BONUSSZENE

Mitgefühl

Hades erschien auf dem Gehweg vor einer Bar mit dem Namen Tyche’s – obwohl die Bar der Göttin selbst nicht gehörte –, die für örtliche Livemusik bekannt war. Hier war auch der Ort, wo Orpheus spielte, und als Hades sich manifestierte, tat er es direkt vor dem Sterblichen.

Orpheus blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Er trug ein rot-schwarzes Flanellhemd und Jeans, seine Gitarre über den Rücken gehängt und den Gurt über die Brust gespannt.

Einen Moment lang sagte keiner von ihnen etwas, dann fragte Orpheus: »Bist du hier, um mich zu töten?«

Hades sah ihn nur an und schälte eine Schicht nach der anderen von Orpheus’ Seele, und unter dem Kummer, dem Sehnen und der Liebe fand er endlich, was er suchte – die Schuld. Sie war eine Last auf dem Sterblichen, hielt ihn in Fesseln, hielt ihn unter Wasser, unfähig zu atmen, unfähig, die Augen zu öffnen – unfähig, zu leben.

»Deine Seele ist niedergedrückt von Schuldgefühlen«, sagte Hades. »Warum?«

Dies hatte er schon früher bei Männern und Frauen gesehen, die betrogen, gelogen oder Geheimnisse vor ihren Partnern gehabt hatten, und Hades konnte nicht begreifen, warum sie ihn anflehten, einen geliebten Menschen zurückzubringen, wenn sie diesen im Leben so behandelt hatten. Doch Orpheus’ Schuldgefühle waren anders, und es störte Hades, dass er deren Ursprung nicht sehen konnte. Deshalb war er hier.

Der Sterbliche starrte ihn eindringlich an, und Tränen traten in seine Augen. Dann blickte er zu Boden und sagte: »Ich weiß es nicht. Ich fühle mich einfach … schuldig, weil ich Eurydike nicht öfter gesagt habe, dass ich sie liebe, und weil ich nicht mehr Zeit mit ihr verbracht habe. Ich fühle mich schuldig, weil ich lebe – weil ich nicht nur existiere, sondern weil ich alltägliche Dinge tue wie Fernsehen oder Zeit mit Freunden verbringen. Ich fühle mich schuldig, wenn ich lache oder etwas anderes als Traurigkeit fühle in ihrer Abwesenheit.«

Während er antwortete, rannen Tränen über seine Wangen. »Ich fühle mich einfach schuldig für alles.«

Beschämung legte sich schwer auf Hades’ Schultern. Er hatte sich in diesem Mann geirrt. Er war davon ausgegangen, Orpheus’ Schuldgefühle rührten daher, dass er seine Frau betrogen habe. Er hatte nie in Betracht gezogen, dass Orpheus solche Gefühle haben könnte, einfach weil sie nicht mehr lebte.

Hades wusste, wie es war, sich schuldig zu fühlen, aber dieses Schuldgefühl kannte er nicht – noch würde er es je kennenlernen. Er und Persephone waren unsterblich, und auch wenn sie im Augenblick nicht zusammen waren, wollte Hades sich nicht vorstellen, wie es wäre, weiter zu existieren ohne sie in der Welt.

Er legte dem Sterblichen eine Hand auf die Schulter, und Hades war überrascht, als dieser nicht zusammenzuckte.

»Komm, ich will dir etwas zeigen.«

Orpheus runzelte die Stirn, doch nach einem kurzen Moment nickte er. Hades fragte sich, warum der Mann sich so ungezwungen in seiner Gegenwart fühlte – oder war es so, dass er sich nicht dazu bringen konnte, etwas zu empfinden? Was auch immer der Grund war, Hades verschwand mit dem Sterblichen.

Sie erschienen im Asphodeliengrund, auf der Wiese, wo die Seelen Häuser gebaut, Gärten gepflanzt und Läden errichtet hatten. Heute, wie an den meisten Wochenenden, bereiteten sie ein Fest vor. Bunte Fahnen hingen zwischen den Häusern, Kinder rannten mit Körben voller Blumen umher, die sie auf die Straße streuten, und der Geruch von Süßem wehte aus offenen Fenstern, als sie Essen für den Abend zubereiteten.

»Wo sind wir?«, fragte Orpheus.

»Dies ist die Unterwelt«, sagte Hades. »Der Asphodeliengrund.«

Orpheus begegnete Hades’ Blick mit großen Augen.

»Aber es ist …« Er verstummte, und ein Lächeln spielte um Hades’ Lippen. Er wusste, was der Sterbliche sagen wollte – es war nicht das, was er erwartet hatte. Es war etwas, das niemand erwartete.

»Warum hast du mich hergebracht?«, fragte er schließlich.

»Du batest darum, Eurydikes Platz einzunehmen«, antwortete Hades.

»Ja«, hauchte der Sterbliche, und Hades fühlte seine Hoffnung steigen. Damit hatte er nicht wirklich gerechnet. Er hatte gedacht, der Sterbliche würde seine Bitte zurücknehmen, wenn er sich dem hier gegenübersah – aber er tat es nicht.

»Ich kann dir das zwar nicht gestatten. Aber ich möchte dir etwas anderes anbieten.«

Er hatte lange und intensiv über Orpheus nachgedacht und darüber, wie er ihm helfen könnte. Er hörte Persephones Worte in seinem Kopf und erinnerte sich an ihre Frustration: Hätte es deiner Kontrolle Abbruch getan, ihm auch nur einen kurzen Blick auf seine Frau zu schenken, sicher und glücklich in der Unterwelt?

Er würde sogar etwas noch Besseres tun.

»Ich gebe dir einen Abend«, sagte Hades. »Nutze deine Zeit gut, Sterblicher.«

»Orpheus?«, erklang da die Stimme einer schönen jungen Frau. Ihr dichtes Haar war schwarz und lockig, und ihre Haut ein sattes Braun. Die Kombination ließ ihre Augen aussehen wie grünes Feuer und ihre Lippen so rot wie eine kaiserliche Rose. Sie war lebhaft und voller Leben, selbst im Tode.

»Eurydike.«

Sie liefen aufeinander zu, umarmten sich, und als ihre Lippen sich trafen, wandte Hades sich ab. Die Szene erinnerte ihn nur daran, was er nicht mehr hatte, und die Einsamkeit wog schwer in ihm.

Er vermisste Persephone.

Er vermisste es, sie zu küssen, sie zu kosten, sie zu lieben. Er vermisste ihr kehliges Stöhnen, ihre Stimme und ihr Lachen. Er vermisste es, ihre Präsenz in der Unterwelt zu fühlen, die Seelen darüber reden zu hören, dass Persephone sie besucht, Tee mit ihnen getrunken und mit ihnen getanzt hatte. Er vermisste es, dass er Zerberus, Typhon und Orthrus nicht überreden konnte, Fangen zu spielen, weil sie lieber mit ihr auf Streifzug gehen wollten. Er vermisste es, ihren Duft zu riechen, und er wusste, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ihr Duft nicht länger in seinen Laken hing.

Er vermisste jede einzelne Kleinigkeit an ihr.

»Mein Lord.«

Hades hielt inne, als er Orpheus’ Stimme hörte, und drehte sich zu ihm um. »Danke. Ich werde allen, die zuhören, von Eurer Güte erzählen.«

Hades drehte sich ganz zu dem Mann um. »Sprich nicht von meiner Güte. Sprich von Persephones Güte. Sie ist es, die deine Verehrung verdient, denn sie hat meine Meinung geändert.«

Orpheus’ Augen weiteten sich, und Eurydike legte eine Hand an seine Wange und zog seinen Blick wieder auf sich, als sie sich erneut küssten.

Hades kehrte zurück in seinen Palast – und obwohl dieser sich ohne Persephone leer anfühlte, war er zufrieden mit dem Wissen, dass nach dieser Nacht Orpheus anfangen würde, die Verehrung seiner Göttin auf der Erde zu verbreiten.