Roll Back
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wunderte ich mich zunächst, dass Florian neben mir lag. Urplötzlich fiel mir jedoch alles wieder ein und meine Miene verdüsterte sich. Katha! Ich war so unglaublich enttäuscht von meiner Freundin, dass ich es immer noch nicht fassen konnte. Wer weiß, wie lange das mit ihr und Nico schon ging. Die ganze Zeit über hatte sie mich ausgenutzt und mich vielleicht sogar insgeheim über Nico ausgequetscht.
Seufzend stand ich auf. Ich warf einen Blick auf den schlafenden Floh und schlich dann aus dem Zimmer, um mich im Bad fertig zu machen. Als ich zurückkam, schlief er immer noch, und ich wollte ihn auch nicht wecken, denn es war erst kurz nach sieben. Sicherheitshalber schloss ich die Tür von innen ab. Nicht dass meine liebe Schwester oder sogar meine Mutter auf die glorreiche Idee käme, mich zu wecken, und anstatt meiner Florian in meinem Bett vorfand. Das würde nur unangenehme Fragen nach sich ziehen. Ich schrieb Floh einen Zettel und kletterte dann über den Baum ins Freie.
So schnell, wie ich konnte, radelte ich zum Hof. Ausgerechnet dieses Wochenende hatte Katha Stalldienst! Das hieß, dass sie ebenfalls in aller Frühe dort auftauchen würde. Doch ich hoffte, dieses Zusammentreffen vermeiden zu können.
Painted Diamond begrüßte mich leicht brummelnd und ließ sich anstandslos putzen und satteln. Er schien wohl zu spüren, dass ich an diesem Morgen nicht zu Scherzen aufgelegt war. Ich ritt vom Hof und schon bald trabte ich mit meinem Pferd über den federnden Waldboden. Die Luft roch herrlich frisch und die Vögel zwitscherten. Befreit atmete ich ein und aus und versuchte, mich nur auf mein Pferd zu konzentrieren. Ich konnte immer noch nicht ganz begreifen, was letzte Nacht vorgefallen war. Da erzählte ich Katharina wochenlang davon, wie sehr ich in Nico verliebt war, und fragte sie, wie ich ihn für mich gewinnen könnte, und dann schnappte sie ihn mir einfach vor der Nase weg. So etwas hätte ich nie von ihr gedacht! Ich fühlte mich betrogen, hintergangen und gedemütigt.
Seufzend strich ich über Diamonds braun-weißes Fell. Wenigstens er würde mir treu bleiben. Als wir auf eine freie Wiese kamen, galoppierte ich an, und Painted Diamond freute sich darüber, endlich die Beine strecken zu können. Keine Ahnung, wie lange wir unterwegs waren, aber irgendwann machten wir uns wieder auf den Heimweg.
Painted Diamond schritt erschöpft und zufrieden am langen Zügel und auch ich befand mich in einem ausgeglichenen und irgendwie entspannten Zustand. Der Ritt hatte gutgetan.
Am Offenstall entdeckte ich jedoch Katha, die gerade neues Stroh in den Innenraum einstreute, und mein Magen krampfte sich zusammen. Es war mir klar gewesen, dass ich ihr irgendwann über den Weg laufen würde, aber so schnell musste es ja auch wieder nicht sein. Ich verlangsamte Painted Diamonds Schritte und hoffte, dass Katharina sich bis zu unserer Ankunft verkrümelt hätte, aber sie schien vielmehr auf uns zu warten. Da blieb mir wohl nichts anderes übrig.
»Hallo Rike!«, empfing sie mich bereits am Gatter. Sie machte keinen besonders glücklichen Eindruck, sondern sah ziemlich fertig aus. Das wunderte mich echt! Schließlich hatte sie meinen Traumjungen und sollte eigentlich auf Wolke sieben schweben. Ich würdigte sie keines Blickes, sondern ging einfach an ihr vorbei in den Offenstall.
»Rike! Jetzt bleib doch mal stehen! Ich muss mit dir reden!«
Katha rannte hinter mir her, aber ich blieb stumm. Was sollte ich auch sagen? Ich hatte ihr nicht den Freund ausgespannt und auf ihre Entschuldigungen konnte ich gut und gern verzichten. Ich führte den Wallach unter das Vordach und begann, ihn abzusatteln.
»Verdammt noch mal, Annrike! Hör mir wenigstens zu!«, fuhr Katharina mich wütend an. »Ich kann ja verstehen, dass du sauer und verletzt bist, aber hör mir bitte zu, damit du weißt, wie es wirklich gelaufen ist!«
Jetzt platzte mir doch der Kragen! Woher wollte sie denn wissen, wie es mir ging! Und was interessierten mich ihre Ausreden oder Entschuldigungen?
»Du hast mir Nico ausgespannt! Du blöde Gans!«, schrie ich zornig, und Painted Diamond schnaubte erschrocken. Sofort beruhigte ich mich wieder und streichelte seinen Hals. Er konnte schließlich am wenigsten für meinen Streit mit Katharina.
»Ja, das siehst du wahrscheinlich so«, räumte Katha ein. »Aber so war es nicht. Ich wollte ihn dir nicht aus… Ich wollte mich nicht in ihn verlieben. Es... es ist einfach so passiert. Wir haben uns ineinander verliebt, ohne dass wir es wollten. Wir wollten dich nicht hintergehen...«
»Ihr habt euch einfach ineinander verliebt! Dass ich nicht lache! Mich nicht hintergehen wollen! Wie soll ich es denn dann nennen?«, giftete ich sie an. Ich verpasste dem Pinto einen Klaps auf sein Hinterteil und er trollte sich davon.
»Ach Rike, es war auch für uns nicht einfach, dir das zu beichten«, gestand Katha mir unglücklich.
»Es mir zu beichten? Das ist ja wohl der Gipfel der Unverfrorenheit! Wenn ich euch auf dem Ball nicht in flagranti erwischt hätte, dann hätte ich es wohl nie erfahren!«
»Das stimmt nicht! Wir hätten es dir schon noch gesagt«, verteidigte Katha sich. »Wir wollten nur den richtigen Augenblick abwarten.«
»Den richtigen Augenblick!«, höhnte ich. »Für so etwas kann es wohl nur falsche Augenblicke geben!«
Katha sah mich unglücklich an. Ihr schien die Sache wirklich leidzutun, aber da konnte ich ihr nicht helfen. Sie hatte schließlich mich hintergangen - meine beste Freundin!
Ich wandte mich ab, um das Sattel- und Zaumzeug wegzubringen, während Katharina unschlüssig herumstand.
Als ich wieder zurückkam, stand Katha immer noch da.
»Hör zu: Ich kann es leider nicht ändern, dass Amazing Grace mit Painted Diamond den Offenstall teilen muss, und deswegen akzeptiere ich dich hier. Aber alles andere ist von nun an vorbei! Unsere Freundschaft ist hiermit gekündigt!«
Katharinas Gesicht wurde schneeweiß. Damit hatte sie wohl nicht gerechnet. Na ja, sie war schon immer recht gutmütig und naiv gewesen.
»Das... das ist nicht dein Ernst! Rike! Es war doch keine Absicht, und außerdem... außerdem... Nico wollte sowieso nie was von dir!«
»Du Biest! Wenn du dich an ihn ranschmeißt, ist das auch kein Wunder!«, fauchte ich sie an und wäre ihr am liebsten an die Gurgel gegangen vor Wut.
»Ich habe mich nicht an ihn rangeschmissen!«, schrie Katha zurück, und Tränen traten ihr in die Augen. »Was kann ich denn dafür, dass er sich in mich verliebt hat? Er hat jede Gelegenheit genutzt, um mit mir Zeit zu verbringen. Am Anfang habe ich mich dagegen gewehrt. Ich wusste ja, dass du in ihn verliebt bist, aber dann... dann...« Katha zuckte hilflos die Achseln.
»Ach, lass mich doch in Ruhe! Ich will deine Entschuldigungen nicht hören! Und sehen will ich dich auch nicht mehr! Geh mir bloß aus dem Weg!«, fuhr ich sie an und verließ wütend und traurig zugleich den Offenstall.
Als ich nach Hause radelte, liefen auch mir die Tränen übers Gesicht. Es tat so weh! So schrecklich weh! Nicht nur dass ich Nico nicht mehr bekommen konnte, nein, nun hatte ich auch noch meine beste Freundin verloren! Aber was war das für eine beste Freundin, die einem den Traumjungen ausspannte? Auf so eine konnte ich gut und gerne verzichten!
Als ich in mein Zimmer wollte, stellte ich verwundert fest, dass es abgeschlossen war. Dann fiel mir wieder ein, dass Florian ja in meinem Bett lag. Also schlich ich mich wieder aus dem Haus und kletterte über den Baum in mein Zimmer. Tatsächlich! Er schlief immer noch tief und fest! Typisch Floh! Ich riss einen Zweig ab und kitzelte ihn mit den Blättern im Gesicht. Erschrocken fuhr er aus dem Schlaf hoch und blickte sich verdutzt um.
»Du bist das! Hast du mich erschreckt!«
»So? Seit wann sind wir denn so schreckhaft?«, neckte ich ihn.
»Immer dann, wenn du mich aus meinen tiefsten Träumen reißt.« Aufmerksam betrachtete er mich. »Wie geht’s dir?«
»Mir ging’s schon besser«, murmelte ich und setzte mich zu ihm aufs Bett. »War vorhin mit Diamond ausreiten und hinterher ist mir Katha begegnet.«
»Und?«
Ich erzählte Floh von dem Gespräch. Er hörte mir schweigend zu.
»Da kann ich dir auch nicht weiterhelfen. Aber ich weiß echt nicht, ob es auf die Dauer gut ist, wenn du dich in einer Art Kriegszustand mit Katha befindest. Immerhin kennt ihr euch seit der Grundschule und sie hat auch Gracie bei uns stehen. Da wird es sich nicht vermeiden lassen, dass ihr euch begegnet. Schon allein wegen der Pferde«, meinte Florian am Ende seines Sermons.
»Das heißt aber noch lange nicht, dass ich mit ihr befreundet sein muss!«, erwiderte ich dickköpfig.
»Ich meinte ja nur, dass es euer Zusammenleben vereinfachen würde, wenn ihr euch normal verhaltet und nicht offen das Kriegsbeil schwingt!«
»Das ist ihr Problem und nicht meines«, trotzte ich. »Und Nico soll es bloß nicht wagen, bei Körners aufzutauchen!«
»Das wird er sicher nicht tun, wenn er klug ist«, meinte Floh und erhob sich. »So, und ich werde mich mal verdünnisieren. Nicht dass meine Eltern noch eine Suchaktion starten.«
»Sehen wir uns heute Abend?«
»Sorry, aber da habe ich mich schon mit einem Kumpel verabredet. Ich konnte ja nicht ahnen, dass...«
»Schon gut. Danke, dass du heute Nacht da warst«, murmelte ich und spürte zu meiner Verärgerung, dass ich leicht rot anlief.
»Kein Problem, dafür sind Freunde doch da«, sagte Floh leise und sah mich wieder mit diesem seltsamen Blick an. Er schien einen Schritt auf mich zumachen zu wollen, doch dann unterließ er es und kletterte stattdessen aus dem Fenster.
Halb auf dem Baum, drehte er sich zu mir um. »Aber morgen können wir zusammen ausreiten, wenn du Lust hast!«
»Klar! Um zwei?«
»Okay, bis dann!«
Ich sah ihm noch kurz nach, dann blickte ich mich im Zimmer um. Irgendwie fühlte ich mich sehr einsam. Dann aber fasste ich einen Entschluss und ging erst mal duschen. Anschließend nahm ich eine große Kiste und legte alles hinein, was mich an Katha erinnerte. Fotos, Geschenke und was ich sonst noch mit ihr verband. Hinterher fühlte ich mich besser. In Zukunft würde ich mich eben wieder mehr mit Jenny und Marie treffen. Und Floh war schließlich auch noch da.
Der Ausritt mit Floh am nächsten Tag war herrlich. Wir streiften stundenlang mit unseren Pferden durch die Gegend, badeten und genossen einfach nur unsere Zweisamkeit. Katha sah ich den ganzen Tag nicht, was mir auch ganz recht war.
Weniger einfach war es am nächsten Tag an der Bushaltestelle. Seitdem ich denken konnte, waren Katha und ich zusammen zur Schule gegangen. Klar hatte es früher schon mal hin und wieder einen Streit zwischen uns gegeben, aber jetzt war es etwas anderes.
Demonstrativ ignorierte ich Katha und stellte mich zu Floh und seinen Kumpels. Sofia warf mir einen erstaunten Blick zu, begann dann aber ein kicherndes Gespräch mit ihren Busenfreundinnen.
In der Schule fragte ich unseren Klassenlehrer, ob ich mich an einen Einzeltisch setzen dürfte, da ich mich dort besser konzentrieren könnte. Aufgrund meiner schlechten Mathenoten schien er meinen Vorschlag gutzuheißen und fragte nicht lange nach. In der Pause flüchtete ich sofort in Richtung Gymnasium und suchte Floh, der zum Glück nichts gegen meine Gesellschaft hatte. Katha würde sowieso mit Nico herumhängen, da brauchte sie mich nicht. Eigentlich brauchte sie mich nie mehr, denn sie hatte nun Nico, und ich... ich konnte auch gut ohne sie leben.
Dennoch war es gar nicht so einfach. Katha versuchte trotz allem immer wieder, mit mir zu reden und sich mit mir zu versöhnen, doch ich ging nicht darauf ein. Sie sollte bleiben, wo der Pfeffer wächst. Nico bekam ich nur ab und zu in der Schule zu Gesicht, wenn ich rüber zum Gymnasium lief. Auf dem Körnerhof hatte er sich bislang nicht blicken lassen.
Nach vier Tagen Funkstille zwischen Katharina und mir fiel dieser Umstand sogar unseren Eltern auf. Schließlich war es Sofia, die das Thema mittags zur Sprache brachte.
»Na, du und Katha, ihr habt aber in letzter Zeit wenig Kontakt«, fing Sofia ganz beiläufig an. Am liebsten hätte ich sie unter dem Tisch getreten, doch dazu saß sie zu weit weg.
»Ja, und? Wir können doch nicht jede freie Minute zusammen herumhängen«, konterte ich und hoffte, dass damit das Gespräch beendet war. Aber meine Schwester ließ natürlich nicht locker.
»Habt ihr etwa Streit? Ich habe mich auch schon gewundert, dass Katharina diese Woche noch kein einziges Mal bei uns war«, mischte sich jetzt auch noch meine Mutter ein.
»Hm, ich glaube, ich kenne den Grund für euren Streit«, meinte Sofia süffisant. »Kann es vielleicht daran liegen, dass Katha jetzt mit Nico zusammen ist?«
»Katharina hat einen Freund? Ist sie dafür nicht noch viel zu jung?«, sagte meine Mutter erstaunt.
»Was interessiert mich Kathas Liebesleben?«
»Anscheinend sehr viel, wenn du deswegen sauer auf sie bist«, grinste Sofia breit.
»Wolltest du auch etwas von diesem Nico?«, hakte meine Mutter nach. »War das der Junge auf dem Konzert, der so toll Klavier gespielt hat?«
»Mensch, Mama! Das ist der Typ, bei dem Rike Nachhilfe in Mathe hat«, erinnerte Philipp sie überflüssigerweise.
»Hatte«, knurrte ich und weigerte mich, von meinem Teller aufzusehen. Warum konnten die mich nicht einfach in Ruhe lassen?
»Stimmt das nun, dass Katharina mit Nico zusammen ist?« Mama ließ auch nicht locker.
»Ja«, gab ich genervt zu. »Es stimmt und es ist mir egal!«
»Anscheinend nicht«, meinte Sofia. »Mir wäre es übrigens auch nicht egal, wenn mir meine beste Freundin den Typen ausspannen würde, in den ich verliebt bin.«
»Du bist in diesen Nico verliebt? Aber Annrike, der ist doch viel zu alt für dich, und außerdem hat man in deinem Alter noch keinen Freund. Ich wundere mich, dass Frau Sörenssen das erlaubt. Katha ist doch noch jünger«, schüttelte Mutter den Kopf.
Jetzt reichte es mir! Wütend stand ich auf. »Nico ist gerade mal sechzehn und Katha und ich werden dieses Jahr noch fünfzehn! Wir sind gar nicht zu jung für einen Freund! Und was Nico angeht, den will ich sowieso nicht mehr. So ein Weichei! Reitet seine doofe Dressur und hört nur Klassik! Von mir aus soll Katha doch mit ihm glücklich werden! Ich pfeif auf ihn und auf Katha ebenfalls!«, rief ich zornig.
Während ich hinausstürmte, hörte ich Sofia noch sagen: »Ach Mama, lass sie! Der erste große Liebeskummer für Annrike! Aber das wird vorübergehen. Am Anfang ist es besonders schlimm, und es ist ja nur logisch, dass sie sauer auf Katha ist. Das würde mir genauso gehen. In ein paar Tagen hat sich das wieder eingerenkt.«
Was meine so supergescheite Schwester sonst noch für weise Ratschläge von sich gab, konnte ich nicht mehr hören, da ich bereits auf dem Weg in mein Zimmer war. Zornig warf ich mich auf mein Bett. War ja klar, dass dieses Gespräch irgendwann angestanden hatte. Aber nun war es ja raus und die konnten sich von mir aus den Kopf darüber zerreden, das war mir auch egal. Nur mit Katharina würde ich mich nicht versöhnen. Das stand fest!
Übermorgen war Samstag, und ich musste zur Reitstunde, denn das Turnier fand in zwei Wochen am Reitstall statt, und da konnte und wollte ich mich nicht blamieren. Doch ich hatte überhaupt keine Lust, Nico oder Katha dort zu begegnen. Was sollte ich nur tun?
Am Samstag musste ich dann mehr oder weniger doch in die Höhle des Löwen. Ich war besonders früh am Stall, um Katha nicht zu begegnen, damit sie nicht auf die Idee kam, mich mit Amazing Grace zu begleiten. Doch Gott sei Dank war weit und breit keine Spur von Katha zu sehen. Ich holte Painted Diamond, der mit den anderen auf der Koppel stand, putzte schnell sein Fell und sattelte und trenste ihn. In Windeseile war ich im Sattel und ritt vom Körnerhof. Da ich bis zur Reitstunde noch genug Zeit hatte, nutzte ich die Gelegenheit, um mit Diamond durch die Gegend zu bummeln. Sowohl mein Pferd als auch ich genossen diesen Ritt in vollen Zügen.
Daher war ich relativ gelassen, als ich schließlich am Reitstall ankam. Dennoch fielen mir die ganzen Mädchen und Jungen auf, die tuschelnd ihre Köpfe zusammensteckten. Es schien sich wohl herumgesprochen zu haben, dass ich sitzen gelassen worden war. Ich tat so, als ob ich es nicht bemerken würde, und ritt zu unserem Reitplatz. Erleichtert stellte ich fest, dass nur Floh da war.
»Hey Rike! Wann bist du denn losgeritten? Ich hab dich schon gesucht!«, begrüßte er mich.
»Och, ich bin etwas früher los. Wollte noch ein bisschen durch die Gegend bummeln«, meinte ich.
Da wir beide bereits da waren, fing unser Trainer gleich mit dem Unterricht an. Wir übten verschiedene Tempiwechsel, ritten vorwärts und rückwärts durch Stangen, öffneten Tore und ritten über kleine Brücken. Florian übte zusätzlich unterschiedliche Tempiwechsel im Galopp, da er sich für eine Reining-Prüfung angemeldet hatte. Im Großen und Ganzen war ich mit Painted Diamond sehr zufrieden und sah dem Turnier recht zuversichtlich entgegen. Meine gute Laune schwand jedoch, als ich mit Floh vom Platz ritt. An der Stallwand stand niemand anders als Noblesse und neben ihr Nico und Katha.
»Los, lass uns heimreiten. Ich habe keine Lust, mich mit denen zu unterhalten«, zischte ich.
»Das kannst du ja gern machen, aber ich habe keinen Streit mit ihnen und werde sicherlich nicht so tun, als ob ich sie nicht kenne«, bedachte Floh mich.
Ich warf ihm einen wütenden Blick zu, blieb aber an seiner Seite.
»Hey Floh! Hallo Rike!«, rief Katha uns zu.
Ich tat so, als ob ich sie nicht gehört hätte.
»Hallo ihr beiden! Wart ihr schon unterwegs oder macht ihr heute keinen Ausritt?«, erkundigte Florian sich.
»Ich habe mit Noblesse bereits heute früh trainiert. Und Amazing Grace sollte jetzt kurz vor der Geburt des Fohlens nicht mehr viel bewegt werden«, erklärte Nico.
Ich zog meine Augenbrauen hoch, erwiderte aber nichts darauf. Katha machte solch ein Geschiss um das Fohlen, aber das konnte mir ja nun egal sein.
»Und ihr habt für das Turnier trainiert?«, fragte Katha, um das Gespräch in Gang zu halten.
»Ja, inzwischen klappt alles ganz gut. Bin gespannt, wie unsere Konkurrenz so drauf sein wird«, meinte Floh.
»Ist Painted Diamond fit?«, wandte sich Nico doch glatt an mich.
Was ging ihn das denn an? Bevor er mit Katha zusammengekommen war, hatte es ihn nicht die Bohne interessiert, wie es Diamond ging. Stattdessen hatte er eher eine regelrechte Abneigung gegen mein Pferd gehegt. Ich beschloss, zu schweigen und die beiden komplett zu ignorieren.
»Mensch, Rike, jetzt sprich doch bitte mit uns«, bat Katha mich flehend.
»Rike, wir wissen, dass du schlecht auf uns zu sprechen bist. Ich verstehe das ja, aber... Aber können wir nicht...«
»... Freunde sein?«, brauste ich erzürnt auf. »Das ist ja wohl der dümmste Spruch, den ich kenne!«
»Das hast du gesagt! Eigentlich wollte ich vorschlagen, dass wir wenigstens normal miteinander umgehen sollten!«
»Ich bin nicht schuld an der ganzen Sache«, erwiderte ich zynisch.
Katha warf Nico einen hilflosen Blick zu, dann wieder Florian, der nur mit den Schultern zuckte. »Ich halte mich da raus! Das ist eure Sache!«
»Okay, Rike! Ich weiß, wir hätten dir gleich sagen sollen, was zwischen uns passiert ist. Aber wir haben den richtigen Zeitpunkt verpasst und jetzt lässt sich daran nichts mehr ändern. Die Frage ist nun, wie wir weitermachen. Mich kennst du zwar erst seit einigen Wochen, aber Katha schon dein ganzes Leben. Wenn du auf mich wütend bist, was ich dir nicht verübeln kann, dann ist das okay. Aber deswegen deine jahrelange Freundschaft mit Katha hinzuschmeißen, ist eine andere Sache!«
»Spielst du jetzt den großen Psychologen, oder was?«
»Rike, bitte! Wir wollen keinen Streit mit dir«, flehte Katha mich an.
»Ach, ihr wollt keinen Streit! Ihr wollt das und dies nicht! Aber was ich will, interessiert niemanden! Ich will euch nicht mehr sehen, und mir ist es egal, wie lange ich mit dir befreundet war! Du hast mich hintergangen und belogen! Lasst mich einfach in Ruhe!«, schrie ich und spürte, wie mir die Tränen hochkamen. Darüber wurde ich erst recht wütend. Ich stieß meine Hacken in Diamonds Bauch und der machte einen erschrockenen Satz vorwärts. In einem schnellen Trab ritt ich vom Hof. Kaum hatten wir das freie Feld erreicht, brachte ich meinen Araber in den Galopp und stürmte mit ihm über die Felder.
Es dauerte nicht lange, bis ich Hufgetrappel hinter mir hörte.
»Rike! Jetzt warte doch!«, ertönte Flohs Stimme hinter mir.
Ich zügelte Painted Diamond etwas und schon kurz darauf hatte uns Red Pepper eingeholt.
»Was sollte das denn?« Florian parierte zum Schritt durch und auch ich hielt Painted Diamond an.
»Die sollen mich in Ruhe lassen!«, schniefte ich und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
»Sie wollen doch nur mit dir reden.«
»Ich will aber nicht mit ihnen reden!«
Florian seufzte, sagte zum Glück aber nichts mehr. Schweigend ritten wir zum Körnerhof zurück.
Wir brachten unsere Pferde in den Offenstall, trensten und sattelten sie ab und legten ihnen Heu hin. Anschlie ßend setzten wir uns auf den Koppelzaun und schauten den Pferden beim Fressen zu.
»Weißt du was? Wir machen morgen einen richtig schönen langen Ausritt! Nur wir beide! Nehmen Picknick und Badesachen mit und bleiben den ganzen Tag weg. Was hältst du davon?«, schlug Floh plötzlich vor.
»Hm, soll es morgen nicht gewittern?«
»Keine Ahnung! Das Wetter macht sowieso immer was anderes, als vorhergesagt wird. Riskieren wir es!« Auffordernd sah Floh mich an.
»Ach, ich weiß nicht«, wand ich mich.
»Nichts da! Um zehn schmeiß ich dich aus dem Bett und dann geht’s los!«, grinste Floh.
»Wage es bloß nicht! Sonntags um zehn? Ich glaube, du spinnst! Elf Uhr!«
»Halb elf! Bis wir loskommen, ist es sowieso mindestens zwölf, und dann kriegst du wieder Hunger, und wir können gleich schon die erste Pause einlegen«, zog Floh mich auf.
»Blödsinn!«
»Na klar! So verfressen, wie du bist!«
»Bin ich im Moment gar nicht!«
»Dann hoffe ich mal, dass ich dich morgen wieder zum Essen bekomme, sonst muss Red Pepper den ganzen Kram umsonst schleppen.«
»Da bin ich ja mal gespannt, was du mir andrehen willst! Also gut, halb elf! Aber keine Minute früher!«, warnte ich ihn.
»Dann hoffe ich mal für dich, dass deine Uhr genauso geht wie meine.«
»Das hoffe ich für dich!«, drohte ich ihm lachend.
Pünktlich um halb elf stand Floh am nächsten Morgen vor meiner Haustür. Da ich mich erst zehn Minuten zuvor aus dem Bett gequält hatte, musste ich mich nun sputen.
Tadelnd blickte Floh auf seine Uhr, als ich endlich vor ihm stand.
»Was hast du denn alles vor?«, lenkte ich ihn mit einem Blick auf seinen überdimensionalen Rucksack ab.
»Lass dich überraschen«, schmunzelte Floh, und ich schulterte kopfschüttelnd meinen Minirucksack.
Wir radelten sofort los und eine knappe Stunde später waren wir bereits mit den Pferden unterwegs. Die Sonne strahlte heiß von einem strahlend blauen Himmel, doch es wehte ein leichtes Lüftchen. Von einem Gewitter war nicht die geringste Spur zu sehen.
»Komm, ich habe neulich einen tollen neuen Reitweg entdeckt, der am Fluss entlangführt. Der ist echt wunderschön«, erzählte Floh begeistert und lenkte Red Pepper Richtung Fluss.
»Was soll das denn für ein Reitweg sein?«, wunderte ich mich.
»Ähm, na ja... ein offizieller ist es wohl nicht«, gab Floh grinsend zu. »Red Pepper ist mir ein bisschen durchgegangen und dabei sind wir auf dem Weg gelandet. Dann bin ich einfach weitergeritten und... lass dich überraschen!«
»Wow! Du machst es aber spannend«, meinte ich kichernd.
Wir verließen unseren gewohnten Weg und folgten einer Schneise mitten durch eine kniehohe Wiese. Bald darauf hatten wir das Flussufer erreicht und ritten auf einem Sandweg dahin, der von mächtigen Trauerweiden beschattet wurde. Auf der gegenüberliegenden Flussuferseite befanden sich Weiden mit Kühen, die träge in der Sonne lagen und wiederkäuten. Vögel hörte man kaum. Anscheinend war es ihnen zu heiß. Auch unsere beiden Wallache schritten sehr ruhig und einträchtig nebeneinanderher.
Floh und ich unterhielten uns über alles Mögliche, schwiegen aber manchmal auch eine Zeit lang.
»Wohin führt der Weg denn nun?«, fragte ich ihn ungeduldig, als wir bereits fast eine Stunde geritten waren. Zwischendurch hatten wir die Pferde traben und galoppieren lassen, doch wegen der zunehmenden Hitze waren wir die meiste Zeit nur im Schritt geritten.
»Wir sind bald da!«, versprach Floh augenzwinkernd.
Inzwischen ritten wir quer durch die Wildnis und von einem Weg konnte schon lange keine Rede mehr sein. Plötzlich machte der Fluss eine Biegung und wir mussten unter tief hängenden Ästen reiten. Zum Glück waren unsere Pferde daran gewohnt und zuckten nicht einmal mit der Wimper. Als wir durch das Baumdickicht hindurch waren, blieb Florian stehen, und ich schaute mich verwundert um.
»Wow, das ist ja wie im Paradies!«, entfuhr es mir. Hinter dem Baumdickicht befand sich eine kleine Lichtung, die mitten im Schutz der Bäume lag. Der Fluss verbreiterte sich hier und umfloss träge eine kleine Insel.
»Ja, so ungefähr stelle ich mir das auch vor«, sinnierte Floh und stieg ab.
Da die Lichtung ringsherum von Bäumen umgeben war, ließen wir unsere Pferde frei grasen. Unterdessen packte Florian seinen Rucksack aus, der die ganze Zeit auf Red Peppers Sattel gebunden war.
»Jetzt zeig mal her, was du alles mitgeschleppt hast!«, befahl ich und inspizierte den Inhalt.
»Hast du etwa die Vorratskammer deiner Mutter geplündert?«, wollte ich wissen und zog ein Baguette hervor.
»So ähnlich«, grinste Floh und zauberte weitere Köstlichkeiten aus dem Rucksack.
Ich breitete die Decke aus, die er ebenfalls mitgebracht hatte, und anschließend ließen wir uns zu unserem Festmahl nieder.
Es war wirklich paradiesisch: wunderbares Wetter, herrliches Essen, und Floh war so gut drauf, dass er mich ständig zum Lachen brachte.
Nach dem Essen lagen wir mit dicken Bäuchen im Gras und blinzelten schläfrig vor uns hin. Inzwischen war es so heiß geworden, dass sich die Pferde ans Flussufer zurückgezogen hatten und mit den Fesseln im Wasser standen. Träge verscheuchten sie mit ihren Schweifen die lästigen Fliegen und schüttelten hin und wieder die Köpfe.
»Hm, vielleicht hat die Vorhersage doch recht und es kommt tatsächlich noch ein Gewitter«, meinte ich und schaute in den immer noch strahlend blauen Himmel. Es war drückend heiß geworden und mittlerweile regte sich kein Lüftchen mehr.
»Vielleicht, aber wenn, dann erst gegen Abend«, gähnte Floh.
Wir dösten noch ein Weilchen, bis es Zeit wurde, zusammenzupacken. Wir hatten noch einen zweistündigen Heimweg vor uns, und im Westen fing der Himmel bereits an, sich dunkel zu färben. So ein Gewitter auf dem Land konnte manchmal schneller aufziehen, als man dachte.
Floh packte seinen Rucksack, während ich mich um die Pferde kümmerte. Schon bald saßen wir im Sattel und ritten zügig los. Auch unsere Wallache schienen das herannahende Unwetter zu spüren, denn sie drängten vorwärts. Flott trabten wir am Flussufer entlang, während ein plötzlich aufkommender Wind die Äste der Bäume schüttelte und Blätter herunterriss. Mir kam der Weg nun doppelt so lang vor und immer wieder blickte ich beunruhigt in den dunkler werdenden Himmel. Auch Florian schaute recht besorgt drein. Wir ließen unsere Pferde ein gutes Stück galoppieren, bevor wir sie wieder zum Trab durchparierten.
Nach einer Stunde hatten wir fast zwei Drittel des Weges geschafft, dafür war auch das Unwetter nicht mehr weit entfernt. Im Westen zuckten immer wieder helle Blitze über den schwarz-schwefligen Himmel und aus der Ferne hörten wir bereits das erste Donnergrollen.
Ich hatte eine tierische Angst vor Gewittern, vor allem im Freien, und meine Unruhe übertrug sich ungewollt auf Painted Diamond, der nun ebenfalls nervös wurde und zwischendurch immer wieder kleine Bocksprünge einlegte. Ich spürte, wie sein Körper vibrierte und er darauf brannte, davonzupreschen. Zum Glück waren Floh und Red Pepper die Ruhe selbst, was verhinderte, dass mein Araber mit mir über alle Berge ging.
»Bald haben wir es geschafft!«, rief Floh mir zu, doch durch das Heulen des Windes konnte ich ihn kaum verstehen.
Endlich hatten wir das Flussufer verlassen. Es war ja noch einen Tick gefährlicher, wenn man während eines Gewitters in der Nähe von Wasser war. Doch als wir nun aufs freie Feld kamen, wäre ich am liebsten zum Fluss zurückgekehrt. Hier pfiff der Wind mit enormer Geschwindigkeit, und ich musste mich tief über Diamonds Mähne beugen, um so wenig Widerstand wie möglich zu bieten.
Inzwischen hatte es zu regnen angefangen und im Nu waren wir bis auf die Knochen durchnässt. Der Wind peitschte mir den Regen ins Gesicht und schon längst baumelte mein Hut auf dem Rücken. Meine Hände waren fast steif von der plötzlichen Kälte, sodass ich Angst hatte, die Zügel bald nicht mehr halten zu können. Direkt vor uns zuckte ein Blitz und einige Sekunden später erklang ein lauter Donnerschlag. Das war sowohl für mich als auch für meinen Wallach zu viel. Ich ließ einen erschrockenen Schrei los und Painted Diamond galoppierte in Panik davon.
Hinter mir hörte ich noch Floh rufen, aber der Wind und der Regen verschluckten jeden Laut. Painted Diamond war auf der Flucht und niemand konnte ihn jetzt aufhalten. In weiten Galoppsprüngen jagte er über das Feld, und ich spürte, wie ich ihm machtlos ausgeliefert war. Doch ich hatte nur Angst vor dem Gewitter, und in dem Moment war es mir egal, wohin Painted Diamond rannte. Über uns schien sich das Zentrum des Unwetters zu befinden. Ein Blitz folgte dem nächsten und die Donnerschläge rollten dicht auf dicht. Ich betete inständig, dass wir nicht vom Blitz getroffen würden, und hoffte, dass bald der Körnerhof auftauchen möge. Endlich konnte ich die ersten Koppeln und das Haupthaus erkennen.
Nun versuchte ich, Painted Diamond durchzuparieren, aber es war sinnlos. Der Pinto reagierte auf keine meiner Hilfen, sondern galoppierte unverdrossen in einem halsbrecherischen Tempo auf den Hof zu. Er durfte so nicht auf den Hof rennen! Das war viel zu gefährlich. Für einen kurzen Augenblick vergaß ich meine Angst vor dem Gewitter und überlegte fieberhaft, wie ich Painted Diamond dazu bringen konnte, langsamer zu werden. Doch der Wallach war wie im Wahn. Als er seinen Stall erblickte, beschleunigte er seine Sprünge noch. Er raste regelrecht auf den Hof zu und ich konnte nichts anderes tun als beten. Wir erreichten das Kopfsteinpflaster, und ich spürte, wie Painted Diamond zu schlittern anfing. Erschrocken versuchte er, auf dem glatten Untergrund zu bremsen, doch das war aus diesem Tempo beinahe unmöglich. Painted Diamond rutschte, verlor den Halt, fiel auf seine rechte Hinterhand, rappelte sich wieder auf und blieb dann, zitternd wie Espenlaub, stehen. Auch ich zitterte am ganzen Körper vor Angst und Erschöpfung. Unfähig, uns zu rühren, verharrten wir bewegungslos auf der Stelle, wo uns wenige Minuten später Floh fand. Er sprang von Red Pepper, hob mich vom Pferd und trug mich zum Stall, während ich schluchzend in seinen Armen hing.
Zum Glück besaß unser Offenstall einen Bereich, den wir verschließen konnten. Dorthin führte Floh nun unsere Pferde, die sich dankbar um Amazing Grace drängten, die dort bereits auf uns wartete. Floh setzte mich auf einem Strohballen ab und hielt mich weiter im Arm, während ich hemmungslos schluchzte. Draußen tobte das Unwetter weiter, und durchs Fenster konnten wir sehen, wie immer wieder Blitze den schwarzen Himmel erleuchteten. Schließlich hatte ich mich so weit beruhigt, dass ich mit dem Weinen aufhörte.
»Komm, satteln wir die Pferde ab und reiben sie trocken. Da werden wir wenigstens wieder warm«, schlug Floh vor und erhob sich. Ich folgte ihm mit immer noch zitternden Beinen.
Zum Glück hatte sich Diamond inzwischen beruhigt und ich sattelte und trenste ihn ab. Anschließend holten wir riesige Strohbündel und begannen damit, unsere klatschnassen Pferde halbwegs trocken zu reiben. Floh hatte recht gehabt. Dadurch kamen auch wir etwas ins Schwitzen, und ich vergaß sogar ein bisschen das Unwetter, auch wenn ich bei jedem Blitz und Donnerschlag wieder zusammenzuckte. Der Regen prasselte unaufhörlich aufs Dach und gegen das Fenster, aber das schien unsere Pferde nicht mehr zu stören. Der Stall und die Nähe der Herdenmitglieder gaben ihnen Sicherheit und bald standen sie zu dritt nebeneinander und dösten mit hängenden Köpfen.
»Puh, das hätten wir geschafft«, meinte Floh und ließ sich ins Stroh plumpsen.
»Wer hätte das gedacht«, murmelte ich und setzte mich neben ihn. Das Gewitter selbst hatte inzwischen etwas nachgelassen, dafür waren der Regen und der Wind stärker geworden.
»Hm, vielleicht sollten wir mal unseren Eltern Bescheid sagen. Nicht dass die vor Sorge noch die Polizei alarmieren«, machte Floh einen Vorschlag und suchte nach seinem Handy.
Ich winkte unbekümmert ab. »Meine sind den ganzen Sonntag weg. Die kommen erst spätabends wieder heim.«
»Meine aber nicht«, entgegnete Floh und wählte seine Nummer. Er erklärte kurz, wo wir waren, und legte wieder auf.
»Mama hat angeboten, uns abzuholen, falls der Sturm nicht nachlässt. Wir sollen dann noch mal anrufen«, teilte Floh mir mit.
Ich nickte. Das war eine gute Idee. Ich hatte keine große Lust, bei dem Wetter auch noch mit dem Rad nach Hause zu fahren.
Das Trockenreiben hatte mich nur kurzfristig wärmen können. Jetzt fror ich und zitterte am ganzen Körper. Bedrückt schaute ich zum Fenster hinaus.
»Soll ich sie gleich anrufen?«, bot Floh an, doch ich schüttelte den Kopf.
Floh stand auf und kam kurz darauf mit ein paar Handtüchern und einer Pferdedecke zurück.
»Hier!«
»Danke!« Ich wickelte mir die Decke um und lehnte mich gegen den Strohballen. Draußen war es bereits so dunkel geworden, dass wir im Stall kaum noch etwas erkennen konnten. Aber eine Kerze anzünden, ging schlecht. Mir fiel auf, dass ich den ganzen Tag weder an Katha noch an Nico hatte denken müssen. Selbst jetzt verspürte ich nur einen kleinen Stich, wenn ich an Katha dachte. Es war schade, dass durch diesen Streit unsere Freundschaft zerbrochen war. Nico war mir mittlerweile egal. So ein Idiot! Na, sollte er doch mit Katha glücklich werden. Hauptsache, ich musste ihn nicht mehr sehen.
Schweigend saßen wir da und lauschten dem Trommeln des Regens und dem Malmen der Pferdemäuler, die sich inzwischen über das Stroh und das Heu hermachten. Ich fand die Fressgeräusche der Pferde extrem beruhigend und fühlte, wie ich mich langsam entspannte. Ich hätte stundenlang im Stroh sitzen und den Pferden beim Fressen zuhören können, wenn mir nur nicht so kalt gewesen wäre. Die Nässe drang durch und durch und ich sehnte mich nach einer heißen Badewanne.
Plötzlich hatte ich eine Idee.
»Du, Floh, was hältst du davon, wenn wir uns abholen lassen, uns eine heiße Badewanne genehmigen, uns hinterher auf die Couch kuscheln und einen schönen Film anschauen? Meine Eltern sind nicht da, das müssen wir ausnutzen.«
»Zusammen in eine Wanne?«, fragte Floh grinsend.
»Das würde dir so passen! Spinnst wohl!«, rief ich amüsiert und warf ein Strohbüschel nach ihm.
Floh warf zurück und im Nu war die schönste Strohschlacht im Gange. Wir wälzten uns wie junge Hunde im Stroh, und jeder versuchte, den anderen zu bezwingen. Doch Florian war stärker und ich musste mich schließlich ergeben.
»Okay, du hast gewonnen«, gab ich schnaufend auf, während Floh auf mir lag. Mittlerweile erkannte man nur noch Schatten, deswegen sah ich kaum etwas von Flohs Gesicht, das nur wenige Zentimeter von mir entfernt war.
»Und was bekommt der Sieger?«, wollte Floh leise wissen.
»Keine Ahnung! Was willst du denn?«, fragte ich keck.
»Schauen wir mal«, murmelte Floh, und ehe ich michs versah, küsste er mich auf den Mund. Aber diesmal war es kein flüchtiger Kuss wie am See, diesmal war er zart und sanft. Ich war so verblüfft, dass ich im ersten Moment gar nicht wusste, wie ich darauf reagieren sollte. Floh wurde durch mein Stillhalten wohl mutiger und fordernd schob sich seine Zunge an meine Lippen heran. Automatisch öffnete ich den Mund. Ein Schauer lief über meinen Rücken, als ich meinen ersten Zungenkuss bekam, und ich fühlte mich wie elektrisiert. Mit dem Denken hatte ich schon längst aufgehört und ich genoss einfach nur Flohs Küsse. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass ich seine Küsse auch erwiderte.
Wie lange wir im Stroh lagen und uns küssten, wusste ich nicht. Irgendwann ließ Floh von mir ab und ich holte etwas atemlos Luft. Ich sah seine Miene nicht, aber ich fühlte, dass plötzlich etwas zwischen uns war, was es vorher nicht gegeben hatte.
»Sorry, ich...«, fing Floh an, brach dann ab und stand auf.
Ich blieb stumm liegen und versuchte zu verarbeiten, was gerade passiert war, aber irgendwie schien mein Gehirn nicht mehr richtig zu funktionieren. Mein ganzer Körper fühlte sich plötzlich heiß und wie elektrisiert an. Meine Lippen brannten wie Feuer, und ich hatte das Gefühl, als ob sie auf das Doppelte angeschwollen wären. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, fühlte nur, dass ich wollte, dass Floh mich wieder küsste. Eine richtige Sehnsucht stieg in mir auf und ich verspürte ein merkwürdiges Ziehen im Bauch.
Ich erhob mich und ging auf Floh zu, der mit dem Rücken zu mir stand und aus dem Fenster in den strömenden Regen starrte.
»Floh?«
»Rike, ich...«, fing Floh erneut an.
Aber ich legte ihm den Finger auf den Mund und strich ihm sanft die nassen Haare aus der Stirn. Er küsste zärtlich meinen Finger und zog mich an sich.
Ich schlang meine Arme um seinen Hals und Floh beugte sich zu mir herunter und küsste mich erneut. Ich spürte, wie ich meine Scheu mehr und mehr verlor und seine Küsse genoss. Seine Hände streichelten mir sanft den Rücken und ich drängte mich dicht an ihn.
Schließlich ließen wir voneinander ab, hielten uns aber immer noch in den Armen.
»Ich denke, wir sollten uns jetzt abholen lassen, sonst wundert sich deine Mutter noch, was wir hier so lange machen«, murmelte ich.
»Hm«, brummte Floh nur, löste sich von mir und langte nach seinem Handy.
Keine zehn Minuten später erschien Flohs Mutter und fuhr uns nach Hause.
Als ich in der heißen Badewanne lag, fingen meine Gehirnzellen langsam wieder an zu arbeiten. Was war nur passiert? Floh und ich, wir hatten uns geküsst! Ach du liebe Güte! Wie war das nur passiert? Ich tauchte unter und kam prustend wieder hoch. Tat das gut! So langsam durchströmte mich wieder die Wärme, nur mein Verstand schien immer noch äußerst träge zu arbeiten. Anstatt mich zu fragen, was das Ganze sollte, fragte ich mich, wann wir uns wohl das nächste Mal küssen würden!
O mein Gott! Was dachte ich da nur? Floh und ich, wir waren nur befreundet, mehr nicht! Wir kannten uns seit unserer Geburt und waren gute Kumpels! Kumpels küssten sich nicht, verdammt noch mal! Warum also wollte ich unbedingt, dass Floh mich küsste?
Weil mein Herz wie verrückt schlug, wenn ich an unsere Küsse dachte, weil mein Bauch so merkwürdig ziepte, weil ich nicht mehr klar denken konnte! Vielleicht half kaltes Abduschen? Brr, besser nicht! Doch anscheinend benebelten das heiße Wasser und der Duft des Badeschaums mein Gehirn, denn dort drin drehte sich alles nur um Florian, und ich konnte es kaum abwarten, dass er endlich hier war. Ob er denn auch kam? Nicht dass er dachte, ich würde nach dem Vorfall im Stall nicht mehr wollen, dass er rüberkäme. Ich wurde unruhig. Plötzlich hielt ich es nicht mehr in der Wanne aus. Ich stand auf, sah zu, dass ich meine Haare trocken bekam, und schlüpfte in meinen kuscheligen Jogginganzug.
Ich ging in mein Zimmer und sah, dass bei Floh Licht brannte. Draußen regnete es immer noch. Hm, ob er sich nun nicht mehr traute? Irgendwie war ich völlig aus dem Häuschen. Ich war so aufgedreht, als wäre ich ein Aufziehmännchen oder etwas Derartiges. Warum kam er nicht rüber?
Ungeduldig trippelte ich vor meinem Fenster auf und ab. Er musste mich doch sehen. Außerdem brannte nun auch bei mir Licht. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und nahm mein Handy in die Hand. Doch bevor ich ihn anrief, überkam mich ein seltsames Zögern. Warum zum Teufel hatte ich auf einmal Hemmungen, ihn anzurufen? Das war doch totaler Blödsinn! Aber irgendwie brachte ich es nicht über mich, auf die Taste mit dem grünen Hörer zu drücken. Wieder zögerte ich. Vielleicht sollte ich ihm eine SMS schreiben? Quatsch! Was sollte ich denn schreiben? Wir konnten uns fast sehen, wenn ich mich aus dem Fenster lehnte. Er würde mich für verrückt halten, wenn ich ihm von hier eine SMS schrieb. Während ich noch dastand und überlegte, was ich tun sollte, piepste auf einmal mein Handy. Vor Schreck hätte ich es fast fallen gelassen.
Beruhige dich! Was bist du denn so aufgedreht?
Mein Herz schien einen dreifachen Salto zu schlagen, als ich sah, dass die SMS von Floh kam. Seit wann schrieb Floh mir SMS?
STEHT DEIN ANGEBOT VON VORHIN NOCH?
Klar! Was dachte er denn! Prompt schrieb ich ihm zurück, und erst im Nachhinein fiel mir ein, was ich vorhin im Stall gesagt hatte. Kuscheln auf der Couch und dabei einen Film schauen. Plötzlich hatte das eine völlig neue Bedeutung bekommen. Tausende Ameisen schienen zwischen meinen Haarspitzen und den Zehen hin und her zu wandern. Ich glühte und befürchtete schon, dass ich Fieber bekäme. Tatsächlich fühlten sich meine Wangen ganz heiß an. Hektisch lief ich durch mein Zimmer und überlegte nur, was ich sagen sollte. Zuerst machte ich meine Stehlampe an, drückte das Deckenlicht aus, schüttelte meine Kissen auf, räumte meine Klamotten weg und suchte hektisch nach einem unverfänglichen Film. Dabei geriet mein DVD-Ständer ins Wanken und sämtliche DVDs fielen mir entgegen. Na wunderbar! Das hatte ich ja toll hingekriegt! So fand mich Floh, als er in mein Zimmer kam - auf dem Boden inmitten meiner DVDs. Doch ihm schien das gar nicht aufzufallen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er genauso nervös war wie ich.
»Meine DVDs... ähm... ja... hast... hast du einen bestimmten Wunsch?«, stotterte ich. Zum Teufel noch mal, warum fing ich jetzt auch noch an zu stottern?
Floh schüttelte nur stumm den Kopf und starrte auf seine Schuhspitzen. Das erinnerte mich daran, wie es war, wenn ich vorne an der Tafel stand und eine Matheaufgabe nicht konnte. O Gott! Wie konnte ich jetzt nur an Mathe denken?
Ich stand auf und ging auf ihn zu. »Floh?«
»Rike, ich... ich denke... wir sollten...«
»DVDs schauen!«, platzte ich heraus, und in dem Augenblick verzogen sich Flohs Mundwinkel zu einem Grinsen.
Ich ging wieder zu meinen DVDs, zog wahllos eine aus dem Haufen heraus und schob sie in den Player.
Wir setzten uns auf die Couch, äußerst bedacht darauf, einen möglichst großen Sicherheitsabstand zwischen uns einzuhalten, und schauten den Film. Doch eigentlich bekam ich gar nichts davon mit. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, dieses verfluchte Ziehen, Ziepen und Kribbeln in meinem Körper zu ignorieren. O Gott, was war nur mit mir los? Alles drehte sich nur darum, Floh zu küssen. Verflucht noch mal! Das war Unsinn! Floh und ich waren nur Kumpels, nicht mehr! Aber warum wollte ich dann, dass er mich küsste? Verstohlen schielte ich zu ihm rüber, und ich hatte den Eindruck, dass auch er kaum etwas von dem Film mitbekam.
»Rike, ich muss dir was sagen«, fing Floh plötzlich an und sah mich direkt an. Sein Blick ging mir durch und durch. Doch ich wollte nicht reden. Ich wollte, dass er mich küsste. Jetzt! Hier und sofort!
»Später«, murmelte ich, und noch bevor ich registrierte, was ich da tat, hatte ich mich zu ihm rübergelehnt und küsste ihn. Floh war wohl in dem Moment mindestens so überrascht wie ich vorhin im Stall. Doch seine Überraschung legte sich schnell. Er zog mich an sich und kurz darauf lagen wir eng umschlungen auf der Couch und konnten von unseren Küssen kaum genug bekommen.
Es war einfach Wahnsinn! Noch nie hatte ich so etwas gefühlt und ich genoss es in vollen Zügen. Wir bekamen gar nicht mit, wie die Zeit verging, während wir uns küssten und sanft berührten. Plötzlich hörte ich, wie meine Eltern nach Hause kamen. Erschrocken fuhren wir auseinander. Ich warf einen Blick auf meinen Wecker. Halb zwölf! O mein Gott!
»Schnell, durchs Fenster!«, zischte ich, und Floh kletterte leise hinaus. Ich hüpfte in mein Bett, zog mir die Decke bis zu den Ohren hoch, gerade noch rechtzeitig, bevor meine Mutter kurz hereinschaute. Puh, noch mal Glück gehabt!