Georg und ich flogen nach Berlin und fuhren von dort mit dem Zug nach Demmin. Die Fahrt dauerte zweieinhalb Stunden und führte durch eine ziemlich eintönige Landschaft: weitgehend flach, geprägt von Feldern, Wiesen und viel Wald. Abgesehen von zwei, drei größeren Ortschaften und einigen Dörfern unterwegs schien die Gegend nur spärlich besiedelt zu sein. Alles wirkte so klein, auch die verstreut liegenden Höfe. Ich sah keinen einzigen stattlichen Gutshof. Obwohl wir uns in einem der reichsten Staaten der Europäischen Union befanden und der Fall der Mauer schon lange zurücklag, hatte ich den Eindruck, dass die frühere DDR noch immer geprägt war von dem Gleichheitsgedanken der ehemaligen Machthaber.
Zu meiner Verwunderung sah ich immer wieder Schrebergärtenkolonien: Hütten mit grünen Gärten, die durch Hecken voneinander getrennt waren. Ich hatte das für ein urbanes Phänomen gehalten. Die Gärten lagen dicht an dicht, mit schnurgeraden Gemüsebeeten, farbenfrohen Blumenrabatten, Obstbäumen und Beerensträuchern.
Wir sahen Bussarde und Fischadler durch die Lüfte schweben, und von Zeit zu Zeit tauchte der eine oder andere Storch in der flachen Landschaft auf. Die Felder wurden immer wieder unterbrochen durch große Streifen mit rotem Klatschmohn, Margeriten und Büschen mit kleinen weißen und gelben Blüten. Es war schön, wenn auch wenig abwechslungsreich und ganz anders als die Gegend, aus der Großmutter stammte. Das Meer musste ihr gefehlt haben, schließlich spiegelte es sich in fast allen ihren Bildern.
In Demmin angekommen, stiegen nur wir und ein älteres Ehepaar aus. Das Bahnhofsgebäude aus gelben und roten Ziegelsteinen musste früher einmal ein herrschaftlicher Bau gewesen sein, doch mittlerweile war es grau vom Alter. Es wirkte wie ausgestorben, kein Schalter, verschlossene Türen und dunkle Räume.
»Und, aufgeregt?«, fragte Georg und legte mir die Hand auf die Schulter.
»Sehr«, sagte ich.
Wir gingen am Bahnhofsgebäude vorbei und fragten einen älteren Mann mit einem Labrador nach dem Weg zum Zentrum. Er streckte den Arm aus und zeigte in Richtung einer Straße, an der ein Verkehrsschild nach Rostock stand. Welche Häuser die Brände am Kriegsende überstanden hatten und welche wiederaufgebaut worden waren, war nicht zu sagen. Einige Gebäude wirkten ziemlich baufällig, die Mauern waren verwittert, und von den Fensterrahmen blätterte die Farbe ab. Nur wenige Häuser schienen neu oder frisch renoviert zu sein. Viele Fenster aber waren mit Blumen und kleinen Dekogegenständen geschmückt.
Die Straßen waren beinahe menschenleer, und die wenigen Menschen, die wir trafen, waren alt. Die Stadt wirkte verlassen; wer jung genug war und noch Träume und Pläne für die Zukunft hatte, war weg.
Bis 1989 hatte Demmin hinter dem Eisernen Vorhang gelegen, aber war das Leben danach besser geworden? Hatten sich die Zukunftsträume der Menschen nach der Wiedervereinigung mit Westdeutschland erfüllt? Fühlten sie sich als ein Teil einer großen europäischen Gemeinschaft, als Teil einer Gesellschaft mit größeren Möglichkeiten und mehr Freiheit?
»Vielleicht sind sie hier keine Fremden gewohnt?« Georg nickte in Richtung eines unverputzten Backsteinhauses mit einer Treppe direkt bis auf den Bürgersteig, in dem ein alter Mann die Gardine zur Seite schob und uns beobachtete.
»Er ist so alt, dass er die Tragödie 1945 noch miterlebt haben könnte.«
»Gut möglich«, sagte Georg.
»Und vielleicht hat die da für die Stasi gearbeitet«, sagte ich und nickte in Richtung einer älteren Frau, die aus einem Geschäft kam und schwer an zwei Einkaufstaschen trug.
Oder sie hat einen Sohn verloren, der zu fliehen versucht hat, dachte ich. Vielleicht strahlte ihr Körper diese Schwere aus, weil der Mensch, der ihr am wichtigsten war, auf der Jagd nach dem Traum von einem Leben im Westen erschossen worden war. Wie hatte das Leben in Demmin ausgesehen, als die Mauer noch gestanden hatte? Hatten die Bewohner der Stadt von einem anderen Leben geträumt – einem Leben ohne die ständige Furcht und Unsicherheit im Kommunismus, ohne die Angst, von ihren Nachbarn oder Verwandten angezeigt und verraten zu werden? Hatten sie davon geträumt, frei und selbständig in einer demokratischen Gesellschaft leben zu können?
Wir kamen an einem Café vorbei, einem geschlossenen Restaurant mit Tischen auf dem Gehsteig, einem Friseur und einer Arztpraxis.
»Ich weiß nicht, ich denke immer wieder an das Schweigen dieser Menschen hier«, sagte ich. »Dass sie nicht über die traumatischen Geschehnisse reden durften.«
»Ja, es gibt kaum einen krasseren Beweis dafür, dass es die Sieger sind, die die Geschichte schreiben. Demmin ist da wirklich ein Paradebeispiel«, sagte Georg.
Wir gingen in die Tourist-Info unten am Fluss.
Eine Frau kam kauend aus dem Hinterzimmer und starrte uns überrascht an.
»Sie hat vielleicht noch nie ausländische Touristen gesehen«, flüsterte ich.
Wir bekamen eine Karte, eine Broschüre und ein paar alte Bilder, die zeigten, wie die Stadt vor dem Krieg ausgesehen hatte. Die Frau informierte uns auch darüber, wo der Friedhof mit den Massengräbern lag.
Das städtische Museum war im selben Gebäude wie die Tourist-Info untergebracht, und Herr Bosch, mit dem wir einen Termin vereinbart hatten, wartete bereits auf uns. Er war ein netter Mann mit freundlichen Augen, dunklen, buschigen Augenbrauen und kräftigen, hellgrauen Haaren. Er führte uns in ein Büro mit einem gewaltigen Schreibtisch voller Papierstapel.
Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Vergewaltigungen und der Massenselbstmord für mich nicht mehr als eine schreckliche Episode der Geschichte gewesen. Sie ging mir nah, weil meine eigene Großmutter gleich danach hierhergekommen war. Trotzdem waren mir die Geschehnisse ebenso fern und unwirklich erschienen wie so viele andere historische Ereignisse. Doch als Herr Bosch zu reden begann, schien das Trauma unter seinen Worten geradezu physisch wiederaufzuerstehen. Ich konnte es fühlen, als wäre es gerade erst geschehen.
»Die deutschen Offiziere ergriffen am 28. April die Flucht, nachdem die Meldung gekommen war, dass die Russen sich näherten«, erzählte er. »Die NSDAP -Funktionäre konfiszierten alle Fahrzeuge. Das Lazarett wurde evakuiert, und alle, die bei der Polizei arbeiteten, sowie viele Einwohner verließen die Stadt. In den Wochen zuvor waren die Einwohner verpflichtet worden, einen fünf Kilometer langen Panzergraben um Demmin zu ziehen. Als die Russen dort ankamen, schickten sie drei Unterhändler aus. Ein Augenzeuge, ein neunzehn Jahre alter deutscher Soldat, der unten im Graben lag, bekam mit, wie alle Unterhändler von den Deutschen erschossen wurden. Danach entstand Chaos, und die letzten Wehrmachtssoldaten und die wenigen noch verbliebenen SS -Offiziere zogen sich durch Demmin zurück und sprengten am 30. April die beiden Brücken«, sagte Herr Bosch. »Etwa gegen Mittag kamen dann die ersten Russen ins Zentrum.«
»Aber haben die Menschen nicht gleich kapituliert?«, fragte Georg.
»Doch, die meisten hatten weiße Fahnen und Handtücher aus den Fenstern gehängt. Auch am Kirchturm hingen weiße Laken als Zeichen, dass alle sich kampflos ergeben wollten.«
»Wieso kam es dann trotzdem zu einer derartigen Gewalt?«, fragte Georg.
»Grund dafür war vermutlich die fatale Entscheidung eines Lehrers, des Studienrats Moldenhauer. Nachdem er seine Frau und seine Kinder getötet hatte, schoss er mit einer Bazooka eine Granate auf die Russen ab und tötete viele Soldaten. Danach hat er sich das Leben genommen. Die Russen reagierten wütend und begannen die Häuser im Zentrum anzuzünden. Die Einwohner waren in der Stadt gefangen: Im Norden, Westen und Süden versperrten ihnen die Peene und die Tollense, die die Stadt in einem Halbkreis umfließen, den Weg, und aus dem Osten näherten sich die Russen. Im Laufe von drei Tagen brannte die Rote Armee 80 Prozent der Häuser in der Stadt nieder. Außerdem gingen die Soldaten von Haus zu Haus und vergewaltigten die Frauen. Viele wurden dabei gleich von mehreren Soldaten vergewaltigt, teilweise zigmal. Die Russen liefen in Horden durch die Stadt. Die Menschen bekamen Panik, und in der entstehenden Massenhysterie kam es dann dazu, dass die Menschen sich selbst und ihre Familien umbrachten. Und das betraf nicht nur diejenigen, die bereits vergewaltigt worden waren. Viele Frauen nahmen sich aus Angst das Leben. Aber auch Männer, ganze Familien gingen in den Freitod. Allerdings nicht immer mit Erfolg. Es gibt mehrere Belege dafür, dass Mütter ihre Kinder vergifteten, dann aber bei sich selbst die Dosis falsch berechneten und überlebten. Einige von denen, die sich zu erhängen versuchten, wurden im letzten Moment von den Russen gerettet. Und manchen Kindern soll es auch gelungen sein, ihre Eltern davon abzubringen, erst sie und dann sich selbst umzubringen.«
»Hitlers Propaganda über die Russen als Unmenschen hat dabei vermutlich eine wichtige Rolle gespielt, oder?«, fragte Georg.
»Ja, es kursierten die schrecklichsten Geschichten. Menschen sollten gekreuzigt oder mit Bajonetten aufgespießt worden sein. Andere sollten mit Autos zu Tode geschleift oder von Panzern überrollt worden sein, darunter auch Kinder. Dazu kam noch, dass in dieser Zeit viele Flüchtlinge aus dem Osten nach Demmin gekommen waren, die die Verwüstungen durch die Russen miterlebt hatten. Die Gerüchte wurden dadurch vermutlich immer weiter angeheizt, so dass die Menschen schließlich Todesangst hatten, als die Russen kamen.«
Georg faltete die Karte auseinander, die wir in der Tourist-Info bekommen hatten.
»Hier ist das Massengrab«, sagte Herr Bosch und tippte auf die Karte. »Da ist erst kürzlich ein neuer Gedenkstein aufgestellt worden.«
»Wie viele Menschen liegen dort?«, fragte ich.
»Wir sind die schriftlichen Quellen durchgegangen, also die Register von Stadt und Kirche, und vermuten, dass dort mindestens 400 Menschen beerdigt wurden. Wie viele Menschen tatsächlich Selbstmord begingen oder durch Familienangehörige getötet wurden, werden wir aber wohl nie erfahren. Die Zahlen variieren. Die Quellen sind unsicher, denn in dem entstandenen Chaos hat kaum jemand genaue Aufzeichnungen angefertigt. Überdies wurden einige der Toten nie gefunden, sie wurden vom Fluss fortgespült. Und wie viele Menschen aus dem Osten hierher nach Demmin geflohen waren, weiß auch niemand.«
Am Tag vor unserer Fahrt nach Demmin hatte noch einmal Georgs deutscher Freund angerufen. Er hatte Kontakt mit einem Autor aufgenommen, der an einem Buch über die Tragödie arbeitete und dazu alle vorhandenen Quellen – sowohl schriftliche als auch mündliche – erneut gesichtet hatte. Der Autor war dabei zu der Überzeugung gekommen, dass die tatsächliche Zahl der Toten zwischen 700 und 1000 lag. Auf jeden Fall handelte es sich damit um einen der größten Massenselbstmorde aller Zeiten.
»Es ist doch seltsam, dass ich nie davon gehört habe, weder im Fernsehen noch in der Zeitung«, sagte ich. »Ich bin erst darauf gestoßen, als ich angefangen habe, in Großmutters Vergangenheit zu graben. Kriegshistorisch ist das doch ein erschütternder Vorfall.«
»Nach der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland wurde ein bisschen darüber geschrieben«, sagte Herr Bosch. »Ein paar Zeitzeugen haben ihr Schweigen gebrochen und ihre Geschichten erzählt. Für die meisten war das aber unmöglich. Die Wunden sind selbst heute noch nicht verheilt.«