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Nachdem Alfred fort war, gingen Georg und ich auf die Glasveranda. Die Sessel waren zu unseren geworden. Das Bild von Lilla mit mir auf dem Schoß lag auf dem Tisch. Er griff danach.

»Sie war wirklich hübsch, als sie jung war«, sagte er. »Denkst du mittlerweile anders über sie? Ich meine, weil du jetzt ja weißt, was geschehen ist?«

»Ich weiß nicht … Warum hat sie mir nie gesagt, dass Großvater nicht ihr Vater war? All diese Heimlichtuerei. Es ist fast so, als hätte sich das vererbt.«

Georg sah mich an. »Ich glaube, es würde dir guttun, Lilla zu verzeihen«, sagte er.

»Verzeihen?«, fragte ich mit einer Spur Trotz zu viel in der Stimme. »Sie ist tot, es ist zu spät.«

»Dir zuliebe.«

»Sie hat genau dasselbe gemacht wie Großmutter. Und Lilla hätte nun wirklich nicht schweigen brauchen, weder was Großvater noch was meinen Vater betrifft.«

»Teklas Schweigen ist leichter zu verstehen als das von deiner Mutter«, sagte er. »Tekla hat Lilla beschützt. Sie konnte ihr nicht sagen, dass ihr Vater ein russischer Soldat war, der sie vergewaltigt hat.«

»Vielleicht hatte Großmutter Angst, dass Lilla nach Demmin fahren würde, wenn sie ihr von Otto erzählte. Dass sie nach ihren Wurzeln suchen und mit Menschen reden würde, die ihn kannten und vielleicht wussten, was geschehen war. Genau wie wir es getan haben. Sie hätte herausfinden können, dass ihre Mutter sie angelogen hat.«

Georg nahm meine Hände. »Es gibt eine Sache, die ich dir erzählen muss.«

»Was?«

»Ich habe telefoniert, etwas überprüft, nachdem ich die Kassette gehört hatte«, sagte er. »Thorgeir Huitfeldt lebt nicht mehr, er ist schon vor bald zwanzig Jahren gestorben.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

»Was denkst du darüber?«, fragte Georg.

»Ich weiß nicht …«

»Er ist gestorben, kurz nachdem er bei deinem Großvater war.«

Ein dunkles Wolkenband näherte sich vom Meer her. Es würde Regen geben. Einen warmen Regen – einen Regen wie der, in dem Großmutter immer zu tanzen pflegte. Vor den Wolken zeichnete sich ein Segelboot ab, das Kurs auf den Hafen genommen hatte. Das weiße Segel glänzte golden in der Abendsonne, und das Meer sah aus wie flüssiges Silber.

»An was denkst du?«, fragte Georg.

»Dass Lilla die Verbitterung, verlassen worden zu sein, irgendwie kultiviert hat«, sagte ich. »Sie hat sich selbst in die Einsamkeit getrieben. Ich war wütend auf sie, weil sie mir nichts über meinen Vater sagen wollte. Ich dachte, dass sie einen guten Grund hatte und es tat, um mich zu schützen. Vielleicht aus Fürsorge, ich denke aber, dass sie sich damit an ihm gerächt hat. Das war reiner Egoismus. Irgendwie hing immer ein dunkler Schatten über ihr. Ihr ganzes Leben. Und schließlich wurde dieser Schatten so groß, dass sie darin verschwand.«

Wir hörten die ersten Regentropfen gegen das Holz schlagen. Ich stand auf, stellte mich in die offene Tür und streckte den Arm aus. Georg trat hinter mich.

»Ich werde dir mit dem Kind helfen«, sagte er und streichelte mir mit einem Finger über den Nacken.

Die Stille zwischen uns war angenehm wie sein Finger auf meiner Haut.

»Es ist gut, hier zu sein«, sagte ich. »Der Puls des Hauses ist jetzt ruhig. Ich freue mich, hier Weihnachten zu feiern.«

»Weihnachten?« Georg amüsierte sich. »Warum denkst du jetzt daran?«

»Ich will an etwas Gutes denken.«

»Und Weihnachten war gut?«

»Ja, Weihnachten war nie gefährlich. Da musste ich nicht auf der Hut sein, keine Blicke lesen oder Worte deuten, um vorhersehen zu können, was geschehen würde …, um so vielleicht verhindern zu können, dass Lilla in Tränen ausbricht und Großmutter sich im Atelier einschließt. Weihnachten war Frieden im Haus. Erst als ich erwachsen war, hat Großvater mir erzählt, warum. Er hatte nämlich einen, wie er es nannte, ›dreitägigen Waffenstillstand‹ durchgesetzt. Mit klaren Regeln, die Großmutter und Lilla Punkt für Punkt befolgen mussten. Zum Beispiel: ein Bier und zwei Aquavit zum Essen, eine gemeinsame Flasche Wein für die Frauen und zwei Gläser Cognac für ihn. Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat, aber an Weihnachten hat Lilla sich nie betrunken. Großvater war immer für das Essen zuständig. Er wurde sich mit Großmutter nie einig, was es geben sollte, so dass er immer zwei verschiedene Sachen servierte. Nachdem alle sich umgezogen und schick gemacht hatten, gingen Großmutter, Lilla und ich zur Kirche, während er zu Hause blieb und alles vorbereitete – mit einem Glas Whisky auf dem Küchentisch, das er als ›Ausnahme‹ bezeichnete. Er stellte das Fleisch in den Ofen, bereitete den Fisch vor und begann mit den Beilagen. Für ihn war das dann immer sein Moment.«

»Es ist so schön, dich von den guten Erinnerungen erzählen zu hören. Fast alles, was du mir über Lilla oder ihre Beziehung zu Tekla erzählt hast, klang so kompliziert, so schwierig. Ich habe mich schon gefragt, ob du wirklich keine guten Erinnerungen an sie hast.«

Eine andere Weihnachtserinnerung kam mir, als Georg noch redete. Es war in einem Winter mit viel Schnee. Großmutter, Lilla und ich gingen über einen schmalen, geräumten Weg zur Kirche.

»Du weißt doch, kurz bevor man zur Kirche kommt, geht es auf der einen Seite des Weges ziemlich steil runter?«, sagte ich.

Georg nickte.

»Seit Tagen war der Boden total vereist, aber am Tag vor Weihnachten hatte es zu schneien begonnen, und das Eis war von Neuschnee bedeckt. Lilla ging vor uns her zur Kirche. An der steilsten Stelle des Weges verlor sie plötzlich die Balance und blieb eine Ewigkeit schwankend stehen – so habe ich das jedenfalls in Erinnerung. Sie stand dabei ziemlich dicht am Rand. Dann rutschte sie zur Seite und fiel in den tiefen Schnee. Großmutter und ich standen entsetzt da und starrten sie ein paar Sekunden an, bis Großmutter irgendwann zu kichern anfing und sich plötzlich nicht mehr halten konnte. Sie lachte laut. So laut, wie ich sie nie zuvor lachen gehört hatte. Lilla ruderte im Schnee herum, schimpfte und versuchte aufzustehen. Irgendwann schaffte sie es, durch den Schnee bis zum Rand des Weges zu waten. ›Zieht mich hoch‹, rief sie ziemlich unwirsch und streckte die Arme zu Großmutter aus. Ich weiß nicht, ob Lilla es mit Absicht tat, vielleicht schon, aber als Großmutter ihr die Hand reichte, landete auch sie im Schnee. Ich dachte, dass es jetzt eine wilde Schlacht geben würde. Doch dann geschah das Wunder: Sie begannen zu lachen. Beide lachten und konnten nicht wieder aufhören. Leute kamen hinzugelaufen, die beim Anblick der zwei Frauen, die in ihren feinsten Sachen bis zur Hüfte im Schnee steckten und Tränen lachten, ebenfalls in Gelächter ausbrachen. Erst in diesem Moment traute auch ich mich, in das allgemeine Lachen einzustimmen. Es war, als wäre ihr Lachen für Jahre eingesperrt gewesen und bräche jetzt endlich hervor. Anschließend, als wir um den Weihnachtsbaum laufen sollten, bestand Lilla darauf, dass wir Musevisa sangen, das Mäuselied, und dass Großvater die Mäuseoma spielte. Es war ganz so, als hätte Lilla Lust gehabt, gemeinsam mit Großmutter noch mehr zu lachen. Großvater ließ sich nicht lange bitten, und wir bogen uns vor Lachen, als er mit Piepsstimme zu singen anfing.

Georg legte sein Kinn auf meine Schulter.

»Und die Teddys!«, platzte ich hervor. »Die hatte ich ganz vergessen.«

»Teddys?«

»Ja, wir waren ja nur zu viert. Meine Onkel waren schon ausgezogen, als ich auf die Welt kam. Weihnachten waren sie nie bei uns. Wir waren also zu wenige, um einen Ring um den Baum zu bilden. Jedes Weihnachten schimpfte Großmutter, dass Großvater einen zu ausladenden Baum besorgt habe. ›Aber hoch soll er sein‹, erwiderte er immer nur mürrisch. ›Du musst doch verstehen, dass man keinen Baum kriegen kann, der gleichzeitig hoch genug und trotzdem unten schmal ist. Das ist wider die Natur.‹ Sie lachte dann immer, und er küsste sie auf die Wange.«

Ich lächelte. »Wir haben unsere Kette dann immer mit meinen Teddys verlängert, einer zwischen jedem von uns. Das hat dann gereicht. Auch nachdem ich erwachsen war, haben wir das noch so gemacht. Es gehörte irgendwie zu Weihnachten.«

»Eine schöne Erinnerung«, sagte Georg.

»Ja, das Leben war schön und das Haus voller Frieden, Erwartung und Freude«, sagte ich. »Großmutter und Lilla konnten das, wenn man sie dazu zwang. Es wirkte so leicht, dass ich denke, dass sie sich auch an den anderen Tagen hätten annähern können. Wenn sie es nur ein bisschen mehr versucht hätten.«

Georg legte seine Arme um mich, und ich lehnte mich an seine Brust.

»Dass du hergekommen bist«, sagte ich.

»Und dass du hier warst, als ich angekommen bin.«

Ich ging durch die Verandatür nach draußen und drehte das Gesicht in den Regen. Georg folgte mir.

»Nicht nur die negativen Gefühle können vererbt werden«, sagte er. »Diese Liebe zu Regen hast du auf jeden Fall von Tekla.«

Ich nahm seine Hand. »Komm, Georg. Lass uns in den Regen gehen und den Applaus entgegennehmen.«