Hades fand sich im Tartaros wieder.
Zu Beginn seiner Herrschaft kam er häufiger hierher als an jeden anderen Ort seines Reiches. Die Zeit nach dem Titanenkrieg war eine finstere gewesen. Aus dem Krieg geboren, kannte Hades nichts als Blut und Schmerz. Doch er hatte seine Zeit im Tartaros nicht aus dem Wunsch heraus verbracht, mit dem Vertrauten zu existieren. Er tat es aus dem Wunsch heraus, jene zu strafen, die für seinen finsteren Beginn verantwortlich waren – die Titanen.
Mit der Zeit hatte er das immer weniger nötig gehabt.
Zu seltenen Gelegenheiten kam er noch immer hierher, um seine übrige Wut zu kanalisieren.
Heute Nacht war es nicht anders.
Er stand in seinem Büro, einem höhlenartigen, aber modernen Raum auf dem Gipfel eines der Berge im Tartarus, der auch als Folterkammer diente. An den Wänden hingen Waffen, die Hades an vielen unglückseligen Menschen und Humanoiden angewendet hatte, die sich gefesselt vor ihm wiederfanden. Viele von ihnen hüteten Geheimnisse, selbst noch nach dem Tod. Ein Teil des Bodens bestand aus Glas, und von diesem hochgelegenen Raum aus konnte Hades auf eine Etage der Folter nach der anderen hinabblicken.
Über die Jahre hatte sich das Gefängnis weiterentwickelt. Es hatte unterirdisch begonnen, mit Etagen, die Hunderte Meilen umspannten, alle der Bestrafung schlimmster Verbrechen und der Folter von Seelen auf verschiedenste Weise gewidmet – ob mit Wind, Eisregen oder Feuer. Hinzu kamen sehr effiziente Strafen wie Ersticken durch Teer, Adler und Geier, die von Lebern fraßen, und rasiermesserscharfe Zähne, die Fleisch aus Körpern rissen.
Diese Formen der Folter gab es zwar immer noch, doch Hades entwickelte sich weiter mit der Welt dort oben, höhlte Berge aus und schuf isolierte Zellen für verschiedene Formen psychologischer Folter. Egal welche Variante, Hades war nur wichtig, dass sie das gleiche Ergebnis brachte – Leiden.
Er nahm eine Flasche Whiskey von seinem Schreibtisch und gönnte sich einen Drink, bevor er mit einem Fingerschnippen eine Seele beschwor. Es war der Mann, den Sisyphos im Hof seiner Fischerei erschossen hatte.
Isidore Angelos.
Seine Hände waren hinter dem Rücken gefesselt, die Beine festgeschnallt. Sein Kinn war auf die Brust gesunken. Er schlief.
Seelen neigten dazu, in der Unterwelt so weiter zu existieren, wie sie es in der Oberwelt getan hatten. Das hieß, sie blieben bei einer Routine, auch wenn sie sie nicht mehr brauchten.
Schlaf gehörte dazu.
»Tja, sieht der nicht gut aus«, meinte Hermes, der gerade in Hades’ Büro erschien.
Der Gott der Diebe ging häufig in seinem Reich ein und aus. Vor Jahrhunderten hatte er die Rolle des Psychopompos übernommen – eines Seelenführers. Hades warf ihm einen Blick zu. Der Gott war in seiner Göttlichen Gestalt erschienen, gülden und auffällig. Er hatte große weiße Flügel und ein Paar kurze Hörner, die seitlich aus seinem Kopf ragten, beinahe unsichtbar inmitten seiner Locken. Aus goldenen Augen musterte er den Sterblichen abschätzend.
»Mach den Gefangenen keine schönen Augen, Hermes«, sagte Hades.
»Wieso? Ich kann doch Schönheit würdigen.«
»Mit deiner Erfolgsbilanz? Nein. Du neigst dazu, zu vergessen, was unter der Haut steckt.«
»Ich neige auch dazu, überwältigenden Sex zu haben«, meinte Hermes seufzend. »Ein Opfer, das ich gern bringe.«
Daraufhin wandte Hades sich von dem Gott ab, verdrehte die Augen und schwenkte die Flüssigkeit in seiner Flasche, bevor er noch einen Schluck trank.
»Wenn du öfter Sex hättest, hättest du vielleicht nicht das Bedürfnis, deine Untertanen zu foltern«, meinte Hermes.
Hades knirschte mit den Zähnen – das tat er schon den ganzen Tag. Morgen würde ihm der Kiefer wehtun. Hermes’ Worte frustrierten ihn aus zwei Gründen – dass der Gott überhaupt das Bedürfnis hatte, sein Sexleben zu kommentieren, und weil seine Gedanken sich der schönen Persephone zuwandten.
Er verspürte eine Anspannung in der Lendengegend, die ihn beinahe aufstöhnen ließ.
»Hat dir jemals irgendwer gesagt, dass du vielleicht eine Therapie brauchst?«, fragte Hermes. »Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass das Foltern von Menschen ein Zeichen für Psychopathie ist.«
Hades sah Hermes finster an, der gerade einen Viehtreiber in die Hand nahm und ihn betrachtete. Plötzlich sprühte das Gerät Funken und machte dabei ein schreckliches, klickendes Geräusch. Der Gott kreischte auf und ließ den Viehtreiber auf der Stelle fallen.
Hades runzelte die Stirn. Manchmal war es schwer, sich daran zu erinnern, dass Hermes auch ein erfahrener Krieger war.
»Was?«, fragte Hermes herausfordernd. »Das Ding hat mich erschreckt!«
Hades hob den Viehtreiber vom Boden auf, richtete ihn auf den Mann namens Isidore, der mitten in seinem Büro saß, und befahl: »Erwache.«
Der Kopf des Mannes bewegte sich, und seine Augenlider hoben sich, noch schwer vor Müdigkeit.
Hades wartete ab, während der Sterbliche sich mit seiner Umgebung vertraut machte, und sprach erst, als er das Erkennen in dessen Gesicht sah.
»Willkommen in meinem Reich«, sagte er.
Isidores Augen weiteten sich. »Bin ich … bin ich im Tartaros?«
Hades antwortete nicht darauf, sondern stellte stattdessen fest: »Du bist ein Gottloser.«
Die Gottlosen waren Sterbliche und Unsterbliche gleichermaßen, die die Götter ablehnten, als diese bei der großen Herabkunft auf die Erde kamen. Sie hatten eine Reihe von Gründen für ihre Ablehnung – manche fühlten sich im Stich gelassen, manche hielten die Götter für Heuchler, andere wollten nicht mehr beherrscht werden. Am Ende zogen beide Seiten in den Krieg, die Gottlosen und die Getreuen. Hades war nicht erpicht darauf gewesen, sich dem Kampf anzuschließen, denn am Ende war es nicht wichtig, auf welche Seite er sich stellte – sein Reich würde so oder so wachsen.
»Und ein loyales Mitglied der Triade«, fuhr Hades fort.
Die Triade war eine Gruppe Gottloser Sterblicher, die die Götter ablehnten und Fairness, freien Willen und Freiheit forderten. Sie bezeichneten sich selbst als Aktivisten – die Olympier nannten sie Terroristen.
»Tr-Triade? Wie kommst du darauf, dass ich zur Triade gehöre?«
Hades musterte den Mann einen Moment lang. Er beantwortete nicht gern Fragen, überhaupt redete er nicht wirklich gern, aber er würde diese Frage beantworten, da dies den Mann vielleicht davon abhalten würde, weiter zu lügen.
»Drei Gründe«, sagte er. »Erstens, du stotterst, wenn du lügst. Zweitens, auch wenn du nicht stottern würdest, wenn du lügst: Ich kann Lügen wahrnehmen. Deine sind bitter und schmecken nach Asche, ein Merkmal deiner Seele. Drittens, wenn du deine Loyalität nicht öffentlich kundtun willst, solltest du sie dir nicht auf die Haut tätowieren.«
Hades registrierte, dass der Blick des Mannes zu seinem rechten Arm wanderte, wo das Dreieck – das Symbol der Triade – eintätowiert war.
»Also willst du mich für meine Loyalität foltern?«
»Ich werde dich für deine Verbrechen foltern«, sagte Hades. »Die Tatsache, dass du ein Mitglied der Triade bist, ist lediglich ein Bonus.«
Isidore gab einen kehligen Aufschrei von sich, als Hades ihm den Viehtreiber in die Seite drückte. Der Geruch nach verbranntem Fleisch drang ihm in die Nase. Nach ein paar Sekunden nahm er ihn wieder weg. Der Sterbliche hatte den Rücken durchgebogen, und seine Atemzüge waren mühsam.
»Götter, Hades! Muss das wirklich sein?«, fragte Hermes, machte aber keine Anstalten, seine Augen zu bedecken oder auch nur angewidert dreinzusehen.
»Tu nicht so, als hättest du nie einen Sterblichen gefoltert, Hermes. Das wissen wir alle besser«, entgegnete Hades kühl.
Der Viehtreiber sprühte erneut Funken, und der Mann sah finster zu Hades auf und sagte herausfordernd: »Ich bin schon einmal gefoltert worden.«
Hades lächelte boshaft. »Nicht von mir.«
Der Viehtreiber war nur der Beginn von Isidores Qualen. Hades ging von Stromstößen zu Feuer über, setzte den Boden unter den Füßen des Mannes in Brand und hielt ihn am Leben, während die Flammen über seine Haut leckten. Isidore schrie und atmete Rauch ein, woraufhin er husten musste, bis Blut aus seinem Mund strömte.
Irgendwann löschte Hades die Flammen mit seiner Magie, und in der anschließenden Stille sagte Hermes: »Du bist echt verkorkst, Hades.«
»Ihr.« Isidores Stimme klang heiser, und sein Brustkorb hob und senkte sich langsam. »Ihr haltet euch für unangreifbar, weil ihr Götter seid.«
»Genau deshalb sind wir unangreifbar«, meinte Hermes.
Hades hob die Hand und brachte den Gott der Diebe zum Schweigen.
»Ihr wisst gar nicht, was kommt«, fuhr Isidore fort. Seine Stimme klang hohl. Sein Kopf rollte zur Seite, und er sah nicht mehr Hades an, sondern die Wand. Der Gott packte das verunstaltete Gesicht des Sterblichen, damit er ihn ansah.
»Ähm, Hades …«, fing Hermes an.
»Was kommt?«, wollte Hades wissen.
»Krieg«, antwortete der Mann.
Es war beinahe Mittag, und Hades hatte noch immer nicht geschlafen. Seine Augen fühlten sich wie Sandpapier an, und Hermes’ Stimme plagte seine Ohren. Der Gott war ihm zurück in seinen Palast gefolgt und lief nun neben ihm her, als er zu seinem Schlafzimmer ging. Hades trank einen Schluck aus der Flasche, die er aus seinem Büro im Tartarus mitgenommen hatte.
»Du hättest mir sagen können, dass du ihn gefoltert hast, um Informationen zu bekommen«, beschwerte sich Hermes.
»Willst du damit sagen, wenn ich es dir erzählt hätte, hättest du darauf verzichtet, mir zu sagen, wie verkorkst ich bin?«, fragte Hades.
Hermes öffnete den Mund, um zu antworten, aber stattdessen sprach Hades weiter – eine seltene Gelegenheit. »Die Triade reorganisiert sich. Ich brauche deine Augen und Ohren.«
Hermes lachte. »Du hast doch nicht wirklich … Angst vor ihnen, oder?«
»Wir waren im Krieg mit der Triade, Hermes. Es könnte wieder passieren. Unterschätze nicht Sterbliche, die verzweifelt nach Freiheit verlangen.«
Hermes machte schmale Augen. »Das klingt, als würdest du mit ihnen sympathisieren.«
Hades begegnete dem Blick des Gottes und antwortete so, wie er es immer tat: »Was für den einen böse ist, ist für den anderen ein Kampf um Freiheit.«
Er hatte es schon zuvor gesagt, und er würde es wieder sagen. Das Problem, das er mit der Triade hatte, waren die unschuldigen Leben, die sie bei ihrem Kampf auslöschten.
»Lasse dich nicht von deiner Überheblichkeit blenden, Hermes.«
Als Hades nun weiter ging zu seinem Schlafzimmer, folgte ihm der Gott nicht mehr.
In dem Zimmer angekommen, seufzte Hades und presste die Finger an die Schläfe. Es war lange her, seit er Kopfschmerzen gehabt hatte, doch dieser Tag war endlos. Hades durchquerte das Zimmer zu seinem Kamin und trank seinen Whiskey aus. Er starrte auf die leere Flasche und sinnierte über die Ereignisse des – gestrigen – Tages. Er hatte Wetten abgeschlossen, gemordet und gefoltert.
Alles Dinge, die seine künftige Frau missbilligen würde, davon war er überzeugt.
Künftige Frau.
Verdammte Moiren.
Hades warf die Flasche an die schwarze Marmorwand, wo sie zerschmetterte.
Ich werde aufhören müssen, Dinge zu zerbrechen, wenn sie hierherkommt, dachte er und schimpfte sich dann selbst dafür, dass er so … hoffnungsvoll klang.
Er seufzte wütend, ging zu seinem Bett und lockerte dabei seine Krawatte. Seine Augen hatten zu brennen begonnen. Er brauchte Schlaf. In einigen Stunden musste er wieder auf sein. Er hatte einen weiteren wichtigen Termin wahrzunehmen. Diesmal auf seinem eigenen Territorium, dem Iniquitiy, einem exklusiven Club, wo sich die Schlimmsten der Gesellschaft unter seinem Schutz und seiner Herrschaft versammelten.
Doch gerade als er die Decken zurückzog, klopfte es an der Tür.
»Geh weg«, rief er in der Annahme, es sei Minthe.
Stattdessen antwortete Ilias’ Stimme: »Oh, ich denke, das werdet Ihr hören wollen, mein Lord.«
Hades seufzte. »Ja?«
Ilias trat ein, zog eine dunkle Augenbraue hoch und lächelte ironisch. »Keine Ruhe für die Bösen. Die Frau von gestern Nacht ist vor dem Nevernight und streitet sich mit Duncan. Er hat Hand an sie gelegt. Ihr solltet euch eilen.«
Hades konnte das Gefühl, das ihn überkam, nicht beschreiben, doch es war, als sei alles in ihm für eine Sekunde erstarrt – sein Blut rauschte nicht, sein Herz schlug nicht, seine Lungen dehnten sich nicht aus.
So schnell, wie das Eis in seinen Adern aufgetaucht war, war es wieder verschwunden, ersetzt durch rotglühende Wut.
»Wieso hast du das nicht gleich gesagt?«, fragte er ungehalten, bevor er zum Eingang des Nevernight teleportierte.
Vor der Tür drohte eine vertraute Stimme: »Ich bin Persephone, Göttin des Frühlings, und wenn du dein flüchtiges Leben behalten willst, dann wirst du mir gehorchen!«
Hades riss die Tür auf. Er fühlte sich wie im Fieber, bis sein Blick auf die Göttin fiel – und dann war er sprachlos.
Sie stand auf dem glanzlosen Gehweg unter der viel zu hellen Sonne, bar ihrer menschlichen Aura. Weiße Kuduhörner sprossen aus ihrem wilden Haar, und trotz deren Länge konnte er nicht umhin zu denken, wie zierlich sie wirkte. Es gefiel ihm, sie so zu sehen. Es fühlte sich irgendwie intim an, weil er wusste, dass er sie sah. Dies war Persephone, die Göttin, die seine Königin sein würde, und sie war alles .
Sie erwiderte seinen Blick nicht, aber ihr Blick war eindeutig auf ihm und glitt über seine Gestalt mit einer Eindringlichkeit in ihrer Miene, die er nicht recht einordnen konnte, aber verstehen wollte.
Obwohl er das Gefühl hatte, keine Kontrolle über seinen Körper, seine Emotionen und seine Magie zu haben, fasste er sich, so gut er konnte und grüßte: »Lady Persephone.«
Ihr Titel fühlte sich schwer auf seiner Zunge an. Sie begegnete seinem Blick, und erneut war er verblüfft von ihren leuchtenden Augen – so wild wie die Flüsse des Tartaros und so grün wie das Tal des Asphodeliengrundes. Etwas an ihrer Haltung veränderte sich, als sie ihn ansah. Sie straffte die Schultern und hob das Kinn.
»Lord Hades.«
Sie grüßte ihn förmlich und schenkte ihm ein knappes Nicken. Er war nicht sicher, was ihm daran nicht gefiel – dass sie seinen Titel gebrauchte oder ihre steife Körpersprache. Er runzelte die Stirn, konnte aber nicht lange darüber nachdenken, da Duncan seine Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Mein Herr.« Der Oger sank auf die Knie und ließ den Kopf hängen. »Ich wusste nicht, dass sie eine Göttin ist. Ich erwarte Eure Strafe für meine Handlungen.«
»Strafe?«, wiederholte Persephone und verschränkte die Arme, als fühlte sie sich unwohl bei dem Gedanken. Hades biss die Zähne zusammen. Dieselbe Wut, die ihn in der Unterwelt überkommen hatte, loderte wieder auf.
»Ich habe Hand an eine Göttin gelegt«, sagte Duncan.
»Und dazu eine Frau«, fügte Hades wütend hinzu.
Denn Duncan irrte sich. Seine bevorstehende Strafe hatte nichts damit zu tun, dass er jemanden von Göttlichem Blut angerührt hatte – sondern damit, dass er eine Frau verletzt hatte. Hades duldete keine Gewalt gegen Frauen oder Kinder. Tatsächlich hasste er sie so sehr, dass es im Tartarus eine spezielle Ebene für jene gab, die solche Verbrechen begangen hatten. Ihre Strafe wurde von den Erinnyen persönlich zugemessen, den drei gefürchteten Rachegöttinnen, von Nemesis, der Göttin der Vergeltung, und von Hekate, die es übernahm, Missbrauchstäter persönlich zu bestrafen.
Solche Vergehen wurden keinem Menschen und keinem Humanoiden verziehen, ob in Hades’ Diensten oder nicht.
»Ich befasse mich später mit dir«, versprach Hades. »Nun, Lady Persephone.«
Er trat beiseite und ließ sie ins Nevernight eintreten. Sie zögerte nicht, wie er vermutet hatte, sondern trat in die Dunkelheit seines Clubs, als gehöre er ihr. Er schloss die Tür hinter ihr, und einen Augenblick waren sie zusammen hier gefangen, und der Duft ihrer beider Magie verband sich und überwältigte sie. Hades erkannte Persephones steife Haltung, denn er war ebenso reglos geworden. Ihre Reaktion entspannte ihn, wahrscheinlich weil er Hoffnung in dem Gedanken fand, dass er ebenso auf sie wirkte.
Er erwog, das, was sich zwischen ihnen aufbaute, herauszufordern, indem er nähertrat und ihr schimmerndes Haar am Hals beiseiteschob. Er konnte ihr schauderndes Einatmen förmlich hören, während er einen Kuss auf ihre weiche Haut drückte. Würde sie sich dann in seine Arme schmiegen? Oder würde sie sich wehren?
Er trat näher. Er hatte es nicht für möglich gehalten, aber sie erstarrte noch mehr, wurde stocksteif. Sie war höchst angespannt, wie eine Viper, die bereit war, zuzuschlagen. Es war ein Biss, den er bereitwillig ertragen würde, und er beugte sich vor, bis sein Kinn über ihre Wange streifte und seine Lippen ihr Ohr berührten.
»Du steckst voller Überraschungen, Liebes.«
Er war zu überheblich, wurde ihm klar, unvorbereitet auf die Reaktion seines Körpers auf sie. Ihr Duft drang in seine Haut und entfachte sein Blut. Sein Schwanz wurde schwer und hart bei dem Gedanken daran, den Arm um ihre Taille zu legen, sie an sich zu drücken und sie zu verschlingen.
Verdammt.
Ein hörbares Luftholen holte ihn zurück in die Realität, und noch bevor sie ihn konfrontieren konnte, öffnete er die Innentür ins Nevernight und brach so den seltsamen Zauber zwischen ihnen.
»Nach Euch, Göttin.«
Sie blinzelte, und er sah die Verwirrung in ihrer Miene. Vielleicht hielt sie das gerade Erlebte für eine Illusion. Halb rechnete er damit, dass sie fliehen würde, doch da trat einmal mehr dieser Funke von Trotz in ihre Augen. Sie hielt seinem Blick stand, als sie an ihm vorbeiging – sowohl Herausforderung als auch Reizung zugleich.
Er folgte ihr und sah zu, wie sie auf den Balkon trat und prüfend über die Tanzfläche unter ihnen blickte. Er fragte sich, wonach sie suchte, fragte aber nicht laut danach, sondern wartete einfach, bis sie ihn ansah, und stieg dann weiter die Treppe hinab.
Ihre Absätze klapperten, als sie ihm über die Tanzfläche folgte. So bemerkte er auch, als sie stehenblieb, denn es wurde still im Club.
»Wohin gehen wir?«, fragte sie. In ihrer Stimme lag Misstrauen, und er rief sich in Erinnerung, dass es noch lange kein Zeichen von Vertrauen war, dass sie freiwillig das Nevernight betreten hatte.
Hades blieb stehen und drehte sich zu ihr um.
Er hätte sich nicht umdrehen sollen. Es brachte ihn beinahe dazu, in Frage zu stellen, was er da tat, wenn er diese schöne Göttin tiefer in sein Reich lockte.
»In mein Büro«, antwortete er. »Ich nehme an, dass was immer Ihr mir zu sagen habt, nach Privatsphäre verlangt?«
Sie zog eine Augenbraue hoch und sah sich im leeren Club um. »Das hier wirkt ziemlich privat auf mich.«
»Ist es aber nicht.« Er drehte sich um und ging weiter nach oben, zufrieden, als er das Klappern ihrer Absätze hörte, das ihm folgte.
Oben an der Treppe ging er zu seinem Büro und öffnete eine der zwei großen Türen, die eins seiner Symbole in Gold trugen – einen Zweizack – umwunden von Ranken und Blumen. Als er sich zu Persephone umdrehte, stand sie immer noch einige Schritte entfernt. Ihre Distanz frustrierte ihn.
»Wollt Ihr bei jeder Ecke zögern, Lady Persephone?«
Sie sah finster drein. »Ich habe nur Euer Dekor bewundert, Lord Hades. Es war mir gestern Abend gar nicht aufgefallen.«
»Die Türen zu meinen Gemächern sind zu Geschäftszeiten häufig verschleiert«, antwortete er und deutete dann auf die offene Tür. »Wollen wir?«
Sie hob das Kinn und rauschte an ihm vorbei. Er ging ihr nach, als sie über den schwarzen Marmorboden schritt und sich mit seinem Büro vertraut machte. Das Erste, worauf ihr Blick fiel, war die Fensterwand mit Blick über die Tanzfläche des Clubs. Etwas, das sich in den meisten seiner Büros befand, und dazu eine Möglichkeit, alles von oben zu beobachten. Trotz der Hitze draußen hielt Hades das Feuer in seinem Kamin am Brennen. Er mochte Feuer, mochte das Tanzen der Flammen und betrachtete es gern von seinem Schreibtisch aus Obsidian aus. Doch den Sitzbereich davor nutzte er nur selten. Vielleicht würde er es heute tun und die Göttin des Frühlings einladen, sich zu setzen.
Doch das erschien ihm zu höflich, und Hades hatte das Gefühl, dass was immer die Göttin ihm sagen wollte, alles andere als höflich war.
Als er die Tür schloss, versteifte sie sich erneut. Da wurde ihm klar, dass er mehr hätte tun müssen, um ihr zu versichern, dass sie bei ihm sicher war, nach ihrer erschreckenden Begegnung mit Duncan. Er überquerte geräuschvoll den Boden, da er sie nicht erschrecken wollte, und blieb vor ihr stehen. Sein Blick glitt forschend über ihr Gesicht und streifte ihre Lippen, bevor er auf ihren Hals fiel. Ihre perfekte Haut war gerötet vom Griff des Ogers.
Es brauchte all seine Kraft, zu bleiben wo er war und nicht in die Unterwelt zu teleportieren, um Duncan zu foltern.
Vorfreude ist ein Teil der Folter, rief er sich ins Gedächtnis.
Er streckte die Hand nach ihr aus und wollte die Male auf ihrer Haut heilen, doch sie legte fest die Hand um seinen Arm. Ihre Blicke trafen sich.
»Seid Ihr verletzt?«, fragte er.
»Nein«, flüsterte sie.
In diesem Austausch lag etwas Intimes. Vielleicht lag es an der Nähe. Sie waren nur Zentimeter voneinander entfernt, Haut an Haut. Nach einem Moment nickte er und zog seinen Arm aus ihrem Griff. Er durchquerte den Raum, denn er brauchte die Distanz, um nicht etwas Dummes zu tun. Wie sie zu küssen.
Der Duft von Demeters Magie verriet ihm, dass sie dabei war, ihre Aura wiederherzustellen.
»Oh, für Bescheidenheit ist es ein wenig zu spät, findet Ihr nicht?«, fragte er, lehnte sich an seinen Schreibtisch und zog sich die Krawatte vom Hals. Ihm gefiel nicht, dass sie sich auf seiner Haut anfühlte wie eine Fessel. Doch die Bewegung lenkte ihren Blick auf ihn, und er erkannte den Hunger in ihren Augen, denn er fühlte dasselbe. Tief in seinen Eingeweiden.
»Habe ich Euch bei etwas unterbrochen?«
Ihr Tonfall war beinahe vorwurfsvoll, und er erwog zu fragen, ob sie eifersüchtig sei, entschied sich dann aber dagegen. Stattdessen verzog er die Lippen und erklärte: »Ich wollte gerade zu Bett gehen, als ich hörte, dass Ihr Einlass in meinen Club begehrt. Stellt Euch nur meine Überraschung vor, als ich die Göttin von gestern Abend auf meiner Türschwelle vorfinde.«
Sie sah ihn finster an. »Hat die Gorgone es Euch verraten?«
Er kämpfte gegen den Drang an, über ihren Zorn zu lächeln. »Nein, Euryale hat nichts gesagt. Ich erkannte Eure Magie als die von Demeter, aber Ihr seid nicht Demeter.« Er legte den Kopf schief und musterte sie, so wie er ihr Bild in der Bibliothek der Seelen betrachtet hatte. »Als Ihr gegangen wart, habe ich ein paar Texte konsultiert. Ich hatte ganz vergessen, dass Demeter eine Tochter hat. Also nahm ich an, dass Ihr Persephone seid. Die Frage ist: Warum nutzt Ihr nicht Eure eigene Magie?«
»Ist das der Grund, warum Ihr das getan habt?«, wollte sie wissen, nahm ein hässliches Armband vom Handgelenk ab und hielt den Arm hoch, wo ein Band aus schwarzen Punkten ihre Haut zierte.
Er registrierte, dass sie es vermieden hatte, seine Frage zu beantworten. Egal, er würde darauf zurückkommen. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Mal auf ihrer Haut, sein Mal, und grinste. »Nein. Das ist die Folge davon, dass Ihr gegen mich verloren habt.«
»Ihr habt mich das Spiel gelehrt!«
»Semantik.« Er zuckte mit den Schultern. »Die Regeln von Nevernight sind eindeutig, Göttin.«
»Sie sind alles andere als das.« Sie warf die Hände hoch und zeigte dann mit dem Finger auf ihn. »Und Ihr seid ein Mistkerl!«
Er stieß sich vom Schreibtisch ab und kam auf sie zu. Ein Teil von ihm wollte Respekt einfordern, wollte sie daran erinnern, dass er König der Unterwelt war, Gott der Toten. Doch als er sich ihr näherte, erinnerte er sich daran, wer sie war – Persephone, Göttin des Frühlings, seine künftige Königin. Der Gedanke beruhigte ihn, und doch musste sie etwas Anderes in seinen Augen aufblitzen gesehen haben, denn sie wich einen Schritt zurück.
»Beschimpft mich nicht, Persephone«, sagte er und griff sachte nach ihrem Handgelenk. Als er die Verbindung zwischen ihnen wieder herstellte, fühlte er eine seltsame Energie zwischen ihnen. Er fuhr das Mal auf ihrer Haut nach, und sie erschauerte unter seinen Händen. »Als Ihr mich an Euren Tisch eingeladen habt, seid Ihr eine Vereinbarung eingegangen. Hättet Ihr gewonnen, hättet Ihr Nevernight ohne Forderungen an Eure Zeit verlassen können. Doch das habt Ihr nicht, und nun haben wir eine Wette.«
Ich könnte ihr die Freiheit schenken. Die Worte tauchten in seinem Kopf auf, ungebeten, geboren aus seinen vorherigen Gedanken, und plötzlich überkamen ihn Schuldgefühle. Die Wahrheit war, dass es kein Göttliches Gesetz gab, also könnte er sie gehen lassen.
Aber als er sie betrachtete, spähte er hinter ihr schönes Äußeres und sah ihre Seele als das, was sie war – eine mächtige Göttin, gefangen in Zweifeln und Furcht. Das war der Grund, warum sie die Magie ihrer Mutter nutzte – weil ihre eigene eingekerkert war und schlummerte.
Je länger er sie betrachtete, umso tiefer fiel er. Sie war berauschend, und ihre Magie duftete nach süßen Rosen, Glyzinien und etwas vollkommen Sündigem. Seine eigene Magie stieg in ihm auf und wollte sich mit ihrer verbinden. Er wollte sie aus ihr herauslocken, sie überreden, sie freizulassen.
Verdammt, verdammt, verdammt.
Er war nicht sicher, was sie in seiner Miene sah, doch er registrierte, wie ihre Kehle arbeitete, als sie schluckte, und er dachte, er würde sie gern dort küssen und sie unter sich erschauern fühlen.
Als sie antwortete, lag unterdrückter Zorn in ihren Worten. »Und was heißt das?«
»Es heißt, dass ich die Bedingungen festlegen muss«, sagte er bestimmt.
Plötzlich hatte diese Wette eine ganz neue Bedeutung für ihn angenommen. Er würde die Barrieren um ihren Körper abreißen, sie aus diesem selbstgebauten Käfig aus Hass befreien, und am Ende, wenn sie ihn nicht liebte, wäre sie wenigstens frei.
»Ich will keine Wette mit Euch eingehen«, sagte sie durch zusammengebissene Zähne, und ihre schönen Augen leuchteten hell auf. »Entfernt das!«
»Das kann ich nicht.«
Das werde ich nicht , dachte er.
»Ihr habt es dort platziert. Ihr könnt es auch entfernen.«
Seine Lippen zuckten. Er sollte keine Belustigung angesichts ihrer Notlage empfinden. Er wusste, dass das Ganze peinlich für sie war und dass sie nicht verstand, warum es geschehen musste. Trotzdem grinste er, weil sie ihm trotzte, weil ihm ihr Feuer und ihre Wut gefielen.
»Ihr findet das lustig?«
»Oh, Liebes, du hast ja keine Ahnung.«
»Ich bin eine Göttin. Wir sind Gleichgestellte.«
Sie sprach die Worte zwar aus, aber er wusste, dass sie sie nicht glaubte.
»Ihr denkt, unser Blut ändert etwas daran, dass Ihr freiwillig eine Wette mit mir eingegangen seid? Diese Dinge sind Gesetz, Persephone.« Sie funkelte ihn finster an. »Das Mal wird verschwinden, wenn die Wette erfüllt ist.«
»Und was sind Eure Bedingungen?«
Er dachte über das nach, was er von ihrer Seele gesehen hatte. Sie war eine Frau, die Göttlichkeit mit Macht gleichsetzte. Es war der Kern ihrer Unsicherheit – und das würde er herausfordern.
Schließlich antwortete er: »Erschafft Leben in der Unterwelt.«
Ihre Augen wurden groß, und sie erblasste, als ihr klar wurde, wie unmöglich das war, was er forderte. Seine Finger, die noch immer ihr Handgelenk umschlangen, spannten sich an.
»Was?«
»Erschafft Leben in der Unterwelt«, wiederholte er. »Ihr habt sechs Monate. Solltet Ihr scheitern oder Euch weigern, werdet Ihr zu einer ständigen Bewohnerin meines Reiches.«
»Ihr wollt, dass ich einen Garten in Eurem Reich wachsen lasse?«
Hades lächelte leicht. Sie hatte bereits erkannt, dass es nur einen Weg gab, um die Wette zu erfüllen, und das war mit Hilfe ihrer Macht, die sie nicht kontrollierte … noch nicht.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, das ist eine Möglichkeit, Leben zu erschaffen.«
Es war ein Hinweis, den sie aber nicht verstand. Stattdessen sah sie ihn finster an.
»Wenn Ihr mich in die Unterwelt entführt, werdet Ihr Euch dem Zorn meiner Mutter stellen müssen.«
»Oh, da bin ich mir sicher«, sinnierte er und malte es sich bereits aus. Doch dies war der Preis, den Demeter zahlen musste – erstens dafür, dass sie mit den Moiren gefeilscht hatte, und zweitens dafür, dass sie Persephone vor ihm versteckt hatte. Wann wird die Göttin der Ernte wohl über mich kommen?, fragte er sich, und laut sagte er: »Ganz so, wie Ihr ihren Zorn fühlen werdet, wenn sie entdeckt, was Ihr so leichtsinnig getan habt.«
Er hasste es, diese Worte auszusprechen, und er erwog, ihr noch zu versichern, dass er sie vor ihrer Mutter beschützen würde, doch da straffte sich Persephone, begegnete seinem Blick und akzeptierte seine Herausforderung.
»Gut. Wann geht es los?«
Beinahe hätte er gelächelt. »Kommt morgen wieder, dann zeige ich Euch den Weg in die Unterwelt.«
»Das wird bis nach meinen Vorlesungen warten müssen«, sagte sie.
Er runzelte die Stirn. »Vorlesungen?«
»Ich studiere an der Universität New Athens.«
Es war ein Beispiel dafür, wie wenig er über sie wusste, und er stellte fest, dass er neugierig war. Was studierte sie? Wie lange war sie schon auf dem College? Wo hatte sie vor New Athens gelebt? Was hatte Demeter sie über die Göttlichen gelehrt?
Alles Dinge, die ich mit der Zeit erfahren werde, rief er sich ins Gedächtnis.
»Dann also nach … den Vorlesungen .«
Für einen langen Moment sahen sie sich an, noch immer einander berührend, in den persönlichen Raum des anderen eindringend, und er stellte fest, dass er damit zufrieden war – mit der Stille, dem Gefühl ihrer Energie – weil es ihm das Herz leichter machte.
»Was ist mit Eurem Türsteher?«, fragte sie plötzlich.
Hades runzelte die Stirn. »Was soll mit ihm sein?«
»Es wäre mir lieber, wenn er sich nicht an mich in dieser Gestalt erinnert.« Sie hob die Hand an ihre Hörner, und Hades’ Blick folgte ihr. Es waren schöne Hörner, anmutig gedreht und in spitze Enden zulaufend. Doch während er sie betrachtete, verschwanden sie vor seinen Augen, verborgen von der Aura, die Persephone aktiviert hatte. Wieder blickte er ihr in die Augen.
»Ich werde seine Erinnerung löschen … nachdem er für seinen Umgang mit Euch bestraft wurde.«
»Er wusste nicht, dass ich eine Göttin bin«, sagte sie.
Verteidige ihn nicht, wollte er sagen. Er verdient deine Freundlichkeit nicht.
»Aber er wusste, dass Ihr eine Frau seid, und hat sich trotzdem von seinem Zorn hinreißen lassen. Also wird er bestraft.«
Und ich werde den Vorgang weidlich genießen.
»Was wird mich das kosten?«
Er konzentrierte sich wieder auf sie, auf ihre dichten Wimpern, ihre bezaubernden Augen und ihren sinnlichen Mund.
»Klug, Liebes. Ihr wisst, wie es läuft. Seine Bestrafung? Kostet Euch nichts. Seine Erinnerung? Einen Gefallen.«
»Nennt mich nicht Liebes«, erwiderte sie unwillig, und er zog fragend eine Augenbraue hoch angesichts ihrer plötzlichen Wut. Vielleicht fand sie, dass er zu schnell zu ungezwungen wurde. »Was für einen Gefallen?«
»Was immer ich will«, antwortete er. »Irgendwann in der Zukunft.«
Sie machte schmale Augen, war skeptisch, und das sollte sie auch sein. Die gefährlichsten Gefallen waren jene, die nicht näher definiert wurden. Wenn sie zustimmte, würde ihm das zeigen, wie viel sie wirklich darüber wusste, was es bedeutete, göttlich zu sein.
»Abgemacht.«
Nichts, dachte er. Sie weiß gar nichts. Und das machte ihn noch neugieriger. Wie konnte Demeter ihre Tochter eine Welt betreten lassen, die von Göttlichen beherrscht war, ohne dass sie etwas über sie wusste? Sie musste doch wissen, dass Persephone früher oder später ihren Weg in diese Welt finden würde.
Trotz seiner beunruhigenden Gedanken schenkte Hades ihr ein Lächeln. »Ich lasse Euch von meinem Fahrer nach Hause bringen.«
»Das ist nicht nötig.«
»Doch, ist es«, beharrte er.
Hades hatte nicht die Gewohnheit, der Welt zu vertrauen. Er wusste zu viel darüber, was unter der Oberfläche lauerte.
»Nun gut«, sagte sie unwirsch.
Er runzelte die Stirn. Wahrscheinlich war sie mehr als bereit, zu gehen, nur war er noch nicht so weit, sie gehen zu lassen. Nicht nach seinem letzten Gedanken.
Sorge für ihre Sicherheit, dachte er, nahm sie an den Schultern und beugte sich vor. Er hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Ihre Finger krallten sich in sein Hemd, und ihre Nägel kratzten über seine Haut. Er drückte die Lippen auf ihre Stirn, und die Hitze ihrer Haut raste ihm bis tief in den Bauch hinein, ließ seinen Schwanz pochen und seine Gedanken durcheinanderwirbeln wie Chaos. Er wollte ihr Gesicht anheben, ihren Mund küssen, ihre Zunge kosten.
Konzentriere dich auf die Aufgabe, sagte er sich wütend und gewährte ihr sein Privileg. In der Antike waren griechische Helden von Göttern begünstigt worden. Sie hatten besondere Waffen und Hilfe im Kampf erhalten, zu seltenen Gelegenheiten sogar eine zweite Chance zu leben. In der heutigen Zeit konnte ein Privileg alles Mögliche bedeuten – vom Zugang zu exklusiven Clubs, über unermesslichen Reichtum bis zum Schutz vor Schaden.
Hades gewährte Persephone Letzteres, zusammen mit Zugang zu seinem Reich. Dann löste er den Kuss. Nur Zentimeter von ihm entfernt, blickte sie zu ihm auf.
»Wofür war das?«, flüsterte sie.
Hades lächelte und strich mit einem Finger über ihre erhitzte Wange.
»Es ist zu Eurem Nutzen. Wenn sich nächstes Mal die Tür für Euch öffnet, wäre es mir lieber, Ihr würdet Duncan nicht provozieren. Falls er Euch noch einmal wehtut, werde ich ihn töten müssen, und es ist schwer, einen guten Oger zu finden.«
»Lord Hades«, war da Minthes Stimme zu hören. »Thanatos sucht nach Euch – oh!«
Die Anwesenheit der Nymphe verärgerte ihn, denn es bedeutete, dass Persephone nicht länger ihn ansah. Sie wollte sich ihm entziehen, aber Hades hielt sie fester, weigerte sich, sie loszulassen.
»Ich wusste nicht, dass Ihr Gesellschaft habt«, sagte Minthe, und ihre Stimme triefte vor Vorwurf. Vielleicht hatte Hekate recht gehabt, als sie vorgeschlagen hatte, dass er Minthe von seiner künftigen Braut erzählen sollte.
»Eine Minute, Minthe«, stieß er hervor, ohne sie anzusehen.
Als sie gegangen war, richtete Persephone wieder den Blick auf ihn, und er musterte sie mit zusammengepressten Lippen.
»Ihr habt meine Frage nicht beantwortet. Warum nutzt Ihr die Magie Eurer Mutter?«
Er wollte sehen, ob sie zugeben würde, was er schon wusste – dass sie keine Kontrolle über ihre Magie besaß. Stattdessen überraschte sie ihn, indem sie lächelte.
»Lord Hades«, sagte sie, und ihre Stimme klang rauchig und sinnlich. Sie strich mit einem Finger über seine Brust, und die Geste entfachte seine Sehnsucht nach ihr erneut. Er würde nach dem hier Erlösung durch seine eigene Hand suchen müssen. Er hielt das nicht aus. Wusste sie von ihrer Macht? »Die einzige Möglichkeit, Antworten von mir zu bekommen, bestünde durch ein neues Spiel mit Euch, und das ist im Augenblick nicht sehr wahrscheinlich.«
Dann griff sie die Aufschläge seines Jacketts und richtete sie, bevor sie sich vorbeugte, ganz ähnlich wie er zuvor im Foyer, und flüsterte: »Ich denke, Ihr werdet das bereuen, Hades.«
Ihr Blick fiel auf die rote Blume in seiner Brusttasche, und als ihre Finger über die Blütenblätter streiften, verwelkte die Blume auf der Stelle.