KAPITEL VIER

Verdammte Moiren

»Mein Lord.« Minthes Stimme holte ihn aus seinem Tagtraum. »Dein erster Termin ist eingetroffen.«

Verdammt . Er war definitiv in der falschen Stimmung, um noch eine Wette abzuschließen. Er runzelte die Stirn und wollte einen Schluck trinken – doch dann bemerkte er, dass sein Glas leer war. Als er die Nymphe ansah, hatte sie die Augenbraue hochgezogen.

»Bezaubert, mein Lord?« Ihre Stimme triefte vor Verurteilung.

»Ja«, antwortete er. Er sah keinen Grund, zu lügen.

Dass Minthe schockiert war, sah er daran, dass ihre Augen sich weiteten und dann ihre Lippen schmal wurden. »Verzweiflung ist nicht gerade schmeichelhaft, Hades.«

»Eifersucht auch nicht«, antwortete er und drückte ihr das leere Glas in die Hand.

Minthe machte ein finsteres Gesicht.

»Wo ist der Sterbliche?«

Ihre Augen blitzten, als sie sagte: »In der Diamantensuite.«

Bis zum Ende der Nacht hatte Hades drei Wetten gewonnen. Zwei Männer auf der Suche nach Reichtum, einer jung, einer alt, und eine Frau auf der Suche nach Liebe. Alle drei sahen sich nun der Herausforderung gegenüber, das zu überwinden, was ihre Seele am meisten belastete.

Der jüngere der beiden Männer strebte danach, seinen Collegefonds wieder zu füllen, den er für seine Kokainsucht aufgezehrt hatte. Er würde clean werden müssen, bevor Hades ihm seinen Wunsch gewährte. Der ältere Mann wollte die Chemotherapie seiner Frau bezahlen. Die größte Last auf seiner Seele? Er hatte sie betrogen, bevor sie ihre Diagnose bekommen hatte. Hades’ Bedingung bestand darin, dass er seine Affäre offenlegen musste.

Die Frau bat um Liebe, oder genauer gesagt, sie bat darum, dass ein ganz bestimmter Mann sich in sie verlieben sollte. Ein Kollege, nach dem sie schon seit Jahren schmachtete.

Es war eine Bitte, die Hades oft hörte, und zugleich eine, die er nie gewähren konnte.

Sie saß Hades gegenüber, sah verzweifelt und müde aus, und als er einen Blick in ihre Seele warf, sah er, dass diese so mit dem Mann, den sie liebte, verflochten war, dass sie ihrem wahren Ich gar nicht mehr ähnelte. Sie war ein Gewirr aus Ranken, mit Dornen übersät, die durch Jahre der Zurückweisung scharf geworden waren.

»Ändere deine Bedingungen«, riet er ihr.

Ihre Augen wurden schmal, und sie knirschte mit den Zähnen und wagte es, die Stimme zu erheben. »Aber er ist der, den ich will!«

Es war das zweite Mal, dass er diesen Appell heute Abend hörte, und beide Male war es eine Lüge gewesen.

»Ich kann nicht einen bestimmten Sterblichen dazu bringen, dich zu lieben«, sagte Hades. »Du bittest entweder um Liebe oder gar nichts.«

Sie hatte ihn eine Weile finster angesehen und versucht, die Tränen zurückzuhalten, bevor sie zustimmte. Er nahm an, dass sie beschlossen hatte, dass es am Ende besser sei, von überhaupt jemandem geliebt zu werden. Nur dass sie das Spiel nicht gewann, und als sie verloren hatte, begegnete Hades ihrem entsetzten, tränennassen Blick.

»Gib diese sinnlose Sehnsucht nach deinem Kollegen auf«, sagte Hades.

Sie sah ihn finster an. »Ich kann nicht einfach … aufhören , ihn zu lieben.«

»Du musst einen Weg finden«, sagte er. »Und wenn du es tust, werden sich deine Augen vielleicht für eine neue Liebe öffnen.«

Hades wollte aufstehen.

»Warst du nie verliebt?«, fragte sie, und als er zögerte, wurden ihre Augen groß, als es ihr klar wurde. »Nein, du warst nie verliebt.«

Hades presste die Lippen aufeinander. »Vorsicht, Sterbliche. Dieses Leben ist flüchtig. Deine Existenz in der Unterwelt währt eine Ewigkeit.«

Erneut wollte er aufstehen, und die Frau ergriff seine Hand. »Bitte! Du verstehst nicht! Ich kann nicht beeinflussen, wen ich liebe!«

Hades zog seine Hand weg. »Du verschwendest deine Worte und deine Gefühle, Sterbliche.«

Er hätte noch mehr sagen können. Er hätte erklären können, dass die Liebe zu diesem gleichgültigen Mann sie verbitterte, dass ihr Leben von dem Augenblick an besser würde, wenn sie entschied, ihn aus ihrer Zuneigung zu entlassen. Doch er wusste, dass sie nicht zuhören würde, also sagte er nichts. Stattdessen verschwand er und zog sich in die Unterwelt zurück.

Aber nicht, um sich auszuruhen.

Er teleportierte in die Bibliothek der Seelen, die sich im Spiegelpalast der Moiren befand. Hades hatte den drei Göttinnen einen Abschnitt seines Reiches geschenkt – eine Insel, die im Äther der Unterwelt schwebte. Sie war unzugänglich für jedermann außer für ihn, und die Moiren waren nicht in der Lage, sie zu verlassen.

Ein goldener Käfig, so hatte Lachesis es genannt.

Ein besseres Gefängnis, hatte Clotho ausgespien.

Ein verspiegeltes Verlies, hatte Atropos gesagt.

Die Moiren mochten entschieden haben, es als Käfig, Verlies, Gefängnis zu beschreiben, doch sie wussten so gut wie Hades, dass es nach ihren Vorgaben und zu ihrem Schutz errichtet worden war.

»Würdet ihr lieber unter den Seelen und Gottheiten der Unterwelt leben?«, fragte er sie jedes Mal, wenn sie sich beschwerten. »Sie würden euch steinigen, und ich würde sie nicht daran hindern.«

Keiner von ihnen gefiel seine Antwort, und sie hatten reagiert, indem sie verlangten, dass er die Gärten vor dem Palast ändern sollte – eine Forderung, die sie häufig stellten und der er nachkam.

Die Bibliothek hatte keine Fenster, abgesehen von einem Glaskuppeldach, das ein gräuliches Licht hereinließ. Die Wände bestanden aus Bücherregalen vom Boden bis zur Decke, voll mit in schwarzem Samt gebundenen Folianten. Jeder Band beschrieb ausführlich das Leben jedes Menschen, jedes Geschöpfes und jeder Gottheit.

Hades streckte die Hand aus und rief Demeter auf, die Göttin der Ernte. Das Buch kam zu ihm und landete mit einem dumpfen Geräusch in seiner Hand. Als er es aufschlug, zeigte eine Projektion von Fäden einen Zeitstrahl von der Geburt der Göttin bis in die Gegenwart, den man lesen oder wie einen Film ansehen konnte.

Hades entschied sich für Ansehen und verfolgte ihren Faden von ihrer kampfgebeutelten Geburt bis zu ihrer rachsüchtigen Existenz nach dem Titanenkrieg, weiter zur Erschaffung ihres fürsorglichen Kultes, bis ihr Faden abzweigte und die Entstehung eines neuen Lebensfadens anzeigte.

»Zeig mir, wem dieser Faden gehört«, befahl er, und das Gold brach auseinander, bis es das Bild des Mädchens aus dem Nevernight formte.

Als Hades sie ansah, wurde ihm beklommen zumute.

Kein Wunder, dass sie duftete wie Demeter – sie war ihre Tochter.

»Neugierig über deine künftige Königin?« Lachesis erschien, in Weiß gekleidet, das Gesicht umrahmt von langem dunklem Haar und mit einer goldenen Krone auf dem Kopf. Sie war die mittlere Schwester, und in ihrer Hand hielt sie einen goldenen Stab, mit dem sie sterbliches Leben zumaß.

Künftige Königin. Die Worte durchliefen ihn wie ein Schauder, und er musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu reagieren.

»Ihr Name?«, fragte Hades.

Er wandte den Blick nicht von ihrem leuchtenden Bild ab.

»Sie heißt Persephone«, antwortete Lachesis.

Persephone. Er wiederholte stumm ihren Namen, prüfte ihn auf seiner Zunge und war überrascht, wie richtig er sich anfühlte, wie perfekt er klang.

»Die Göttin des Frühlings.«

Hades’ Blick richtete sich auf die Moira. Ihre dunklen Augen blickten zurück, unergründlich und emotionslos.

»Du willst mich verspotten.«

Göttin des Frühlings, Göttin der Wiedergeburt, Göttin des Lebens. Wie konnte eine Tochter des Frühlings die Braut des Todes werden?

»Immer so misstrauisch, Hades«, sagte Klotho, die aus dem Nichts auftauchte. Sie war die jüngste der drei Moiren und sah genauso aus wie Lachesis, gekleidet und gekrönt in Gold. »Vielleicht möchten wir ja unseren Lieblingsgott belohnen.«

»Ihr mögt keine Götter«, antwortete Hades.

»Gegen dich ist unsere Abneigung am geringsten.«

»Ich fühle mich geschmeichelt«, gab er unwirsch zurück.

»Wenn es dir missfällt, werden wir den Faden herausweben«, erklärte Atropos, die vor Hades erschien, und sie nahm ihm das Buch aus den Händen. Sie war die älteste, sah aber nicht anders aus als ihre Schwestern. Sie trug blutrote Gewänder, und an einer Kette um ihren Hals hing eine goldene Schere.

Hades sah die drei finster an.

»Ich kenne euch gut, Moiren«, sagte er, an alle drei gleichzeitig gerichtet. »Wen wollt ihr bestrafen?«

Die Moiren wechselten einen Blick. Schließlich antwortete Klotho: »Demeter hat um eine Tochter gefleht.«

»Ein Wunsch, der gewährt wurde«, sagte Lachesis.

»Du bist der Preis, den sie bezahlt«, ergänzte Atropos.

»Ich bin also die Strafe«, konstatierte Hades.

Den Moiren war Demeters Hass auf Hades bekannt. Er hatte recht gehabt, als er einen Trick vermutet hatte.

»Wenn du es so sehen willst«, meinte Klotho.

»Aber wir möchten es gern anders auffassen«, sagte Lachesis.

»Es ist der Preis, der für unseren Gefallen bezahlt wird«, erklärte Atropos.

So arbeiteten die Moiren, und die Götter waren dagegen machtlos.

»Demeter weiß es?«, fragte Hades.

»Natürlich. Wir haben nicht die Gewohnheit, Geheimnisse zu hüten, Lord Hades.«

Hades verstummte. Wenn Demeter Bescheid wusste, war es kein Wunder, dass er noch nie von der Göttin des Frühlings gehört hatte.

»Ihr denkt, dass ihr Demeter straft, doch in Wahrheit straft ihr Persephone«, sagte Hades.

Die Ironie entging ihm nicht, denn er hatte dasselbe mit ihr gemacht. Sie war durch die Wette zwischen ihnen gebunden – die größte Wette, die er je eingegangen war, denn am Ende musste sie ihn nicht lieben. Tausende Sterbliche und Göttliche gleichermaßen hatten Schicksale, die von den Moiren gewoben waren. Das garantierte noch keine Liebesehe, und eine solche zwischen ihm und Demeters Tochter war noch weniger wahrscheinlich.

Lachesis machte schmale Augen. »Hast du Angst, Hades?«

Der Gott blickte finster drein, und die drei Moiren lachten.

»Wir mögen die Fäden des Schicksals weben, mein Lord, aber du behältst die Kontrolle darüber, wie sich deine Zukunft entwickelt.« Damit verschwand Klotho.

»Wirst du deine Beziehung beherrschen, wie du über dein Königreich herrschst?« Lachesis verschwand.

»Oder dich am Chaos weiden?« Atropos verblasste.

Und als er allein war, hallte ihr heiteres Lachen um ihn herum.

Warst du nie verliebt?

Die Worte der Sterblichen fielen ihm wieder ein und bohrten sich wie ein Parasit unter seine Haut.

Nein, er war nie verliebt gewesen, und nun würde er sich immer fragen … Hätte Persephone ihn auch gewählt, wenn sie die Freiheit dazu gehabt hätte?

Hades verließ das Schloss der Moiren und fand sich vor Hekates Hütte wieder. Die Göttin der Zauberei war eine langjährige Bewohnerin der Unterwelt. Hades hatte ihr gestattet, sich niederzulassen, wo immer sie wünschte, und sie hatte ein dunkles Tal gewählt, um dort ihr von Weinranken bedecktes Häuschen zu errichten. Danach verbrachte sie Monate damit, eine Fülle an giftigem Nachtschatten zu kultivieren.

Hades hatte lediglich eine Augenbraue gehoben, als er entdeckte, was sie getan hatte.

»Tu nicht so, als seien meine Gifte nicht nützlich gewesen, Hades.«

»Ich habe nichts dergleichen gedacht«, hatte er geantwortet.

Er grinste, als er sich daran erinnerte. Seitdem war Hekate seine Vertraute und wahrscheinlich engste Freundin geworden.

Sie stand draußen, unter einem Flecken Mondlicht, das durch eine Öffnung im Blätterdach fiel. Schon oft hatte die Göttin seine Fähigkeit gelobt, etwas zu erschaffen, was sie als verwunschene Nacht bezeichnete, aber das war eigentlich kaum überraschend. Hades war ein aus der Finsternis geborener Gott. Es war das, was er am besten kannte.

»Was bekümmert dich, mein König?«, fragte sie, als er näher kam. »Ist es Minthe? Darf ich Lauge vorschlagen, um die Situation zu lösen? Sie ist recht schmerzvoll, wenn man sie schluckt.«

Hades zog eine Augenbraue hoch. »Schon Mordgedanken, Hekate? Es ist noch nicht einmal Mittag.«

Sie lächelte. »Nachts bin ich kreativer.«

Hades schmunzelte, und sie verfielen in ein angenehmes Schweigen. Hades, versunken in seinen Gedanken, Hekate, den Mond betrachtend. Nach einem Moment fragte sie erneut: »Was bekümmert dich?«

»Die Moiren«, antwortete er.

»Oh, deine besten Freundinnen. Was haben sie getan?«

»Sie haben mir eine Ehefrau geschenkt«, sagte er und runzelte die Stirn. »Demeters Tochter.«

Hekate lachte auf, drückte sich aber schnell die Hand auf den Mund, als Hades auf sie herab blickte.

»T-tut mir leid«, sagte sie, räusperte sich und fasste sich wieder. »Ist sie schrecklich?«

»Nein«, sagte Hades. »Das ist wahrscheinlich das Schlimmste dabei. Sie ist eine Schönheit.«

»Warum bist du dann so verdrießlich?«

Hades beschrieb in so wenigen Worten wie möglich den Verlauf seines Abends – Aphrodites Wette, wie er Persephone zum ersten Mal gesehen hatte, wie ihm klar geworden war, dass seine instinktive Reaktion, sie für sich zu wollen, ungewöhnlich war, und wie er den Faden bloßgelegt hatte, der sie beide verband.

»Du hättest sehen sollen, wie sie mich ansah, als ihr klar wurde, wer ich bin. Sie war entsetzt.«

»Ich bezweifle, dass sie entsetzt war«, meinte Hekate. »Überrascht vielleicht – vielleicht sogar beschämt, falls ihre Gedanken irgendwie so ähnlich wie deine waren.«

Hekate warf ihm einen wissenden Blick zu, aber Hades war sich da nicht so sicher. Hekate war nicht dabei gewesen.

»Ich habe dich nie als jemanden kennengelernt, der vor einer Herausforderung zurückweicht, Hades.«

»Das habe ich auch nicht getan«, sagte er. Er hatte das Gegenteil getan – er hatte sie, im Wesentlichen, für die nächsten sechs Monate an sich gebunden.

Hekate wartete auf seine Erklärung.

»Sie hat gegen mich gespielt.«

»Was?«

»Sie hat mich zu einem Spiel an ihren Tisch geladen, und sie hat verloren«, erklärte Hades.

Bis morgen früh würde sein Mal auf Persephones Haut sichtbar sein, und wenn sie zu ihm zurückkehrte, würde er ihr die Bedingungen ihrer Wette mitteilen. Falls sie scheiterte, würde sie für ewig eine Bewohnerin der Unterwelt sein.

»Hades, das hast du nicht getan.«

Er sah die Hexengöttin nur an.

»Es ist Göttliches Gesetz«, sagte er.

Hekate sah ihn finster an, denn sie wusste, dass das nicht stimmte. Hades hätte entscheiden können, sie gehen zu lassen, ohne ihre Zeit in Anspruch zu nehmen, doch er hatte sich für das Gegenteil entschieden. Wenn die Moiren sie miteinander verbinden wollten, warum dann nicht die Kontrolle übernehmen?

»Wenn du ihre Liebe willst, warum zwingst du sie dann in eine Wette?«

Nach einem Moment gestand er: »Weil ich nicht dachte, dass sie wiederkommen würde.«

Er sah Hekate nicht an, aber ihr Schweigen verriet ihm, dass sie Mitleid mit ihm hatte, und das hasste er.

»Was willst du von ihr verlangen?«, fragte sie.

»Das, was ich von allen verlange«, sagte er.

Er würde die Unsicherheiten ihrer Seele herausfordern. Bis das Ganze endete, würde er entweder eine Königin oder ein Monster erschaffen. Was von beidem, wusste er nicht.

»Was empfindest du, wenn du sie ansiehst?«, fragte Hekate.

Die Frage gefiel Hades nicht, oder vielleicht gefiel ihm auch seine Antwort nicht. Dennoch antwortete er wahrheitsgemäß. »Als sei ich aus Chaos geboren.«

Hekate grinste.

»Ich weiß jetzt schon, dass ich sie mögen werde.« Dann blitzte Belustigung in ihren Augen auf. »Du musst Minthe in meiner Gegenwart sagen, dass ihr zwei heiraten werdet. Sie wird rasend vor Wut sein!«