KAPITEL 11

Bald erfuhr ich auch den Namen der Dame: Sie hieß Diana – Diana Lethaby. Sie war Witwe, hatte keine Kinder, war sehr reich und waghalsig. In den Methoden, ihre Gelüste zu befriedigen, war sie ebenso erfahren wie ich, wenn auch auf weit höherem Niveau – und ihr Herz war ebenso verhärtet wie meins. Im Sommer 1892 war sie achtunddreißig Jahre alt – das heißt, jünger als ich es jetzt bin, obwohl sie mir damals, verglichen mit meinen zweiundzwanzig Jahren, schrecklich alt vorkam. Ihre Ehe war, glaube ich, sehr lieblos gewesen, denn sie trug weder Ehe- noch Trauerring, und es gab in dem schönen großen Haus auch nirgendwo ein Bild von Mr. Lethaby. Ich fragte sie nie nach ihm, und sie fragte mich nie nach meiner Vergangenheit; die früheren dunklen alten Tage bedeuteten ihr nichts.

Und mir durften sie nun, da wir unseren Handel abgeschlossen hatten, auch nichts mehr bedeuten. An jenem ersten wilden Morgen in ihrem Haus ließ sie sich wieder von mir küssen, dann musste ich baden, dann wieder meine alte Gardeuniform anziehen, und während ich mich ankleidete, trat sie ein wenig zur Seite und studierte mich. Sie sagte: »Wir werden dir ein paar neue Anzüge kaufen müssen. Dieser hier – auch wenn er viel Charme besitzt – wird kaum lange hinreichen. Ich werde Mrs. Hooper bitten, nach einem Herrenausstatter zu schicken.«

Ich knöpfte meine Hosen zu und zog die Hosenträger über meine Schultern. »Ich habe noch mehr Kostüme«, sagte ich, »zu Hause.«

»Aber du hättest lieber neue.«

Ich runzelte die Stirn. »Natürlich, aber – ich muss meine Sachen abholen. Ich kann sie dort nicht einfach zurücklassen.«

»Ich könnte einen Jungen hinschicken und sie holen lassen.«

Ich zog mein Jackett glatt. »Ich schulde meiner Wirtin eine Monatsmiete.«

»Ich schicke ihr das Geld. Wie viel ist es? Ein Pfund? Zwei Pfund?«

Ich antwortete nicht. Bei ihren Worten begriff ich aufs Neue, wie groß die Veränderung meines Lebens nun war; und ich dachte zum ersten Mal an den Besuch, den ich Mrs. Milne und Gracie würde machen müssen. Ich konnte diese Pflicht nicht von mir abwälzen, indem ich einen Jungen hinschickte, mit einem Brief und einer Goldmünze – oder? Ich wusste, dass das nicht ging.

»Ich muss selbst hingehen«, antwortete ich schließlich. »Ich möchte mich gern von meinen Freundinnen verabschieden, wissen Sie.«

Sie hob eine Augenbraue. »Wie du wünschst. Ich werde Shilling anweisen, dass er heute Nachmittag die Kutsche bereithält.«

»Aber ich kann doch gut die Pferdetram nehmen …«

»Ich lasse Shilling rufen.« Sie kam zu mir, setzte mir die Grenadiermütze auf und fuhr mir über meine scharlachroten Schultern. »Ich finde es sehr ungezogen von dir, dass du so rasch von mir fortgehen willst. Da muss ich wenigstens sichergehen, dass du rasch wieder zurückkommst.«

Mein Besuch in der Green Street war genauso traurig, wie ich es mir vorgestellt hatte. Aus irgendeinem Grund konnte ich es nicht ertragen, die Kutsche vor Mrs. Milnes Haustür halten zu lassen, also bat ich Mr. Shilling – Dianas schweigsamen Kutscher –, mich am Percy Circus abzusetzen und dort auf mich zu warten. Als ich die Haustür aufschloss, war es daher, als käme ich gerade vom Einkaufen oder von einem Spaziergang zurück, wie so oft. Außer der ungewöhnlichen Länge meines Ausbleibens gab es nichts, was Mrs. Milne und Gracie einen Hinweis auf die gewaltige Veränderung meines Schicksals hätte liefern können. Ich schloss die Haustür sehr leise, doch Gracies scharfen Ohren war der Laut nicht entgangen, denn ich hörte – sie war im Wohnzimmer –, wie sie »Nance!« rief, und im nächsten Moment hoppelte sie die Treppe herunter und umarmte mich so wild und fest, dass sie mir fast das Genick brach. Ihre Mutter erschien gleich darauf auf dem Treppenabsatz.

»Liebes!«, rief sie. »Du bist wieder da! Ach, Gott sei Dank! Wir sind halb verrückt geworden beim Grübeln darüber, wo du wohl abgeblieben wärst, nicht, Gracie? Gracie hat sich fast zu Tode gesorgt, aber ich habe ihr gesagt, ›Mach dir keine Sorgen um Nancy, Mädchen; Nancy wird bei irgendeiner Freundin übernachtet haben, oder sie hat die letzte Pferdebahn verpasst und in einer Pension übernachtet. Nancy kommt morgen gesund und munter wieder, warte nur!‹« Während sie sprach, kam sie langsam die Treppe herunter, bis wir auf gleicher Höhe standen. Sie sah mich mit wahrhaftiger Zuneigung an, aber ich meinte aus ihren Worten so etwas wie einen Vorwurf herauszuhören. Jetzt hatte ich noch mehr Schuldgefühle, wenn ich daran dachte, was ich ihr sagen musste – aber ich empfand auch einen heimlichen Groll. Schließlich war ich nicht ihre Tochter, und Gracie war auch nicht meine Liebste. Ich schuldete ihnen nichts – so sagte ich zu mir selbst – außer meiner Miete.

Jetzt löste ich mich sanft von Grace und nickte ihrer Mutter zu. »Sie haben recht, ich habe wirklich eine Freundin getroffen, eine sehr alte Freundin, die ich ewig nicht gesehen hatte. Das war vielleicht eine Überraschung! Sie hat eine kleine Wohnung drüben in Kilburn. Es war zu weit, spät in der Nacht noch heimzugehen.« Die Geschichte klang mir sehr fadenscheinig, aber Mrs. Milne schien zufrieden damit.

»Da siehst du’s, Gracie«, sagte sie. »Was hab ich dir gesagt? Jetzt lauf du mal nach unten und setz den Kessel auf. Nancy möchte bestimmt ein Tässchen Tee.« Wieder lächelte sie mir zu, während Gracie pflichtschuldigst nach unten trottete; dann stieg sie die Treppe wieder hinauf, und ich folgte ihr.

»Die Sache ist die, Mrs. Milne«, begann ich, »diese Freundin von mir ist in einer ziemlich unangenehmen Situation. Wissen Sie, ihre Mitbewohnerin ist nämlich letzte Woche ausgezogen …« Mrs. Milne verharrte kurz auf einer Stufe, dann stieg sie weiter hinauf – »und sie findet niemand anderen, und sie kann die Miete nicht allein bezahlen; sie arbeitet nur hie und da bei einer Putzmacherin, das arme Ding …« Wir waren im Wohnzimmer angekommen. Mrs. Milne drehte sich zu mir um, und ihr Blick war besorgt.

»Das ist ja schlimm«, sagte sie voller Mitgefühl. »Eine gute Mitbewohnerin ist heutzutage schwer zu finden, das weiß ich nur zu gut. Deshalb – und das habe ich dir ja schon oft gesagt, wie du weißt – deshalb sind Gracie und ich so glücklich, dass wir dich haben. Also, wenn du uns je verlassen würdest, Nance …« Es war der schlimmste Moment, es ihr zu sagen, aber ich musste sprechen.

»Ach, sagen Sie doch nicht so was, Mrs. Milne!«, sagte ich leichthin. »Denn, wissen Sie, ich werde Sie verlassen. Diese Freundin von mir hat mich darum gebeten, und, na ja, ich habe gesagt, dass ich komme, einfach um ihr zu helfen, wissen Sie …« Meine Stimme wurde immer dünner. Mrs. Milne war grau im Gesicht. Sie sank auf einen Stuhl und legte die Hand vor den Mund.

»O Nance …«

»Ach, nicht doch«, sagte ich mit künstlicher Munterkeit. »Nun seien Sie doch nicht so! Schließlich bin ich ja keine so besondere Mieterin, weiß Gott, und Sie finden bald ein anderes nettes Mädchen, das meinen Platz einnimmt.«

»Aber ich denke gar nicht so sehr an mich«, erwiderte sie, »sondern an Gracie. Du warst so gut zu ihr, Nancy; es gibt nicht viele, die sie so verstehen wie du, und nicht viele, die sich mit ihren ganzen Eigenarten so viel Mühe machen würden wie du.«

»Aber ich komme ja immer mal zu Besuch«, sagte ich vernünftig. »Und Grace …« – ich schluckte, als ich das sagte, denn ich wusste, dass sie in der Stille, dem Reichtum und der Eleganz von Dianas Villa niemals willkommen sein würde – »Grace kann kommen und mich besuchen. Es wird schon nicht so schlimm werden.«

»Geht es um das Geld, Nance?«, fragte sie dann. »Ich weiß, du hast nicht viel …«

»Nein, natürlich geht es nicht um das Geld«, sagte ich. »Wirklich nicht.« Ich erinnerte mich an die Goldmünze in meiner Tasche, die Diana eigenhändig dort hineingesteckt hatte. Damit waren meine Mietschulden mehr als gedeckt und die Kündigungsfrist von vierzehn Tagen auch. Ich hielt ihr die Münze hin, aber als sie sie nur mit leeren Augen anstarrte und keine Anstalten machte, sie zu nehmen, ging ich verlegen zum Kaminsims und legte sie leise da hin.

Im Zimmer herrschte Schweigen, nur unterbrochen von Mrs. Milnes Seufzen. Ich hustete. »Also, ich gehe jetzt wohl besser rauf und suche meine Sachen zusammen …«

»Was?! Du willst doch nicht heute schon gehen? So bald?«

»Ich habe meiner Freundin versprochen, dass ich gleich heute komme«, sagte ich und versuchte mit meiner Betonung auszudrücken, dass eigentlich meine Freundin an allem schuld wäre.

»Aber du trinkst doch wenigstens noch eine Tasse Tee mit uns?«

Der Gedanke an die trübselige Teegesellschaft, die wir abgeben würden – Mrs. Milne so grau im Gesicht und so enttäuscht, und Gracie höchst wahrscheinlich in Tränen aufgelöst –, erfüllte mich mit Schrecken. Ich biss mir auf die Lippen.

»Lieber nicht«, sagte ich.

Mrs. Milne richtete sich auf, und ihr Mund wurde schmal. Sie schüttelte langsam den Kopf. »Das wird meinem armen Mädchen das Herz brechen.«

In ihrem Ton lag eine Härte, die erschreckender war und mich mehr beschämte als ihre Traurigkeit, aber trotzdem merkte ich, dass ich irgendwie auch gekränkt war. Gerade hatte ich den Mund geöffnet, um irgendetwas schrecklich Liebenswürdiges zu sagen, als vor der Tür schlurfende Schritte hörbar wurden und Grace erschien. »Der Tee ist fertig!«, sang sie laut und unerwartet. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich lächelte sie an, nickte blindlings ihrer Mutter zu und flüchtete aus dem Zimmer. Ihre Stimme – »O Gott, Mama, was ist denn los?« – verfolgte mich auf der Treppe; dann hörte ich Mrs. Milne murmeln. Schnell war ich in meinem Zimmer und schloss die Tür fest hinter mir.

Meine wenigen Habseligkeiten konnte ich natürlich im Handumdrehen zusammenraffen und in meinen Seesack und eine kleine Stofftasche stopfen, die Mrs. Milne mir einmal geschenkt hatte. Meine Bettwäsche faltete ich zusammen und legte sie ordentlich ans Fußende des Bettes; den kleinen Bettvorleger schüttelte ich am offenen Fenster aus, und die wenigen kleinen Bilder, die ich an die Wand geheftet hatte, nahm ich ab und verbrannte sie im Kamin. Meine Toilettensachen – ein halb geborstenes Stück gelber Seife, einen Rest Zahnpulver, einen Tiegel Gesichtscreme mit Veilchenduft – warf ich in den Abfalleimer. Ich behielt nur meine Zahnbürste und mein Haaröl; beides zusammen steckte ich mit einer unangebrochenen Büchse Zigaretten und einer großen Tafel Schokolade in die Stofftasche – doch nach kurzem Zögern nahm ich die Schokolade wieder heraus und legte sie aufs Kaminsims, wo Gracie sie hoffentlich finden würde. Nach einer halben Stunde sah das Zimmer ganz so aus wie damals, als ich eingezogen war. Außer den Nadellöchern in der Tapete, wo meine Bilder gehangen hatten, und einem Brandfleck auf dem Nachttisch, wo einmal eine Kerze umgefallen war, als ich über einer Zeitschrift einschlief, gab es nichts, was daran erinnerte, dass ich hier gewohnt hatte. Dieser Gedanke war traurig, aber ich wollte nicht traurig werden. Ich ging nicht zum Fenster, um einen letzten sentimentalen Blick auf die Aussicht zu werfen. Ich schaute nicht in die Schubladen oder unter das Bett; ich hob die Kissen nicht von den Stühlen. Wenn ich etwas vergessen hatte, würde Diana es durch etwas Besseres ersetzen, das wusste ich.

Unten im Haus war es merkwürdig still, und als ich am Wohnzimmer ankam, war die Tür geschlossen. Ich klopfte und drehte mit klopfendem Herzen den Türknauf. Mrs. Milne saß noch am Tisch, genau so wie ich sie zurückgelassen hatte. Sie war nicht mehr so grau im Gesicht, blickte aber immer noch streng und düster. Die Teekanne stand auf dem Tablett und wurde kalt; niemand hatte eingeschenkt, die Teetassen standen auf den Untertassen gestapelt daneben. Gracie saß steif und kerzengerade auf dem Sofa, das Gesicht krampfhaft abgewandt, den Blick unverwandt – aber, wie ich glaubte, ohne etwas zu sehen – auf die Aussicht aus dem Fenster gerichtet. Ich hatte erwartet, dass sie weinen würde, wenn sie die Neuigkeiten hörte, aber stattdessen schien sie wütend zu sein. Ihre Lippen waren aufeinandergepresst und ganz farblos.

Mrs. Milne wenigstens schien sich mit meinem Weggang ein wenig ausgesöhnt zu haben, denn sie sprach mich jetzt mit einem schwachen Lächeln an. »Ich fürchte, Gracie ist ein bisschen außer sich«, sagte sie. »Deine Pläne haben sie ziemlich traurig gemacht. Ich hab ihr gesagt, dass du uns besuchen kommst, aber – na ja – sie ist eben starrköpfig.«

»Starrköpfig?«, sagte ich, wie verwundert. »Doch nicht unsere Gracie!« Ich machte einen Schritt auf sie zu und streckte die Hand aus. Mit einem Aufjaulen schob sie mich weg und rutschte an das äußerste Ende des Sofas, wobei sie die ganze Zeit ihren Kopf in diesem steifen, unnatürlichen Winkel abgewandt hielt. Sie hatte mir noch nie eine solche Abneigung gezeigt, und als ich weiter zu ihr sprach, war mein Gefühl echt.

»Ach, jetzt sei doch nicht so, Gracie, bitte! Willst du mir zum Abschied nicht noch etwas sagen oder mir einen Kuss geben? Willst du mir nicht mal die Hand geben? Ich werde dich sehr vermissen, und es wäre schrecklich für mich, wenn wir uns jetzt im Streit trennten, wo wir doch so viel Spaß miteinander hatten.« Und so redete ich weiter, halb bittend und halb vorwurfsvoll, bis Mrs. Milne aufstand, meine Schulter berührte und leise sagte: »Am besten lässt du sie jetzt in Ruhe und gehst, Nance. Wenn du mal zu Besuch kommst, hat sie sich bestimmt wieder beruhigt.«

Also musste ich schließlich ohne Gracies Abschiedskuss gehen. Ihre Mutter begleitete mich zur Haustür, und wir standen verlegen vor dem Licht der Welt und dem weibischen blauen Gott – sie mit unter dem Busen verschränkten Armen und ich mit Taschen behangen und immer noch in meinen scharlachroten Klamotten.

»Mrs. Milne, es tut mir leid, dass das alles so plötzlich gekommen ist«, hob ich an, doch sie unterbrach mich.

»Lass nur, Liebes. Du musst deinen eigenen Weg gehen.« Sie war zu gutherzig, um lange streng zu sein. Ich sagte, ich hätte mein Zimmer ordentlich hinterlassen und ich würde ihr meine neue Adresse schicken – was ich nie tat, nie! – und dass sie die beste Wirtin in der ganzen Stadt wäre, und wenn die neue Mieterin sie nicht zu schätzen wüsste, dann würde ich ihr den Marsch blasen.

Da lächelte sie wirklich, und wir umarmten uns. Doch als wir uns voneinander lösten, merkte ich, dass ihr etwas auf der Seele lag, und als ich schon auf der untersten Treppenstufe stand, sagte sie: »Nance, entschuldige, wenn ich das frage, aber – diese Freundin ist doch wirklich eine Freundin – ich meine, ein Mädchen, ja?«

Ich schnaubte. »Oh, aber Mrs. Milne! Haben Sie wirklich geglaubt – haben Sie wirklich gedacht, ich würde – ?« Ich würde mich mit einem Mann zusammentun, das meinte sie. Ich, in meinen Hosen und mit kurzgeschnittenem Haar! Sie errötete.

»Ich meine ja nur«, sagte sie. »Heutzutage kann ein Mädchen doch im Handumdrehen von einem Kerl eingefangen werden. Und weil du so plötzlich ausziehen willst, hab ich fast geglaubt, irgendein Gentleman hätte dir einen Haufen Versprechungen gemacht. Aber ich hätte es besser wissen müssen.«

Mein Gelächter klang ein wenig hohl, weil ich daran dachte, wie nah ihre Gedanken der Wahrheit kamen und doch so weit davon entfernt waren.

Ich ergriff mein Gepäck fester. Mrs. Milne hatte ich erzählt, ich würde zum Droschkenstand an der King’s Cross Road gehen, weil das die Richtung war, die ich einschlagen musste, um Dianas Kutscher zu finden. Ihre Augen, die im ersten Schock über meine Neuigkeiten immer trocken geblieben waren, begannen jetzt zu glänzen. Sie blieb auf der Schwelle stehen, während ich mich langsam und verlegen auf den Weg die Green Street entlang machte. »Vergiss uns nicht, Liebes!«, rief sie, und ich drehte mich um und winkte. Am Wohnzimmerfenster erschien eine Gestalt. Grace! Sie war also so weit aufgetaut, um mir zuzusehen, wie ich fortging. Ich winkte heftiger, nahm die Mütze ab und schwenkte sie in ihre Richtung. Zwei Jungen, die an einem kaputten Eisengeländer Purzelbäume schlugen, unterbrachen ihr Spiel und grüßten mich zackig. Wahrscheinlich hielten sie mich für einen Soldaten, dessen Urlaub abgelaufen war, und Mrs. Milne für meine weinende weißhaarige alte Mutter und Gracie bestimmt für meine Schwester oder meine Liebste. Aber so sehr ich auch winkte und ihr Küsschen zuwarf – sie rührte sich nicht; sie stand einfach da, das Gesicht und die Hände an die Fensterscheibe gepresst; am Glas sah man ein helleres Rund in der Mitte ihrer blassen Stirn und an den Enden ihrer stumpfen Finger. Schließlich winkte ich nur noch langsam und ließ dann den Arm sinken.

»Na, die liebt dich aber nich grad doll«, sagte einer der Jungen. Als ich von ihm fort wieder zum Haus sah, war Mrs. Milne verschwunden. Gracie aber stand noch immer da und betrachtete mich. Ihr Blick – kalt und hart wie Alabaster, durchdringend wie eine Nadel – verfolgte mich bis zur Ecke King’s Cross Road. Sogar auf dem steilen Stück hinauf zum Percy Circus, wo die Fenster der Green Street gar nicht zu sehen sind, schien er sich noch in meinen Rücken zu bohren. Erst als ich im Dunkel von Dianas Kutsche saß und den Riegel der Tür vorschob, fühlte ich mich davon befreit und wieder sicher auf dem Pfad meines neuen Lebens.

Doch dann gab es noch eine weitere Erinnerung an die un-bezahlten Schulden aus meinem alten Leben, denn als wir die Euston Road entlangfuhren und uns der Ecke Judd Street näherten, fiel mir ganz plötzlich die Verabredung mit meiner neuen Freundin Florence ein. Am Freitag sollte sie sein, und es war Freitag, wie mir klar wurde. Ich hatte gesagt, ich würde sie um sechs Uhr vor dem Eingang des Pubs treffen, und jetzt musste es schon nach sechs sein … Gerade als ich das dachte, fuhr die Kutsche wegen des dichten Verkehrs langsamer, und ich sah sie dort stehen – ein Stück die Straße hinunter stand sie und wartete auf mich. Die Kutsche kroch nur noch vorwärts; durch die Spitzenvorhänge des Fensters sah ich sie ganz deutlich, wie sie mit gerunzelter Stirn nach links und rechts Ausschau hielt, dann den Kopf senkte, um auf ihre Uhr zu sehen, eine Hand hob, um eine Locke zurückzustecken. Und ich fand ihr Gesicht so unscheinbar und lieb. Plötzlich verspürte ich den Drang, den Riegel zu öffnen und die Straße hinunter zu ihr zu rennen. Oder ich wollte doch wenigstens den Kutscher bitten, neben ihr anzuhalten, damit ich ihr eine Entschuldigung zurufen konnte … Doch während ich noch unentschlossen dasaß, lief der Verkehr wieder rascher; die Kutsche fuhr mit einem Ruck an, und einen Augenblick später lagen die Judd Street und die unscheinbare liebe Florence weit hinter mir. Damals wagte ich es noch nicht, den furchteinflößenden Mr. Shilling zu bitten, das Pferd zu wenden, obwohl ich ja an diesem Nachmittag seine Herrin war. Und was hätte ich auch zu Florence sagen sollen? Ich würde nie wieder frei sein, um mich mit ihr zu treffen, so glaubte ich, und ich konnte wohl kaum damit rechnen, dass sie mich bei Diana besuchte. Sie würde bestimmt überrascht sein und böse, wenn ich nicht erschien: bereits die dritte Frau, die an diesem Nachmittag enttäuscht von mir war. Es tat mir ja leid, aber, wenn ich es recht bedachte, nicht allzu sehr. Überhaupt nicht sehr.

Als ich am Felicity Place anlangte – denn so hieß der Platz, an dem das Haus meiner Herrin stand –, wurde ich mit Geschenken begrüßt. Diana fand ich im oberen Salon, endlich gebadet und angekleidet, das Haar geflochten und kunstvoll aufgesteckt. Sie sah gut aus in ihrem Gewand von Grau und Rot. Ihre Taille war sehr schmal und der Rücken ganz aufrecht. Mir fielen jene Spitzen und Schnüre wieder ein, an denen ich mich in der vergangenen Nacht nervös zu schaffen gemacht hatte; jetzt sah man unter der glatten Hülle ihres Mieders nichts davon. Der Gedanke an das unsichtbare Leinenzeug und das Korsett, das die ruhige Hand einer Zofe geschlossen und verborgen hatte und das meine zitternden Hände wohl später enthüllen und öffnen würden, war ziemlich aufregend. Ich ging zu ihr, packte sie und küsste sie hart auf den Mund, bis sie lachte. Ich war müde und wund aufgewacht, ich hatte eine trübe Zeit in der Green Street hinter mir, aber jetzt fühlte ich mich überhaupt nicht mehr trübe – ich fühlte mich gelenkig und lüstern. Wenn ich einen Schwanz gehabt hätte, hätte er jetzt gezuckt.

Wir umarmten uns ein, zwei Minuten lang, dann löste sie sich von mir und nahm meine Hand. »Komm mit«, sagte sie. »Ich habe dir ein Zimmer herrichten lassen.«

Im ersten Moment war ich ein wenig enttäuscht, dass ich nicht ihr Zimmer teilen würde, doch diese Enttäuschung hielt nicht lange an. Das Zimmer, in das sie mich führte – es lag etwas entfernt den Korridor hinunter –, war kaum weniger eindrucksvoll als ihr eigenes und genauso prachtvoll. Die Wände waren cremeweiß, die Teppiche goldfarben, der Wandschirm und das Bett aus Bambus, und die Frisierkommode war übersät von wunderbaren Dingen: einem Zigarettenetui aus Schildpatt, einem Paar Bürsten und einem Kamm sowie einem Stiefelknöpfer aus Elfenbein und mehreren Tiegeln und Flaschen mit Ölen und Parfüms. Eine Tür neben dem Bett öffnete sich in einen langgestreckten Wandschrank; hier hing – über hölzerne Schultern drapiert – ein Morgenmantel aus leuchtend roter Seide, der zu Dianas grünem Mantel passte, und hier fand sich auch der Anzug, den sie mir versprochen hatte: ein schönes Stück aus grauem Kammgarn, sehr schwer und sehr elegant. Außerdem gab es noch eine Reihe von Schubladen, auf denen Manschettenknöpfe stand, Krawatten, Kragen und Kragenknöpfe. Sie waren alle gefüllt, und auf einem Regal mit der Aufschrift Leinen lagen zusammengefaltet Dutzende von weißen Batisthemden.

Ich betrachtete das alles, und dann küsste ich Diana sehr wild – teilweise, wie ich zugeben muss, damit sie vielleicht die Augen schloss und so nicht merkte, wie sehr sie mich einschüchterte. Aber als sie gegangen war, tanzte ich förmlich vor Freude über den goldenen Teppich hin. Ich nahm den Anzug und ein Hemd, einen Kragen und eine Krawatte und legte alles in der richtigen Anordnung aufs Bett. Dann tanzte ich wieder. Den Seesack, den ich von Mrs. Milne mitgebracht hatte, trug ich zum Wandschrank und warf ihn ungeöffnet in die hinterste Ecke.

Ich zog meinen Anzug zum Abendessen an. Er stand mir, wie ich wusste, sehr gut. Diana sagte jedoch, der Schnitt sei nicht ganz richtig, und Mrs. Hooper solle morgen meine genauen Maße nehmen und sie dem Schneider schicken. Ich fand es erstaunlich, dass sie so viel Vertrauen in die Diskretion ihrer Haushälterin hatte, und als sie uns allein gelassen hatte – denn sie hatte uns beim Essen bedient und danach mit ernster und (wie ich fand) irritierender Aufmerksamkeit im Hintergrund gestanden, bis sie entlassen wurde –, sagte ich das Diana. Sie lachte.

»Dahinter steckt ein Geheimnis«, sagte sie. »Errätst du es nicht?«

»Wahrscheinlich zahlst du ihr ein Vermögen an Gehalt.«

»Nun … vielleicht. Aber hast du nicht bemerkt, wie Mrs. Hooper dich durch ihre Wimpern hindurch betrachtet hat, als sie dir die Suppe servierte? Ach, sie hat dir ja fast in den Teller gesabbert vor Geilheit!«

»Du meinst doch nicht – du willst doch damit nicht sagen – dass sie – das sie ist wie wir?«

Sie nickte. »Natürlich. Und was die kleine Blake betrifft – tja, die habe ich aus der Zelle einer Besserungsanstalt geholt, das arme Kind. Sie war da eingesperrt, weil sie ein Hausmädchen verführt hatte …«

Wieder lachte sie, während ich staunte. Dann beugte sie sich zu mir herüber und wischte mir mit ihrer Serviette einen Spritzer Bratensoße von der Wange.

Man hatte uns Koteletts und Kalbsbries serviert, alles sehr gut. Ich aß mit Appetit, wie schon beim Frühstück. Diana jedoch trank mehr, als dass sie aß, und sie rauchte noch mehr, als dass sie trank, und am allermeisten beobachtete sie mich. Nach den Enthüllungen über die Dienstboten schwiegen wir. Ich merkte nämlich, dass vieles, was ich sagte, ein Zucken um ihre Lippen und auf ihrer Stirn auslöste, als ob meine Worte – die in meinen Ohren ganz vernünftig klangen – sie belustigten; daher sagte ich gar nichts mehr und sie auch nicht. Schließlich hörte man nur noch das leise Zischen der Gaslampen, das gleichmäßige Ticken der Uhr auf dem Kaminsims und das Klappern meines Messers und der Gabel auf dem Teller. Ich dachte unwillkürlich an die fröhlichen Abendessen in der Green Street mit Mrs. Milne und Grace. Ich dachte an das Abendessen, bei dem ich jetzt im Pub in der Judd Street mit Florence hätte sitzen können. Doch dann beendete ich meine Mahlzeit, und Diana warf mir eine ihrer rosa Zigaretten zu, und als mir davon schwindelig geworden war, kam sie zu mir herüber und küsste mich. Und da fiel mir ein, dass sie mich ja wohl kaum wegen der Konversation bei Tisch engagiert hatte.

In jener Nacht machten wir langsamer Liebe als davor – sogar fast zärtlich. Und doch überraschte sie mich, indem sie mich an der Schulter packte, als ich eben am Einschlafen war – mein Körper köstlich befriedigt, und meine Arme und Beine mit den ihren verschlungen –, und mich wachrüttelte. Der ganze Tag war ein Tag der Lektionen gewesen. Jetzt kam die letzte.

»Du kannst gehen, Nancy«, sagte sie in genau demselben Ton, den ich sie gegenüber Mrs. Hooper und ihrer Zofe hatte anschlagen hören. »Ich wünsche heute Nacht allein zu schlafen.«

Es war das erste Mal, dass sie zu mir sprach wie zu einem Dienstboten, und ihre Worte trieben mir die träge Wärme des Schlafs augenblicklich aus den Gliedern. Dennoch ging ich, ohne mich zu beklagen, den Flur hinunter in mein helles Zimmer, wo mich mein eigenes kaltes Bett erwartete. Mir gefielen ihre Küsse. Ihre Geschenke gefielen mir noch besser, und wenn ich ihr gehorchen musste, um die zu behalten – nun gut, dann sei es. Ich war daran gewöhnt, Herren in Soho für ein Pfund pro Blasnummer zu bedienen. Verglichen damit erschien mir damals der Gehorsam gegenüber einer solchen Dame und in einer solchen Umgebung eine sehr geringe Mühe.