KAPITEL 16
Als ich wieder zu mir kam, lag ich ausgestreckt auf einem Teppich, die Füße erhöht auf einem kleinen Kissen; neben mir war die Wärme und das Knistern des Feuers, und irgendwo hörte ich leise Stimmen. Ich öffnete die Augen, aber da fing das Zimmer an, sich schrecklich zu drehen, und der Teppich schien zur Seite zu kippen, also schloss ich sie sofort wieder, bis der Fußboden, wie eine trudelnde Münze, langsam nachließ zu schlingern.
Danach war es wunderbar, einfach so vor der Glut des Feuers zu liegen und zu spüren, wie wieder Leben in meine tauben, schmerzenden Glieder einkehrte. Trotzdem zwang ich mich, meine eigenartige Situation zu bedenken und meine Umgebung wahrzunehmen. Ich war, wie ich feststellte, in Florences Wohnzimmer; sie und ihr Mann mussten mich über ihre Schwelle getragen und es mir vor dem Kamin bequem gemacht haben. Es waren ihre Stimmen, die ich hörte. Sie standen hinter mir – offenbar hatten sie mein kurzes Aufblicken nicht bemerkt – und sprachen ziemlich ratlos über mich.
»Aber wer kann sie denn sein?«, hörte ich den Mann fragen.
»Ich weiß es nicht.« Das war Florence. Eine Diele knarrte, gefolgt von Schweigen, und ich spürte, dass sie mich aus der Nähe betrachtete. »Aber irgendetwas«, fuhr sie fort, »kommt mir an ihrem Gesicht doch bekannt vor …«
»Schau dir ihre Wange an«, sagte der Mann leise. »Schau dir ihr billiges Kleid an und den Hut. Schau dir ihr Haar an! Denkst du, dass sie vielleicht im Gefängnis war? Könnte sie eines von deinen Mädchen sein, das gerade aus der Besserungsanstalt entlassen wurde?« Wieder entstand eine Pause; vielleicht zuckte Florence die Achseln. »Also, ich glaube schon, dass sie im Gefängnis gewesen sein muss«, fuhr der Mann fort, »wenn ich mir ihr Haar so ansehe …« Ich war leicht entrüstet, und mein eines Auge zuckte. »Schau mal!«, sagte der Mann da. »Sie wacht auf.«
Ich öffnete die Augen und sah ihn, wie er sich über mich beugte. Er hatte ein sehr sanftes Gesicht, kurzes Haar von rötlichgoldener Farbe und einen Schnauzbart; ein bisschen sah er aus wie der Matrose auf den Players-Packungen. Bei dem Gedanken bekam ich sofort Lust auf eine Zigarette und stieß ein trockenes kleines Husten aus. Der Mann kauerte sich neben mich und tätschelte mir die Schulter. »Holla, Miss«, sagte er. »Geht es Ihnen gut, Herzchen? Alles wieder in Ordnung? Sie sind hier unter Freunden, wissen Sie.« Seine Stimme und seine ganze Art waren so freundlich, dass ich – immer noch schwach und leicht verwirrt von meiner Ohnmacht – spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen und die Hand aufs Gesicht drückte, um sie zurückzudrängen. Als ich die Hand wieder fortnahm, war Blut daran; ich schrie leise auf, weil ich glaubte, meine Nase hätte wieder zu bluten angefangen. Aber es war kein Blut. Der Regen hatte meinen billigen roten Strohhut durchweicht, und die Farbe war mir in breiten roten Streifen übers Gesicht gelaufen.
Was hatte Diana doch für eine Vogelscheuche aus mir gemacht! Bei diesem Gedanken fing ich nun ernstlich zu weinen an, schluchzte tief und schrecklich und voller Scham. Der Mann zog ein Taschentuch hervor und tätschelte mir wieder den Arm. »Ich glaube«, sagte er, »Sie hätten gern etwas Heißes zu trinken.« Ich nickte, und er stand auf. An seiner Stelle kam Florence. Sie hatte ihr Baby wohl irgendwo hingelegt, denn jetzt waren ihre Arme steif vor der Brust verschränkt.
Sie fragte mich: »Geht es Ihnen besser?« Ihre Stimme war nicht ganz so freundlich wie die des Mannes, und ihr Blick kam mir ziemlich streng vor. Ich nickte, erhob mich mit ihrer Hilfe vom Fußboden und setzte mich in einen Sessel am Kaminfeuer. Das Baby lag, wie ich jetzt sah, auf dem anderen Sessel auf dem Rücken und spielte mit seinen Händchen. Aus dem Raum nebenan – der Küche, vermutete ich – hörte man das Klappern von Geschirr und ein unmelodisches Pfeifen. Ich putzte mir die Nase, wischte mir das Gesicht ab, weinte noch ein bisschen weiter und wurde dann langsam ruhiger.
Ich sah wieder zu Florence. »Es tut mir leid, dass ich hier in so einem Zustand aufgetaucht bin.« Sie sagte nichts. »Wahrscheinlich fragen Sie sich, wer ich überhaupt bin …« Sie lächelte.
»Ja … schon.«
»Ich bin …«, begann ich und hustete dann, um mein Zögern zu verbergen. Was konnte ich ihr sagen? Ich bin das Mädchen, das vor achtzehn Monaten mit dir geflirtet hat? Ich bin das Mädchen, das dich zum Abendessen eingeladen und dich dann ohne Weiteres auf der Judd Street hat stehenlassen?
»Ich bin eine Freundin von Miss Derby«, sagte ich schließlich.
Florence überlegte. »Miss Derby?«, sagte sie. »Miss Derby, vom Ponsonby Trust?«
Ich nickte. »Ja. Ich – ich bin Ihnen einmal begegnet; es ist lange her. Ich war eben in Bethnal Green, habe dort jemanden besucht und dachte, ich schaue mal bei Ihnen herein. Ich habe Ihnen ein bisschen Wasserkresse mitgebracht …« Diese Wasserkresse betrachteten wir jetzt beide. Sie lag auf einem Tisch neben der Tür und sah traurig aus, denn als ich ohnmächtig wurde, war ich darauf gefallen. Die Blätter waren zerquetscht und schwarz, die Stängel gebrochen, das Papier feucht und grün.
Florence sagte: »Das war nett von Ihnen.« Ich lächelte nervös. Einen Augenblick schwiegen wir – dann strampelte das Baby und schrie, und sie hob es auf und drückte es an ihre Brust. »Soll Mama dich halten, ja?« Der Mann erschien mit einer Tasse Tee und einem Teller Butterbrote; beides stellte er lächelnd auf die Armlehne meines Sessels. Florence legte das Kinn auf den Kopf des Babys. »Ralph«, sagte sie, »diese Dame ist eine Freundin von Miss Derby – erinnerst du dich, Miss Derby, für die ich früher gearbeitet habe?«
»Meine Güte«, sagte der Mann – Ralph. Er war immer noch in Hemdsärmeln; jetzt nahm er sein Jackett von einer Stuhllehne und zog es an. Ich aß und trank. Der Tee war sehr heiß und süß; der beste Tee, den ich je getrunken hatte, fand ich. Das Baby schrie wieder, und Florence wiegte es auf den Knien und strich ihm mit der Wange über den Kopf. Bald ging das Schreien in ein zufriedenes Gurgeln über und dann in einen tiefen Seufzer. Da seufzte ich auch, aber ich tat, als pustete ich in meinen Tee, damit sie nicht dachten, ich würde wieder anfangen zu weinen.
Wieder war es still. Dann sagte Florence: »Ich fürchte, ich habe Ihren Namen vergessen.« Sie erklärte Ralph: »Wie es scheint, sind wir uns einmal begegnet.«
Ich räusperte mich. »Miss Astley«, sagte ich. »Miss Nancy Astley.« Florence nickte; Ralph nahm meine Hand und schüttelte sie herzlich.
»Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Miss Astley«, sagte er. Dann deutete er auf meine Wange. »Ein schlimmes Auge haben Sie da.«
Ich sagte: »Ja, ziemlich schlimm.«
Er sah mich freundlich an. »Vielleicht sind Sie von dem Schlag ohnmächtig geworden. Wir sind sehr erschrocken.«
»Das tut mir leid. Ich glaube, Sie haben recht, es muss der Schlag gewesen sein. Ein – ein Mann hat mich mit einer Leiter erwischt.«
»Mit einer Leiter?!«
»Ja, er – er ist an einer Ecke scharf abgebogen und hat mich nicht gesehen und da …«
»Also nein!«, sagte Ralph. »Man sollte doch nicht glauben, dass solche Dinge wirklich passieren, außer in einem Lustspiel im Theater.«
Ich lächelte matt, schlug die Augen nieder und machte mich über die Butterbrote her. Florence betrachtete mich, wie ich fand, sehr eindringlich.
Dann nieste das Baby, und als Florence seine Nase mit einem Taschentuch säuberte, sagte ich halbherzig: »Was für ein reizendes Kind!« Sofort sahen seine Eltern es an, und beide zeigten das gleiche alberne Lächeln der Freude und Rührung. Florence hob es ein wenig von sich weg, das Licht der Lampe fiel darauf, und ich sah zu meiner Überraschung, dass es wirklich ein sehr hübsches Kind war – gar nicht wie seine Mutter, sondern mit feinen Zügen, sehr dunklen Haaren und einem niedlichen rosa Mündchen.
Ralph beugte sich hinüber und streichelte dem Baby über den Kopf. Es war ein Junge, denn er sagte: »Er ist ein Goldschatz, aber heute Abend ist er schläfriger, als er sein sollte. Tagsüber lassen wir ihn bei einem Mädchen gegenüber, und wir sind sicher, dass sie ihm Laudanum in die Milch tut, damit er nicht schreit.« Schnell fügte er hinzu: »Nicht dass ich ihr deswegen Vorwürfe mache. Sie muss jeden Tag so viele Kinder bei sich hüten, damit sie ein bisschen Geld verdient, und wenn die alle schreien, ist das ein fürchterlicher Lärm. Trotzdem wünschte ich, sie würde das lassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es gesund ist.« Wir sprachen kurz über die Opiumlösung, die als Schmerz- und Beruhigungsmittel gehandelt wurde, bewunderten das Baby noch ein wenig, und dann schwiegen wir wieder.
»Und Sie sind also«, fragte Ralph hartnäckig weiter, »eine Freundin von Mrs. Derby?«
Ich sah schnell zu Florence hinüber. Sie wiegte den Kleinen auf den Knien, sah aber immer noch sehr nachdenklich aus. Ich sagte: »Ja, das bin ich.«
»Und wie geht es Miss Derby?«
»Ach, na ja, Sie kennen sie ja.«
»Wie immer also?«
»Wie immer«, sagte ich, »genau wie immer.«
»Arbeitet immer noch für Ponsonby?«
»Immer noch. Immer noch gute Werke. Spielt immer noch ihre Mandoline.« Ich hob die Hände und imitierte halbherzig ein paar Griffe, aber da hörte Florence auf, das Kind zu wiegen, und ich merkte, wie ihr Blick hart wurde. Ich blickte schnell wieder zu Ralph. Er lächelte bei meinen Worten.
»Miss Derbys Mandoline«, sagte er, als ob ihn die Erinnerung erheiterte.
»Wie viele heimatlose Familien hat sie damit aufgeheitert! Ich hatte das ganz vergessen …«
»Ich auch«, sagte Florence und klang gar nicht ironisch. Ich kaute schnell und heftig an einer Brotkruste. Ralph lächelte wieder und sagte dann sehr freundlich: »Und wo sind Sie Flo begegnet?«
Ich schluckte. »Nun …«, sagte ich.
»Ich glaube«, sagte Florence jetzt, »ich glaube, es war in der Green Street, nicht wahr, Miss Astley? In der Green Street, gleich neben Gray’s Inn Road?« Ich stellte meinen Teller weg und sah sie an. Eine Sekunde lang war ich glücklich, weil sie das Mädchen doch nicht ganz vergessen zu haben schien, das sie an jenem warmen Junitag vor so langer Zeit so frech gemustert hatte; dann sah ich, wie hart ihr Gesichtsausdruck war und erschauerte.
»Ach je«, sagte ich, schloss die Augen und legte die Hand an die Stirn. »Ich glaube, es geht mir doch noch nicht so gut.« Ich merkte, dass Ralph einen Schritt auf mich zuging, dann aber innehielt; Florence musste ihm einen Wink gegeben haben.
»Ich glaube, Cyril kann jetzt ins Bett gebracht werden, Ralph«, sagte sie leise. Ich hörte, wie sich eine Tür öffnete und schloss, dann Schritte auf der Treppe und schließlich das Knarren der Dielen im Zimmer über uns. Florence ließ sich in den zweiten Sessel sinken und seufzte.
»Würde es Ihren Zustand sehr verschlimmern, Miss Astley, wenn Sie mir jetzt sagten, warum Sie hier sind?« Ich sah sie an, konnte aber nicht sprechen. »Ich kann mir nicht denken, dass Miss Derby Ihnen wirklich geraten hat, zu mir zu gehen.«
»Nein«, sagte ich. »Ich habe Miss Derby auch nur das eine Mal gesehen, in der Green Street.«
»Wer hat Ihnen dann gesagt, wo ich wohne?«
»Eine andere Dame im Büro von Ponsonby«, antwortete ich. »Gesagt hat sie es mir eigentlich nicht, aber sie hatte einen Brief von Ihnen auf dem Schreibtisch, und da habe ich Ihre Adresse gesehen.«
»Gesehen.«
»Ja.«
»Und da dachten Sie, Sie könnten mich doch einmal besuchen …«
Ich biss mir auf die Unterlippe. »Ich bin in einer schlimmen Lage«, sagte ich. »Ich habe mich an Sie erinnert …« Beinahe hätte ich hinzugefügt: … und damals waren Sie viel freundlicher als jetzt. »Die Dame im Büro sagte mir, dass Sie jetzt für heimatlose Mädchen arbeiten …«
»Das tue ich. Aber nicht hier. Hier wohne ich.«
»Aber ich bin jetzt vollkommen heimatlos.« Meine Stimme zitterte. »Heimatloser als Sie sich vorstellen können.«
»Sie haben sich in der Tat sehr verändert«, sagte sie, »seit ich Sie zuletzt gesehen habe.« Ich schaute an mir herunter, auf mein zerknittertes Kleid und die schrecklichen Stiefel. Dann sah ich sie an. Auch sie, bemerkte ich jetzt erst, war sehr verändert. Sie kam mir älter und dünner vor, und die Magerkeit stand ihr nicht. Ihr Haar, das ich so lockig in Erinnerung hatte, war jetzt im Genick zu einem festen Knoten zusammengezurrt, und ihr Kleid war sehr einfach und dunkel. Alles in allem sah sie ebenso nüchtern aus wie Mrs. Hooper vom Felicity Place.
Ich atmete tief ein, damit meine Stimme ruhiger klang. »Ich kann nirgendwo hin. Ich habe kein Geld, keine Wohnung …«
»Das tut mir leid für Sie, Miss Astley«, sagte sie verlegen. »Aber Bethnal Green platzt aus allen Nähten von Mädchen, denen es schlecht geht. Wenn ich die alle aufnehmen wollte, brauchte ich ein Schloss! Außerdem weiß ich überhaupt nichts über Sie.«
»Bitte«, sagte ich. »Wenigstens für eine Nacht. Wenn Sie wüssten, an wie vielen Türen man mich heute schon abgewiesen hat. Ich glaube, wenn Sie mich wieder auf die Straße schicken, laufe ich einfach weiter, bis ich an einen Fluss oder Kanal komme, und dann ersäufe ich mich.«
Sie runzelte die Stirn, hielt sich einen Finger an den Mund und kaute am Nagel; ich bemerkte, dass alle ihre Fingernägel sehr kurz und abgekaut waren.
»Was genau ist Ihnen denn passiert?«, fragte sie schließlich. »Mr. Banner meinte, Sie kommen vielleicht aus – nun ja – aus dem Gefängnis.«
Ich schüttelte den Kopf und sagte dann müde: »Die Wahrheit ist, ich habe mit jemandem zusammengelebt, und dort hat man mich rausgeworfen. Man hat meine Sachen behalten – oh, ich hatte so schöne Sachen! –, und man hat mich so elend und arm und wirr gemacht …« Meine Stimme versagte. Florence beobachtete mich einen Augenblick schweigend. Dann sagte sie, ziemlich vorsichtig, wie mir schien: »Und dieser Mensch war wer …?«
Doch jetzt zögerte ich. Wie würde sie damit umgehen, wenn ich ihr die Wahrheit erzählte? Früher hatte ich fast gedacht, sie wäre auch so eine, die Frauen mochte, aber jetzt – na ja, vielleicht war sie immer schon einfach ein normales Mädchen gewesen, das mich aus reiner Freundschaft zu diesem Vortrag eingeladen hatte. Oder vielleicht hatte sie früher mal Mädchen gemocht und ihnen irgendwann den Rücken gekehrt – wie Kitty! Dieser Gedanke machte mich vorsichtig; wenn ein kesser Vater mit einem blauen Auge bei Kitty auftauchte, konnte ich mir gut vorstellen, welches Willkommen sie ihr bereiten würde. Ich stützte den Kopf in die Hände. »Es war ein Mann«, sagte ich leise. »Ich habe eineinhalb Jahre lang im Haus eines Gentleman in St. John’s Wood gelebt. Er hat mir tausend Versprechungen gemacht, er kaufte mir jede Menge Sachen, und jetzt …« Ich sah sie an. »Sie müssen mich für sehr schlecht halten. Aber er hatte versprochen, dass er mich heiratet!«
Sie sah merkwürdig überrascht aus, aber langsam auch so, als täte ich ihr leid. »Wahrscheinlich war es auch dieser Kerl, der Ihnen das blaue Auge verpasst hat, nicht die Leiter«, sagte sie.
Ich nickte und fasste mir an die Wange, dann ans Haar, weil mir wieder einfiel, wie kurz es war. »Dieser Teufel!«, sagte ich dann. »Er war so unheimlich reich und konnte sich alles erlauben. Er sah mich auf meinem Balkon, als ich Hosen trug – wie Sie auch damals. Er …« Ich errötete. »Er hatte Spaß daran, mich verkleidet zu sehen, als Junge, in einem Matrosenanzug und so …«
»Oh!«, rief sie aus, als hätte sie noch nie etwas so Furchtbares gehört. »Die Reichen sind wirklich die Schlimmsten, bei Gott! Haben Sie denn keine Familie, zu der Sie gehen könnten?«
»Sie – sie haben mich alle verstoßen, wegen dieser Geschichte.«
Darauf schüttelte sie den Kopf; dann wurde sie wieder nachdenklich und warf einen raschen Blick auf meine Taille. »Sie sind – Sie sind doch nicht in Schwierigkeiten, oder?«, fragte sie leise.
»In Schwierigkeiten?« Ich konnte nicht widerstehen: Es war, als hielte sie mir ein Buch mit dem Text eines Bühnendialogs hin, den ich bloß abzulesen brauchte. »Ich war in Schwierigkeiten«, sagte ich mit niedergeschlagenen Augen, »aber der Mann hat auch das erledigt, als er mich geschlagen hat. Ich glaube, deswegen war ich vorhin auch so schwach …« Daraufhin erschien ein seltsamer und liebevoller Zug auf ihrem Gesicht, und sie nickte. Ich sah, dass ich sie überzeugt hatte.
»Wenn Sie wirklich nirgendwo hinkönnen, wird es ja wohl nicht schaden, wenn Sie eine Nacht – nur eine Nacht – hier bei uns bleiben. Und morgen gebe ich Ihnen die Adressen von ein paar Einrichtungen, wo Sie eine Schlafstelle finden können.«
»Oh!« Ich hätte vor lauter Erleichterung gleich wieder in Ohnmacht fallen mögen. »Und Mr. Banner wird nichts dagegen haben?« Mr. Banner hatte, wie sich herausstellte, ganz und gar nichts dagegen, dass ich blieb; er war sogar weiterhin zuvorkommender als seine Frau und zu jeder Mühe bereit, um es mir behaglich zu machen. Als sie aßen – denn ich hatte sie unterbrochen, als sie gerade ihr Abendbrot einnehmen wollten –, war er es, der mir einen Teller hinstellte und ihn mit Eintopf füllte. Er brachte mir ein Umhängetuch, als ich fröstelte, und als er mich nach einem Besuch auf dem stillen Örtchen wieder ins Zimmer hinken sah, zwang er mich, meine Stiefel auszuziehen und brachte eine Schüssel mit Salzwasser, damit ich meine aufgescheuerten Füße baden konnte. Und schließlich – das war das herrlichste von allem – nahm er eine Büchse Tabak aus einem Bücherregal, rollte zwei schöne Zigaretten und bot mir eine davon an.
Florence saß derweil den ganzen Abend abseits von uns am Esstisch und arbeitete sich durch einen Stapel Papier – wahrscheinlich Listen von heimatlosen Mädchen, dachte ich gerührt; vielleicht Abrechnungen von Freemantle House. Als wir unsere Zigaretten anzündeten, blickte sie auf und rümpfte die Nase, beschwerte sich aber nicht. Von Zeit zu Zeit seufzte sie oder gähnte, rieb sich den Nacken, als wenn er schmerzte, und dann sagte ihr Mann etwas Aufmunterndes oder Liebevolles zu ihr. Einmal schrie das Baby; sie neigte den Kopf und horchte, rührte sich aber nicht, und es war Ralph, der ohne jedes Murren aufstand und nach ihm sehen ging. Sie arbeitete einfach weiter, schrieb, las, verglich Seiten, adressierte Umschläge … Sie arbeitete, bis Ralph gähnte, schließlich aufstand, sich streckte, sie auf die Wange küsste und uns beiden höflich eine gute Nacht wünschte. Sie arbeitete, bis auch ich gähnte und anfing zu dösen. Endlich, gegen elf Uhr, packte sie ihre Papiere zusammen und strich sich übers Gesicht. Als sie mich sah, fuhr sie zusammen. Sie hatte mich über ihrer Arbeit vollkommen vergessen.
Jetzt fiel ihr alles wieder ein; zunächst errötete sie, dann runzelte sie die Stirn.
»Ich sollte jetzt wohl besser nach oben gehen, Miss Astley«, sagte sie. »Es macht Ihnen doch nichts aus, hier zu schlafen, hoffe ich? Leider können wir Sie nirgendwo anders unterbringen.« Ich lächelte. Es machte mir nichts aus – obwohl ich dachte, dass es oben doch sehr wohl noch ein freies Zimmer geben musste und mich insgeheim wunderte, warum sie mich nicht darin schlafen ließ. Sie half mir, die beiden Sessel zusammenzuschieben, dann ging sie und holte ein Kissen, Decken und ein Laken.
»Haben Sie alles, was Sie brauchen?«, fragte sie dann. »Der Abtritt ist draußen auf dem Hof, wie Sie wissen. In der Speisekammer steht ein Krug mit sauberem Wasser, falls Sie Durst bekommen. Ralph wird gegen sechs Uhr aufstehen und ich um sieben – oder auch früher, falls Cyril mich weckt. Sie müssen natürlich um acht Uhr gehen, wenn ich das Haus verlasse.« Ich nickte schnell. Ich wollte nicht an den Morgen denken – noch nicht.
Ein verlegenes Schweigen trat ein. Sie sah so müde aus, dass ich den albernen Drang verspürte, sie auf die Wange zu küssen wie Ralph. Das tat ich natürlich nicht, aber als sie mir zunickte und nach oben gehen wollte, trat ich einen Schritt näher. »Ich bin Ihnen dankbarer, als ich sagen kann, Mrs. Banner. Sie sind sehr freundlich zu mir gewesen – Sie, obwohl Sie mich kaum kennen, und besonders Ihr Mann, der mich doch überhaupt nicht kennt.«
Als ich das sagte, drehte sie sich um und sah mich erstaunt an. Dann legte sie die Hand auf eine Stuhllehne und lächelte ein merkwürdiges Lächeln.
»Haben Sie geglaubt, er wäre mein Ehemann?«, fragte sie. Ich zögerte verwirrt.
»Nun ja, ich …«
»Er ist nicht mein Mann, er ist mein Bruder.« Ihr Bruder! Sie lächelte immer noch über meine Verwirrung, und dann lachte sie, und einen Augenblick lang war sie wieder das kecke Mädchen, mit dem ich vor so vielen Monaten in der Green Street gesprochen hatte …
Doch dann schrie das Baby im Zimmer über uns, wir blickten beide nach oben, und ich merkte, wie ich rot wurde. Und als sie das sah, verblasste ihr Lächeln. »Cyril ist nicht mein Kind«, sagte sie schnell, »obwohl ich ihn so nenne. Seine Mutter hat bei uns gewohnt, und wir haben ihn bei uns behalten, als sie – uns verließ. Wir lieben ihn sehr …«
Die Befangenheit, mit der sie das sagte, zeigte mir, dass hinter all dem eine Geschichte steckte – vielleicht war die Mutter im Gefängnis; vielleicht war das Baby von einer Cousine oder Schwester, oder von einer Liebsten von Ralph. Solche Dinge passierten bei den Familien in Whitstable oft genug, und ich dachte mir nicht viel dabei. Ich nickte nur und gähnte dann, und als sie das sah, gähnte sie auch.
»Gute Nacht, Miss Astley«, sagte sie hinter vorgehaltener Hand. Jetzt sah sie nicht mehr aus wie das Mädchen in der Green Street. Sie sah nur noch müde aus und sehr unscheinbar.
Ich wartete, während sie nach oben ging – hörte, wie sie über mir umherging und erriet natürlich, dass sie das Zimmer mit dem Baby teilte. Dann nahm ich die Lampe und machte mich auf den Weg zum Abtritt. Der Hinterhof war sehr klein und vorne und hinten von Wänden und dunklen Fenstern begrenzt. Ich stand zögernd auf den eisigen Pflastersteinen, schaute in die Sterne und sog die fremden, schwach nach Fluss und schwach nach Kohl riechenden Gerüche des Ostens von London ein. Ein Rascheln im benachbarten Hof ließ mich zusammenzucken, weil ich Angst hatte, es könnten Ratten sein. Es waren aber keine Ratten, sondern Kaninchen, vier Stück, in einem Verschlag, und ihre Augen glühten im Schein meiner Lampe wie Juwelen.
Ich schlief im Unterrock, halb sitzend und halb liegend auf den beiden Sesseln, in die Decken gewickelt und obendrauf mein Kleid, wegen der zusätzlichen Wärme. Das klingt nicht sehr bequem, aber es war in Wirklichkeit außerordentlich gemütlich, und bei allem, was mich krank machte und bekümmerte, konnte ich doch nur gähnen und lächeln, weil das Kissen in meinem Rücken so weich war und das heruntergebrannte Feuer neben mir immer noch warm. In der Nacht wachte ich zweimal auf – einmal von einem Geschrei auf der Straße und Türenknallen und dem Scharren des Schüreisens im Kamin des Hauses nebenan und einmal vom Schreien des Babys in Florences Zimmer. Dieses Geräusch ließ mich erschauern, denn es rief mir all die furchtbaren Nächte ins Gedächtnis, die ich unter Mrs. Bests Dach verbracht hatte, in jenem grauen Zimmer, dessen Fenster auf den Fleischmarkt von Smithfield hinaussah. Das Schreien hielt jedoch nicht lange an. Ich hörte, wie Florence aufstand, über die Dielenbretter ging und dann vermutlich Cyril mit in ihr Bett nahm. Danach rührte er sich nicht mehr und ich auch nicht.
Am nächsten Morgen erwachte ich vom Zuschlagen der Hintertür; das war vermutlich Ralph, der zur Arbeit ging, denn die Uhr zeigte zehn vor sieben. Bald danach hörte ich über mir, wie Florence aufstand und sich anzog, und draußen auf der Straße war viel Betrieb – der Lärm kam mir ungeheuer nah vor, weil ich gewöhnt war, in Dianas ruhiger Villa ungestört von Frühaufstehern zu schlafen.
Ich lag ganz still, und das Wohlgefühl der Nacht versickerte. Ich wollte nicht aufstehen, mich dem Tag stellen, meine scheuernden Stiefel wieder anziehen, Florence Lebewohl sagen und wieder ein heimatloses Mädchen sein. Über Nacht war das Wohnzimmer sehr kalt geworden, und mein kleines provisorisches Bett war der einzige warme Platz darin. Ich zog mir die Decken über den Kopf und stöhnte. Das Stöhnen war, wie ich merkte, sehr befriedigend, also stöhnte ich noch lauter und hörte erst auf, als ich vernahm, wie die Wohnzimmertür knarrte. Da nahm ich die Decken vom Kopf und sah, dass Florence mich durch das Halbdunkel des Zimmers ernst betrachtete.
»Sind Sie wieder krank?«, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab nur – gestöhnt.«
»Oh.« Sie wandte den Blick ab. »Ralph hat Tee gekocht. Soll ich Ihnen welchen holen?«
»Ja, bitte.«
»Und dann müssen Sie aufstehen, fürchte ich.«
»Ja, natürlich«, sagte ich. »Ich stehe sofort auf.« Aber als sie hinausging, merkte ich, dass ich überhaupt nicht aufstehen konnte. Ich konnte überhaupt nichts tun – nur liegen … Florence brachte mir meinen Tee; ich trank ihn und legte mich wieder zurück. Ich hörte sie in der Küche; sie wusch das Baby und zog es an; dann kam sie wieder herein und zog die Vorhänge auf – ein Wink mit dem Zaunpfahl.
»Es ist Viertel vor acht, Miss Astley«, sagte sie. »Ich muss Cyril hinüberbringen. Sie werden doch aufgestanden und angezogen sein, wenn ich wiederkomme? Kann ich mich darauf verlassen?«
»O ja, natürlich«, sagte ich; doch als sie zurückkam, hatte ich mich nicht gerührt. Sie sah mich an und schüttelte den Kopf. Ich sah sie an.
»Sie wissen doch, dass Sie hier nicht bleiben können. Ich muss zur Arbeit gehen, und zwar jetzt. Wenn Sie mich noch länger aufhalten, komme ich zu spät.« Damit ergriff sie das untere Ende der Decke, aber ich hielt das obere fest.
»Ich kann nicht«, sagte ich. »Ich bin wohl doch krank.«
»Wenn Sie krank sind, müssen Sie irgendwo hingehen, wo man Sie behandeln kann.«
»So krank bin ich nicht!«, rief ich da. »Aber wenn ich nur noch ein bisschen liegenbleiben dürfte, damit ich wieder zu Kräften komme … Gehen Sie einfach zur Arbeit; ich finde selbst hinaus und bin längst weg, ehe Sie heimkommen. Sie können mir vertrauen, wissen Sie; ich stehle nichts.«
»Es ist wenig genug da zum Stehlen!«, rief sie. Dann warf sie ihr Ende der Decke auf mich und hielt sich die Stirn. »Oh«, sagte sie, »wie weh mein Kopf tut!« Ich sah sie an und sagte nichts. Schließlich schien sie sich zur Ruhe zu zwingen, und ihre Stimme wurde kalt. »Vermutlich müssen Sie es so machen, wie Sie gesagt haben und selbst hinausfinden.« Sie nahm ihren Mantel vom Haken an der Tür und zog ihn an. Dann griff sie nach ihrer Umhängetasche und zog ein Stück Papier und eine Münze heraus. »Ich habe Ihnen eine Liste von Herbergen und Häusern gemacht, wo Sie versuchen können, einen Schlafplatz zu finden. Das Geld« – es war eine halbe Krone, zwei Shilling und Sixpence! – »ist von meinem Bruder. Er hat mich gebeten, Ihnen auf Wiedersehen zu sagen und Ihnen Glück zu wünschen.«
»Er ist ein sehr freundlicher Mensch«, sagte ich.
Sie zuckte die Achseln, knöpfte dann ihren Mantel zu, setzte den Hut auf und steckte ihn mit einer langen Nadel fest. Der Mantel und der Hut waren schlammfarben. Sie sagte: »In der Küche ist ein Stück gebratener Speck, noch heiß. Den können Sie zum Frühstück essen. Und dann – oh, dann müssen Sie wirklich gehen.«
»Ich verspreche es!«
Sie nickte und öffnete die Tür. Von der Straße kam ein Schwall eisiger Luft herein, und ich schauderte. Florence schauderte auch. Der Wind klappte die Krempe ihres Hutes hoch; ihre braunen Augen wurden schmal, und sie biss die Zähne zusammen.
Ich sagte: »Miss Banner! Ich – ich darf doch irgendwann einmal wiederkommen? Ich würde – ich würde gern Ihren Bruder sehen und ihm danken.« Ich würde Sie gern wiedersehen, meinte ich eigentlich. Ich war gekommen, um in ihr eine Freundin zu finden. Aber ich wusste nicht, wie ich ihr das sagen sollte.
Sie hielt den Mantelkragen zusammen und blinzelte in den Wind.
»Tun Sie, was Ihnen beliebt«, sagte sie. Dann zog sie die Tür ins Schloss, ließ das ausgekühlte Wohnzimmer hinter sich, und ich sah ihren Schatten hinter der Gardine, als sie wegging.
Nachdem sie fort war, schienen meine bleiernen Glieder wie durch ein Wunder sofort leicht zu werden. Ich stand auf und benutzte mutig den eisigen Abtritt. In der Küche fand ich die Scheibe Speck, die sie für mich beiseite gelegt hatten, nahm ein Stück Brot und ein bisschen von der zerdrückten Kresse, aß mein Frühstück am Küchenfenster stehend und betrachtete blicklos die unbekannte Aussicht.
Danach rieb ich mir die Hände, schaute mich um und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Wenigstens die Küche war warm, denn jemand – vermutlich Ralph – hatte in der Frühe ein kleines Feuer im Herd gemacht, und die Kohlen waren erst zur Hälfte verbrannt. Ich fand, es wäre eine Schande, die schöne Hitze zu verschwenden, und es konnte nicht schaden, ein bisschen Wasser heißzumachen und mich zu waschen.
Ich öffnete eine Schranktür und fand ein Plätteisen, und als ich es sah, dachte ich: Sie haben bestimmt nichts dagegen, wenn ich das auch heißmache und mein Kleid ein wenig aufbügele …
Während ich darauf wartete, dass beides heiß wurde, schlenderte ich wieder ins Wohnzimmer zurück, um die Sessel auseinanderzurücken, die mein Bett gewesen waren, und um die Decken ordentlich zu falten und zu stapeln. Als ich damit fertig war, tat ich das, was mir am Vorabend nicht gelungen war, weil ich erst zu verwirrt und danach zu schläfrig gewesen war: Ich stand da und sah mich gründlich um.
Das Zimmer war, wie gesagt, sehr klein – mit Sicherheit viel kleiner als mein Schlafzimmer am Felicity Place. Gaslampen gab es nicht, nur Öllampen und Kerzenleuchter. Die Möbel und die Einrichtung bildeten, wie ich fand, eine sonderbare Mischung. Die Wände waren nicht tapeziert, sondern in einem fleckigen Blau gestrichen, wie eine Werkstatt; daran hingen nur zwei Kalender – von diesem und vom letzten Jahr – und zwei oder drei langweilige Drucke. Auf dem Boden lagen zwei Teppiche, der eine alt und abgenutzt, der andere neu, bunt, grob und ziemlich rustikal; die Art Teppich, wie sie vielleicht ein an einer Augenkrankheit leidender Schafhirte auf einer Hebrideninsel weben mochte, um sich die endlosen düsteren Stunden des dortigen Winters zu vertreiben. Um das Kaminsims war ein flatterndes Stück Stoff drapiert, genau wie bei meiner Mutter, und darauf stand die Art Nippes, die ich als Kind in allen Häusern meiner Freundinnen und Verwandten gesehen hatte: eine staubige Schäferin aus Porzellan, der Hirtenstab abgebrochen und unfachmännisch wieder angeklebt, ein Stück Koralle unter einem mit Ruß befleckten Glassturz, eine glänzende Kutschenuhr. Daneben fanden sich jedoch auch Dinge, die ich nicht erwartet hatte: eine verknickte Postkarte mit Arbeitern drauf, darunter die Worte: Hafenarbeiter – Sixpence mehr oder Streik!, ein orientalischer Götze, ziemlich schmutzig, ein Farbdruck von Mann und Frau in Arbeitskleidung, die ein sich blähendes Transparent hochhielten, auf dem stand: Gemeinsam sind wir stark!
Diese Sachen interessierten mich nicht besonders. Ich schaute in die Nische neben dem Kamin, wo ein selbstgezimmertes Regal stand, das fast überquoll von Büchern und Zeitschriften. Diese Sammlung war ebenfalls sehr gemischt und sehr staubig. Es gab ziemlich gute Ein-Shilling-Klassiker – Longfellow, Dickens und so weiter – und ein paar billige Romane, aber auch eine ganze Anzahl politischer Bücher und zwei oder drei Bände von dem, was man wohl interessante Gedichte nennt. Mindestens einen Band davon hatte ich zuvor schon bei Diana gesehen: Walt Whitmans Grashalme. Am Felicity Place hatte ich in einer meiner vielen müßigen Stunden versucht, die Gedichte zu lesen, aber ich fand sie schrecklich langweilig.
Dieses Regal und sein Inhalt beschäftigten mich nicht lange, aber danach fesselten mich zwei Photographien, die darüber hingen. Das erste war ein Familienporträt, so steif und sonderbar und Neugier erweckend, wie es fremde Familienbilder immer sind. Erst suchte ich Florence und fand sie – vielleicht fünfzehn Jahre alt, zwischen einer weißhaarigen Dame und einem jüngeren dunkelhaarigen Mädchen sitzend, das die beginnenden Züge einer gewissen Bardamenschönheit aufwies; wahrscheinlich die jüngere Schwester. Dahinter standen drei Jungen: Ralph, noch ohne den Matrosenschnurrbart und mit einem sehr hohen Kragen, ein etwas älterer Bruder, der ihm sehr ähnlich sah und dann ein noch älterer. Einen Vater gab es nicht.
Das zweite Porträt war eine Postkartenphotographie; es war in den Rahmen des großen Bildes gesteckt, doch die eine Ecke bog sich um und zeigte eine Zeile einer verblassten Handschrift. Das Bild zeigte eine Frau – eine Frau mit dichten Augenbrauen und wirrem dunklem Haar; sie saß sehr stattlich da, und ihr Blick war tief und ernst. Ich dachte, sie wäre vielleicht die erwachsen gewordene Schwester aus dem Familienbild, oder eine Freundin von Florence, oder eine Verwandte. Ich beugte mich weiter vor und versuchte die Schrift auf der umgebogenen Ecke zu lesen, aber ich konnte nichts erkennen, und ich wollte die Postkarte nicht aus dem Rahmen zupfen – so interessant schien mir die Sache nun wieder nicht.
Dann hörte ich das Wasser auf dem Herd kochen und eilte in die Küche. Ich fand eine kleine Zinnschüssel und einen Würfel grüne Seife und wusch mich. Danach tanzte ich, weil ich kein Handtuch fand und mich scheute, das Küchentuch zu benutzen, so lange vor dem Küchenherd auf und ab, bis ich trocken genug war, um wieder in meine schmutzigen Unterröcke zu steigen. Ich dachte seufzend an Dianas schönes Badezimmer – an jenes Schränkchen voller Wässerchen und Salben, die ich stundenlang durchprobiert hatte. Trotzdem war es herrlich, wieder sauber zu sein, und als ich mir das Haar gekämmt und mein Gesicht behandelt hatte (ich rieb ein bisschen Essig in die Wunde und darüber etwas Mehl), als ich den Schmutz aus meinem Rocksaum geklopft, das Kleid gebügelt und angezogen hatte, fühlte ich mich wieder stark und warm und war ganz unsinnig fröhlich. Ich ging zurück ins Wohnzimmer – ein Weg von nur zehn Schritten –, stand da einen Moment und ging wieder in die Küche. Das Haus war, wie ich fand, sehr gemütlich; jedoch war mir schon aufgefallen, dass es nicht sehr sauber war. Die Teppiche hatten das Ausklopfen dringend nötig. Die Fußleisten waren abgestoßen und voller Schmutzstreifen. Jedes Brett, jedes Bild war so staubig wie das rußige Kaminsims. Wenn das mein Haus wäre, dachte ich, würde ich es blitzsauber halten. Und dann hatte ich eine wunderbare Idee.
Ich rannte wieder ins Wohnzimmer und sah auf die Uhr. Seit Florences Weggang war noch keine Stunde vergangen, und weder sie noch Ralph würden vor fünf Uhr zurück sein. Also hatte ich acht Stunden – vielleicht etwas weniger, wenn ich noch vor der Dunkelheit ein Zimmer in einer Herberge finden wollte. Wie viel konnte ich in acht Stunden putzen? Ich hatte keine Ahnung. Zu Hause hatte Alice das mit Mutter gemacht; ich hatte in meinem Leben fast noch nie geputzt, und zuletzt hatte ich ja Dienstboten gehabt, die für mich arbeiteten. Doch ich war begeistert von der Idee, dieses Haus ordentlich herzurichten, in dem ich, wenn auch nur kurz, so geborgen gewesen war. Es würde eine Art Abschiedsgeschenk für Florence und Ralph sein. Ich wäre wie ein Mädchen in einem Märchen, das das Häuschen der Zwerge ausfegt oder die Höhle des Räubers, während die Zwerge oder der Räuber bei der Arbeit sind.
Ich glaube, ich strengte mich an diesem Tag mehr an als je zuvor, und ich habe mich seitdem, wenn ich an den Eifer jener Stunden zurückdachte, oft gefragt, ob ich damals nicht in Wahrheit meine befleckte Seele reinwaschen wollte.
Zunächst machte ich ein größeres Feuer im Herd und erhitzte viel Wasser. Dann merkte ich, dass ich alles Wasser aufgebraucht hatte und musste mit zwei großen Eimern die Quilter Street hinaufhinken, bis ich zu einer öffentlichen Wasserstelle kam. Als ich sie fand, standen viele Frauen davor Schlange, und ich musste eine halbe Stunde warten, bis ich drankam; der Hahn tröpfelte fast nur; manchmal fauchte er auch und gurgelte und es kam gar nichts mehr. Die Frauen betrachteten mich von oben bis unten, studierten aber besonders mein Auge und meinen Kopf, denn ich hatte als Ersatz für meinen noch feuchten Hut eine Kappe von Ralph aufgesetzt, und sie sahen, dass das Haar darunter kurzgeschoren war. Aber sie waren gar nicht unfreundlich. Einige, die mich aus dem Haus hatten kommen sehen, fragten mich, ob ich jetzt bei den Banners wohnte, und ich sagte, ich wäre nur vorübergehend da. Mit dieser Antwort gaben sie sich völlig zufrieden, als wären die Leute in dieser Gegend meist nur vorübergehend da.
Als ich mit dem Wasser nach Hause gewankt war, setzte ich es auf den Herd und hüllte mich in eine große, lange nicht gewaschene Schürze, die ich an der Speisekammertür fand. Ich fing im Wohnzimmer an. Zuerst wischte ich all die staubigen, rußigen Sachen mit einem feuchten Tuch ab, dann putzte ich das Fenster und dann die Fußleisten. Die Teppiche trug ich in den Hinterhof, hängte sie über die Wäscheleine und klopfte sie, bis mir der Arm weh tat. Da öffnete sich die Hintertür, und eine Frau, wie ich mit aufgekrempelten Ärmeln und geröteten Wangen, erschien auf der Schwelle. Als sie mich sah, nickte sie, und ich nickte zurück.
»Da haben Sie sich ja eine schöne Arbeit ausgesucht«, sagte sie, »wenn Sie das Haus von den Banners saubermachen wollen.«
Ich lächelte, dankbar für die Pause, und wischte mir den Schweiß von der Stirn und der Oberlippe. »Sind sie bekannt dafür, dass es bei ihnen schmutzig ist?«
»Ja, schon«, erwiderte sie, »wenigstens hier in der Straße. Sie machen zu viel in den Häusern von anderen Leuten und nicht genug in ihrem eigenen. Das ist das Problem.« Sie sagte das jedoch sehr freundlich; offenbar meinte sie nicht, dass Ralph und Florence übereifrige Wichtigtuer wären. Ich rieb mir die schmerzende Schulter. »Sie sind wohl die neue Mieterin?«, fragte sie mich dann. Ich schüttelte den Kopf und wiederholte, was ich den anderen Nachbarinnen erzählt hatte – dass ich nur vorübergehend hier wohnte. Das schien ihr ebenso wenig Eindruck zu machen wie den anderen. Sie sah mir noch einen Moment zu, während ich wieder die Teppiche klopfte, dann ging sie ohne ein weiteres Wort zurück ins Haus.
Als die Teppiche fertig waren, fegte ich den Kamin im Wohnzimmer; in der Speisekammer fand ich ein Stück Graphit und machte mich daran, das Kamingitter und den Rost damit zu bearbeiten. Ich hatte das zu Hause nie gemacht, aber ich hatte Zena hundertmal dabei zugesehen, wenn sie die Gitter in Dianas Haus schwärzte, und das war mir immer sehr leicht vorgekommen. In Wahrheit war es natürlich eine mühselige und schmutzige Arbeit, die mich über eine Stunde kostete, und danach war ich nicht mehr halb so munter wie vorher. Trotzdem ruhte ich mich nicht aus. Ich fegte die Fußböden und schrubbte sie; dann scheuerte ich den Ausguss in der Küche und die Kacheln und den Herd und putzte die Fenster. Nach oben wollte ich nicht gehen, aber das Wohnzimmer, die Küche und sogar den Abtritt und den Hof putzte ich, bis alles glänzte, bis jede Fläche, die blank sein sollte, blank war, bis jede Farbe nicht mehr stumpf und verstaubt war, sondern leuchtete.
Mein Triumph aber war am Schluss die hölzerne Haustreppe: die fegte und putzte ich und bearbeitete sie schließlich mit einem Scheuerstein, bis sie weißer war als jede andere Vordertreppe in der ganzen Straße, und meine Arme, die vorher schwarz vom Graphit gewesen waren, waren jetzt von den Fingernägeln bis zu den Ellenbogen weiß vom Kalk des Scheuersteins. Als ich damit fertig war, das Ergebnis bewunderte und meinen schmerzenden Rücken streckte, war ich zu erhitzt von der Arbeit, um den eisigen Januarwind zu spüren. Dann sah ich aus dem Nebenhaus eine Gestalt heraustreten: ein kleines Mädchen in zerrissenem Kleid und viel zu großen Stiefeln trippelte wie eine Taube auf mich zu, mit einer überschwappenden Henkeltasse Tee in den Händen.
»Mutter sagt, Sie wären ja wohl ziemlich kaputt und alle und ich soll Ihnen das geben«, sagte sie. Dann senkte sie den Kopf. »Aber ich soll bei Ihnen stehenbleiben, bis Sie ausgetrunken haben, damit wir die Tasse auch bestimmt wiederkriegen.«
Der Tee war trüb – sie hatten ein bisschen Magermilch reingetan – und furchtbar süß. Ich trank ihn schnell, während das Mädchen vor Kälte zitterte und mit den Füßen aufstampfte.
»Keine Schule heute?«, fragte ich sie.
»Heute nicht. Heute ist Waschtag, und da braucht Mutter mich daheim, damit ich ihr die Kleinen aus dem Weg halte.« Während sie mit mir sprach, starrte sie unverwandt auf mein kurzgeschorenes Haar. Ihre eigenen Haare waren blond und fielen – ähnlich wie bei mir früher – in einem langen unordentlichen Zopf zwischen ihren mageren Schulterblättern herab.
Es war jetzt halb vier, und als ich wieder in Florences Küche ging, um mir die schmutzigen Hände und Arme zu waschen, merkte ich, dass es im Haus schon recht dunkel war. Ich nahm die Schürze ab und zündete eine Lampe an. Dann gönnte ich mir ein paar Minuten, um zwischen den Räumen hin und her zu schlendern und die Verwandlung zu betrachten, die ich bewirkt hatte. Wie ein Kind dachte ich: »Wie sie sich freuen werden! Wie sie sich freuen werden …« Ich war jedoch bei weitem nicht mehr so fröhlich wie noch sechs Stunden zuvor. Wie der dunkelnde Tag vor dem Wohnzimmerfenster war da auch ein düsteres Wissen, das gegen den Rand meiner Freude drückte – das Wissen, dass ich fortgehen und mir eine Bleibe suchen musste. Ich nahm die Liste zur Hand, die Florence für mich geschrieben hatte. Ihre Handschrift war sehr ordentlich, aber die Tinte hatte ihr die Finger verschmiert, und wo sie ihre müde Hand aufs Papier gelegt hatte, war ein Fleck.
Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, jetzt gleich zu gehen – all diese Herbergen und Pensionen abzuklappern und dann ein Bett zugewiesen zu bekommen wie das, in dem ich mit Zena geschlafen hatte. Ich würde in einer Stunde gehen, denn jetzt dachte ich wieder daran, wie erfreut Ralph und Florence sein würden, in ein aufgeräumtes, sauberes Haus zu kommen – und dann dachte ich mit noch größerem Enthusiasmus: »Aber sie würden sich ja noch viel mehr freuen, wenn sie in das ordentliche Haus kämen und das Abendessen stünde auf dem Herd!« In den Schränken und der Speisekammer war nicht viel zu essen, soweit ich sah, aber ich hatte ja noch die Münze, die sie mir gegeben hatten. Ich dachte nicht mehr daran, dass ich die ja für mich verwenden sollte. Ich nahm die Münze – sie lag noch genau da, wo Florence sie hingelegt hatte, denn ich hatte sie nur hochgehoben, um darunter zu wischen und sie dann wieder hingelegt – und humpelte die Quilter Street hinunter zu den Ständen und Karren an der Hackney Road.
Eine halbe Stunde später war ich wieder zurück. Ich hatte Brot, Fleisch und Gemüse mitgebracht und – einfach nur, weil sie auf dem Karren des Obsthändlers so schön aussah – eine Ananas. Eineinhalb Jahre lang hatte ich nur Kalbskoteletts und kalten Braten, Patés und geeiste Früchte gegessen, aber es gab da ein Gericht, das Mrs. Milne oft gemacht hatte, aus Kartoffelbrei, Kohl, Corned Beef und Zwiebeln – Gracie und mir war immer das Wasser im Mund zusammengelaufen, wenn sie es vor uns auf den Tisch stellte. Ich dachte mir, es wäre bestimmt nicht schwer zuzubereiten und fing an, es jetzt für Ralph und Florence zu kochen.
Ich hatte die Kartoffeln und den Kohl auf den Herd gesetzt und war dabei, die Zwiebeln anzubraten, als es an der Tür klopfte. Ich fuhr zusammen und wurde leicht nervös. Ich fühlte mich so zu Hause, dass ich instinktiv dachte, ich müsste öffnen. Aber ging das wirklich? Gab es nicht einen Punkt, an dem Hilfsbereitschaft, wenn man sie zu weit trieb, in Dreistigkeit ausartete? Ich betrachtete die Pfanne mit den Zwiebeln, meine aufgerollten Ärmel. Hatte ich den Punkt vielleicht bereits überschritten?
Während ich noch überlegte, klopfte es wieder, und diesmal zögerte ich nicht, sondern ging zur Tür und öffnete sie. Draußen stand ein Mädchen – ein ziemlich hübsches Mädchen mit dunklen Haaren, die unter einer Schottenmütze aus Samt hervorschauten.
Als sie mich sah, sagte sie: »Oh! Ist Florrie denn nicht zu Hause?« und betrachtete mit raschem Blick meine Arme, mein Kleid, mein blaues Auge und meine Haare.
Ich sagte: »Miss Banner ist nicht da, nein. Ich bin hier allein.« Ich schnüffelte, und mir war so, als röche ich angebrannte Zwiebeln. »Hören Sie«, fuhr ich fort, »ich brate da gerade was. Macht es Ihnen was aus, wenn Sie …« Ich rannte in die Küche, um mein Essen zu retten. Zu meiner Überraschung hörte ich die Vordertür ins Schloss fallen und sah, dass das Mädchen mir gefolgt war. Als ich mich umdrehte, stellte ich fest, dass sie den Mantel aufknöpfte und sich verwundert umschaute.
»Meine Güte«, sagte sie. Ihre Stimme klang sehr nach Oberschicht und guter Erziehung, aber sie war überhaupt nicht hochnäsig. »Ich habe geklopft, weil ich die Vordertreppe sah und glaubte, Florrie hätte eine Art Anfall gehabt und sie geschrubbt. Jetzt sehe ich, dass sie entweder komplett den Verstand verloren hat oder die guten Feen waren hier.«
Ich sagte: »Ich habe das alles gemacht …«
Sie lachte und zeigte ihre Zähne. »Dann sind Sie, wie ich annehme, wohl die Feenkönigin in Person. Oder vielleicht der Feenkönig? Ich weiß nicht, ob Ihr Haar nicht zu Ihrem Kleid passt oder ob es umgekehrt ist. Sie wissen« – wieder lachte sie –, »was ich meine.«
Ich wusste keineswegs, was sie meinte. Ich sagte nur, ziemlich knapp, dass ich mein Haar gerade wachsen ließe; sie antwortete: »Ah so«, und ihr Lächeln wurde etwas schwächer. Dann sagte sie leicht verwundert: »Und Sie wohnen also jetzt bei Ralph und Florrie?«
»Sie haben mir einen Gefallen getan und mich letzte Nacht im Wohnzimmer schlafen lassen, aber heute muss ich weiter. Haben Sie übrigens die Uhrzeit?« Es war Viertel vor fünf, also viel später, als ich gedacht hatte. »Ich muss wirklich gleich weg.« Ich nahm die Pfanne vom Herd – die Zwiebeln waren brauner geworden, als ich sie haben wollte – und sah mich nach einer Schüssel um.
»Ach«, sagte sie und wedelte mit der Hand, als wollte sie meine Eile verscheuchen, »trinken Sie doch wenigstens eine Tasse Tee mit mir.« Sie stellte Wasser auf, und ich fing an, die Kartoffeln mit einer Gabel zu zerquetschen. Als ich die Speise zusammenrührte, sah sie gar nicht so aus wie bei Mrs. Milne, und als ich sie probierte, schmeckte sie auch bei weitem nicht so gut. Ich stellte die Schüssel beiseite und betrachtete sie finster. Das Mädchen gab mir eine Tasse in die Hand, dann lehnte sie sich ganz gelassen an den Schrank, trank ihren Tee und gähnte.
»Das war vielleicht ein Tag heute!«, sagte sie. »Stinke ich wie eine Ratte? Ich habe nämlich den ganzen Nachmittag in einem Abflussrohr gesteckt.«
»In einem Abflussrohr?«
»In einem Abflussrohr. Ich bin Assistentin bei einem Hygiene-Inspektor. Sie brauchen nicht so ein Gesicht zu ziehen; es war nämlich ein absoluter Triumph, dass ich diesen Posten überhaupt bekommen habe. Die meinen ja immer, Frauen wären für so eine Arbeit zu empfindsam.«
»Ich glaube, ich wäre lieber zu empfindsam«, sagte ich, »als so etwas zu machen.«
»Oh, aber es ist eine ganz wundervolle Arbeit! Dass ich, wie heute, in Sickergruben schauen muss, kommt ja nur manchmal vor. Meistens messe ich Dinge und rede mit den Arbeitern und sehe nach, ob es an ihren Arbeitsplätzen zu heiß oder zu kalt ist, ob sie genug Luft zum Atmen haben, genug Abtritte. Ich habe einen Regierungsauftrag, und wissen Sie, was das bedeutet? Es bedeutet, dass ich fordern kann, dass man mir ein Büro oder eine Werkstatt zeigt, und wenn da etwas nicht in Ordnung ist, kann ich Anweisungen geben, es in Ordnung zu bringen. Ich kann ganze Gebäude schließen lassen, Gebäude verbessern lassen …« Sie fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Die Vorarbeiter hassen mich. Die geldgierigen Fabrikherren von Bow bis Richmond verabscheuen meinen Anblick. Ich würde meine Arbeit um nichts in der Welt gegen eine andere tauschen!« Ich lächelte über ihre Begeisterung. Sie mochte ja eine Hygiene-Inspektorin sein, aber sie hatte, das sah ich genau, auch etwas von einer Schauspielerin. Sie trank einen Schluck Tee. »Also«, sagte sie, »wie lange sind Sie schon mit Florrie befreundet?«
»Na ja, befreundet ist vielleicht nicht das richtige Wort …«
»Sie kennen sie nicht sehr gut?«
»Überhaupt nicht.«
»Das ist schade«, meinte sie und schüttelte den Kopf. »Sie ist in den letzten Monaten gar nicht mehr sie selbst gewesen, gar nicht mehr sie selbst …« Ich glaube, wenn in diesem Augenblick nicht die Haustür aufgegangen wäre, hätte sie weitergeredet. Man hörte Schritte im Wohnzimmer.
»Oh, zum Teufel!«, sagte ich. Ich stellte meine Tasse ab, blickte wild um mich und rannte dann an dem Mädchen vorbei zur Speisekammertür. Ich dachte nicht nach, ich sagte kein Wort zu ihr und sah sie nicht einmal an. Ich schlüpfte einfach in die kleine Kammer, zog die Tür hinter mir zu und legte das Ohr daran.
»Ist da jemand?« Es war die Stimme von Florence. Ich hörte, wie sie vorsichtig in die Küche ging und dann ihre Freundin entdeckte. »Annie, du bist es! Gott sei Dank. Einen Augenblick dachte ich schon – was ist denn los?«
»Ich weiß nicht genau.«
»Warum schaust du so sonderbar? Was ist denn? Und was ist mit der Haustreppe passiert? Und was ist das für Zeug da auf dem Herd?«
»Florrie …«
»Was?«
»Ich glaube, ich sollte es dir sagen; ja, eigentlich glaube ich, ich muss es dir sogar sagen …«
»Was denn? Du machst mir Angst.«
»In deiner Speisekammer ist ein Mädchen.« Danach herrschte Schweigen, und ich überschlug rasch meine Optionen. Es waren, wie ich herausfand, nur wenige, also entschloss ich mich für die nobelste. Ich öffnete langsam die Speisekammertür. Florence sah mich und verzog das Gesicht.
»Ich wollte gerade gehen«, sagte ich. »Ich schwöre es.« Ich sah das Mädchen namens Annie an, und sie nickte.
»Das wollte sie«, sagte sie. »Das wollte sie wirklich.«
Florence sah mich an. Ich trat aus der Speisekammer und schlängelte mich vorsichtig an ihr vorbei ins Wohnzimmer. Sie schaute finster drein.
»Was um alles in der Welt haben Sie gemacht?«, fragte sie, während ich meinen Hut suchte. »Warum sieht hier alles so merkwürdig aus?« Sie nahm die Streichhölzer und zündete zwei Öllampen und zwei Kerzen an. Das Licht spiegelte sich in tausend glänzenden Oberflächen, und sie erstarrte.
»Sie haben das Haus geputzt!«
»Nur hier unten. Und den Hof. Und die Vordertreppe«, sagte ich mit einer Stimme, die immer unglücklicher wurde. »Und ich habe Ihnen Abendessen gekocht.«
Sie starrte mich an. »Warum?«
»Ihr Haus war schmutzig. Die Frau nebenan sagte, sie wären berühmt dafür …«
»Sie haben die Nachbarin kennengelernt?«
»Sie hat mir eine Tasse Tee geschickt.«
»Ich lasse Sie einen Tag in meinem Haus und Sie krempeln es völlig um. Sie tun sich mit meiner Nachbarin zusammen. Sie sind bereits dick befreundet mit meiner besten Freundin, nehme ich an. Und was hat sie Ihnen erzählt?«
»Ich habe ihr gar nichts erzählt, bestimmt nicht!«, rief Annie aus der Küche.
Ich zupfte an einem Fädchen, das sich von meinem Ärmel gelöst hatte.
»Ich dachte, Sie würden sich freuen«, sagte ich leise, »ein sauberes Haus zu haben. Ich dachte …« Ich hatte gedacht, dass es sie dazu bringen würde, mich zu mögen. In Dianas Welt hätte es das. Das oder so etwas Ähnliches.
»Mir hat mein Haus gefallen, wie es war«, erwiderte sie.
»Das glaube ich Ihnen nicht«, gab ich zurück, und als sie dann zögerte, sagte ich das, was ich vermutlich schon den ganzen Tag über geplant hatte zu sagen: »Lassen Sie mich hierbleiben, Miss Banner! O bitte lassen Sie mich bleiben!«
Sie sah mich verblüfft an. »Miss Astley, das kann ich nicht!«
»Ich könnte hier unten schlafen, wie letzte Nacht. Ich könnte saubermachen und kochen wie heute. Ich könnte Ihre Wäsche waschen.« Ich sprach immer übereilter und verzweifelter. »Oh, ich hatte solche Sehnsucht, all diese Dinge zu tun, als ich in diesem Haus in St. John’s Wood wohnte! Aber dieser Satan, mit dem ich da zusammenlebte, sagte, ich müsste das die Dienstboten machen lassen – es würde meine Hände ruinieren. Aber wenn ich hierbliebe – nun, ich könnte auf Ihren kleinen Jungen aufpassen, während Sie bei der Arbeit sind. Ich würde ihm kein Laudanum geben, wenn er schreit!«
Florences Augen waren weit aufgerissen. »Putzen und meine Wäsche waschen? Auf Cyril aufpassen? Ich kann unmöglich zulassen, dass Sie das alles tun!«
»Warum denn nicht? Ich habe in Ihrer Straße heute fünfzig Frauen getroffen, die genau das tun! Das ist doch natürlich, oder nicht? Wenn ich Ihre Frau wäre – oder Ralphs Frau, meine ich –, dann würde ich es doch auch tun.«
Jetzt verschränkte sie die Arme. »In diesem Haus, Miss Astley, ist das wahrscheinlich das schlechteste Argument, das Sie vorbringen konnten.« Während sie sprach, öffnete sich jedoch die Haustür, und Ralph erschien. Er hatte die Abendzeitung unter einem Arm und Cyril unter dem anderen.
»Donnerwetter«, sagte er, »der Glanz auf diesen Stufen! Ich fürchte mich ja, draufzutreten.« Er sah mich und lächelte. »Hallo, immer noch hier?« Dann sah er sich im Zimmer um. »Und schaut euch das hier an! Ich bin doch wohl nicht im falschen Wohnzimmer gelandet, oder?« Florence ging zu ihm hinüber, nahm ihm das Kind ab und schob ihn eilig in die Küche. Dort freute er sich laut über Annies Anwesenheit, dann über das Essen auf dem Herd und schließlich über die Ananas. Florence kämpfte mit Cyril: Er zappelte, war störrisch und fing eben an zu schreien. Ich ging hin und sagte – mit erschreckender Kühnheit, denn das letzte Baby, das ich vor vier Jahren gehalten hatte, das Kind meiner Cousine, hatte mir ins Gesicht gebrüllt: »Geben Sie ihn mir. Babys lieben mich.« Sie reichte ihn mir, und vielleicht weil ich ihn so ungeschickt hielt und mein Zupacken ihn verblüffte, geschah ein einzigartiges Wunder: Er ließ sich an meine Schulter fallen, seufzte tief auf und war still.
Wenn ich in solchen Dingen erfahrener gewesen wäre, hätte ich mir denken können, dass der Anblick ihres Pflegesohns, zufrieden und still in den Armen einer fremden Frau liegend, das Letzte ist, was eine Mutter dazu bewegen kann, diese andere Frau im Haus zu behalten. Und doch – als ich Florence wieder ansah, ruhte ihr Blick auf mir, und ihr Ausdruck war, wie einmal am Abend zuvor, seltsam und fast traurig, aber zugleich sanft. Eine Locke hatte sich aus ihrem Haarknoten befreit und hing ihr schlaff in die Stirn. Als sie die Hand hob, um sie sich aus dem Auge zu streichen, kam es mir vor, als wäre ihre Fingerspitze dabei ein wenig feucht geworden.
Ich dachte: »Verdammt, da habe ich nun mein Talent mit Herrenimitationen vergeudet, und dabei hätte ich doch viel besser ins Melodrama gepasst!« Ich biss mir auf die Unterlippe und schluckte extra schwer. »Auf Wiedersehen, Cyril«, sagte ich mit einem Beben in der Stimme. »Ich muss jetzt meinen feuchten Hut aufsetzen und in die dunkle Nacht hinausgehen und eine Bank finden, auf der ich schlafen kann …«
Aber das war denn doch zu viel. Florence rümpfte die Nase, und ihr Gesicht wurde wieder streng.
»Nun gut«, sagte sie. »Sie dürfen bleiben – für eine Woche. Und wenn diese Woche gut verläuft, versuchen wir es einen Monat lang. Sie erhalten einen Anteil vom Familieneinkommen dafür, dass Sie sich um Cyril kümmern und das Haus in Ordnung halten. Aber wenn sich herausstellt, dass es nicht funktioniert, müssen Sie mir versprechen, Miss Astley, dass Sie gehen.«
Ich versprach es. Dann hob ich das Baby an meiner Schulter ein bisschen höher, und Florence wandte sich ab. Jetzt schaute ich gar nicht mehr hin, um zu sehen, wie ihr Gesichtsausdruck war. Ich lächelte bloß, drückte meine Lippen auf Cyrils Kopf – er roch ziemlich sauer – und küsste ihn.
Wie dankbar war ich in diesem Moment, dass ich gelogen hatte, was Diana betraf! Was machte es schon aus, dass ich nicht ganz die war, die ich zu sein vorgab? Ich war einmal ein normales Mädchen gewesen, und das konnte ich wieder werden. Womöglich erwies sich das Normalsein sogar als eine Art Ferien. Ich überdachte meine jüngst vergangene Lebensgeschichte und schauderte; dann blickte ich wieder zu Florence hinüber und war froh – wie schon einmal –, dass sie ziemlich unscheinbar und durchschnittlich war. Sie hatte ein Taschentuch hervorgezogen und wischte sich die Nase; dann rief sie Ralph zu, er solle den Kessel aufsetzen.
Meine Gelüste waren leicht erregbar gewesen und hatten mich in verzweifelte Liebesabenteuer gestürzt, doch Florence, das wusste ich, würde niemals solche Gelüste in mir erwecken. Mein allzu weiches Herz war einmal hart geworden und hatte sich in letzter Zeit noch mehr verhärtet – und in der Quilter Street würde es gewiss nicht wieder schmelzen, dachte ich.