hatte eine Mappe mit Ausdrucken bei sich. »Diese Sachen hat er mir per Mail geschickt«, sagte er. »Und das hier«, er zog einen weiteren Zettel heraus, »steht auf dem Grabstein von Ottos Familie.«
KLAUS ADLER, 1.3.1889–3.10.1945
SOFIE ADLER, 23.8.1891–1.5.1945
KATHARINA ADLER, 14.10.1919–1.5.1945
»Ottos Name ist nicht mit darauf«, sagte ich. Mein Magen knurrte. »Hast du schon gegessen?«, fragte ich.
»Nein.«
»Dann sollten wir das tun.«
»Soll ich was kochen?«
»Hast du Lust? Alfred hat mir eben einen Seelachs gebracht, den er heute Morgen gefangen hat.«
»Dann brate ich uns den«, sagte Georg und stand auf. »Du kannst dir derweil die Unterlagen aus Deutschland anschauen.«
»Ottos Mutter und Schwester sind am selben Tag gestorben, dem 1. Mai 1945«, sagte ich. »Ist das nicht erstaunlich? Vielleicht ein Unfall?«
»Bei den Ausdrucken sind auch ein paar Artikel aus deutschen Medien über Demmin«, antwortete Georg. »Lies sie, die könnten so einiges erklären.«