35

Am Samstag, dem 24. März, verließen Tekla und Otto kurz vor Mitternacht Klaushagen mit nur wenigen persönlichen Dingen in ihren zwei Rucksäcken. In der vorangegangenen Nacht hatten sie den Schmuck von Ottos Mutter ausgegraben. Das Silberzeug lag am gleichen Ort, es war aber so schwer, dass sie es nicht mitnehmen konnten. Den Schmuck hatte Tekla in ihre Kleider genäht. Vier Ringe steckten nun in den Falten einer Jacke mit Puffärmeln und eine Perlenkette im Schultersaum von Ottos Pullover. Sie hatte eine doppelte Borte an zwei Strickjacken genäht und in den entstandenen Hohlräumen drei Ketten und ein Armband versteckt.

Die Russen hatten Ottos altes Motorrad nicht gefunden, da es weit hinten in der Scheune stand und von einem Haufen Schrott verborgen wurde. Im Schutz der Nacht hatte Otto Benzin aus Kovalenkos Wagen abgezweigt. Außerdem hatte er auf eine Karte eingezeichnet, wo die russischen Kontrollposten lagen und wie sie fahren mussten – sowie mögliche Ausweichrouten, falls etwas Unvorhergesehenes passierte.

Sich um Passierscheine zu bemühen, war aussichtslos. Die Russen hatten mit den Alliierten die Vereinbarung getroffen, dass alle ostdeutschen Soldaten aus der Westzone zurückgeführt werden sollten, dasselbe galt für Kriegsgefangene und Flüchtlinge. Otto hätte niemals die Erlaubnis erhalten, in den Westen zu reisen. Beiden war bewusst, dass sie ein hohes Risiko eingingen. Sollten sie geschnappt werden, würden sie in einem Straflager landen. Sie mussten also alles daransetzen, nicht aufgehalten und kontrolliert zu werden.

Außerdem wussten sie nicht, wie die russischen Soldaten reagieren würden, wenn sie sie entdeckten. Soldaten, die Gewalttaten verübten oder die Bevölkerung drangsalierten, riskierten inzwischen eine Strafe. Trotzdem kam es noch immer zu Plünderungen. Und vor gerade einmal einem Monat war eine junge Frau unweit der Stadt vergewaltigt und ermordet worden. Niemand zweifelte daran, wer hinter dieser Untat stand.

Otto sagte kein Wort, als sie das Haus der Mamsell verließen. Er schloss die Tür, blieb ein paar Sekunden stehen und sah zum Haupthaus. Dann wanderte sein Blick zu der Scheune, den Stallungen und der leeren Koppel. Schließlich holte er tief Luft, ging mit schnellen Schritten um die Ecke des Hauses und holte das Motorrad, das er unter einer Plane versteckt hatte.

»Vielleicht ändert sich das alles irgendwann wieder«, sagte Tekla. »Vielleicht können wir eines Tages zurückkehren.«

»Daran glaube ich nicht«, sagte er.

Sie nahmen den Pfad entlang des Flusses und gingen über die Felder um die Stadt herum. Als sie auf die Straße kamen, waren weder Autos noch Menschen zu sehen, und Otto ließ den Motor an. Tekla setzte sich hinter ihn und schlang die Arme um seine Taille. Der Wollstoff seines Mantels kratzte an ihrem Kinn, als sie über seine Schulter auf die dunkle Straße vor ihnen sah.

Wohin würde sie diese Fahrt ins Ungewisse wohl führen, fragte sich Tekla und klammerte sich fester an Otto.