Weil der Mann, der auf dem Flug nach New York neben mir saß, meinem Vater so ähnlich sah, ging ich davon aus, dass er jüdisch sei, und in der Art sprach ich mit ihm, bis er es mir bestätigte und ich ihm sagen konnte, das hätte ich mir schon gedacht und dass ich auch jüdisch sei, und er sagte, das habe er sich auch schon gedacht. Wir kamen also in unserem Gespräch schnell vom Wetter auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Da wir uns sympathisch waren und uns möglichst nicht gleich verkrachen wollten, schließlich hatten wir noch acht Stunden gemeinsamen Flug vor uns, brachten wir unsere Meinungen zu dem Thema zunächst vorsichtig vor. Es stellte sich aber glücklicherweise heraus, dass wir ähnliche politische Vorstellungen hatten, und so verbrachten wir die Zeit bis zum Lunch mit dem Entwerfen verschiedener Friedensinitiativen.
Als ich dann, während er sein Air-France-Menü verspeiste, mein in viele Schichten eingewickeltes und eingeschweißtes, vom Pariser Beth Din für koscher erklärtes Essen aß, wendete sich unser Gespräch auf natürlichem Wege mehr religiösen Themen zu. Er erklärte mir seine liberale, ja, wie er sich ausdrückte, »freie« Auffassung der jüdischen Religion und des Judentums, wir sprachen englisch, aber er sagte »frei« auf Deutsch, dieses Wort hat sich so im Jiddischen erhalten; und ich erklärte ihm meine Gründe für eine Annäherung an die strengere Auffassung, und dann wünschten wir uns guten Appetit und versicherten uns der gegenseitigen Toleranz. Schließlich: Kol Israel Chawerim! Alle Juden sind einander Gefährten! Wenn es bloß auch jenseits unserer Zufallsbegegnung so wäre!
Dann erzählten wir uns unsere Lebensgeschichten, unsere eigenen und die unserer Eltern und Ehepartner und deren Eltern, die alle ziemlich ähnlich klangen. Mein Nachbar war ein echter New Yorker, aber seine Eltern waren aus Polen eingewandert und hatten mit einem gutgehenden Lederwarenhandel reüssiert, den er geerbt, aber nun verkauft hatte, jetzt lebte er in der Nähe von Florenz, das war schon immer sein Traum gewesen. Ich zeigte ihm daraufhin meine Longchamps-Handtasche, die mir meine Freundinnen zu meinem letzten runden Geburtstag geschenkt hatten, immerhin haben fünf erwachsene Frauen zusammengelegt, um sie in der schicken Longchamps-Boutique zu erwerben. Aber er warf nur einen kurzen mitleidigen Blick auf die Tasche. Nun ja, er verstehe, dass sie einen emotionalen Wert für mich habe, aber ansonsten gebe es nur dort, wo er jetzt wohne, in der Nähe von Florenz, noch wirkliches Leder-Kunsthandwerk. Mit einem dieser florentinischen Taschen- und Kofferkünstler habe er sich eng befreundet, deshalb sei er auch dorthin gezogen, in einen kleinen Ort direkt am Arno. New York vermisse er nicht.
Ich erzählte von den Lebensstationen meiner Eltern, wie sie die Nazizeit überlebt hatten, wohin sie ausgewandert und dass sie nach dem Krieg wieder zurück nach Deutschland gekommen waren, worüber er sich sehr wunderte, really?, und wie ich selbst später von Berlin nach Frankreich ausgewandert bin. Da waren wir bei der Situation der Juden in Frankreich angelangt. Gibt es einen neuen Antisemitismus in Europa, fragten wir uns. Und wie sieht es in den USA aus? Sie sind auch nicht davor geschützt, o nein, waren es nie. Der Antijudaismus ist so alt wie die Geschichte der Juden, hat sie immer begleitet, immer aus anderen Gründen oder vielmehr aus immer denselben, wie viele Bücher darüber schon geschrieben wurden. Aber eigentlich mögen wir uns nicht für den Antisemitismus interessieren, das ist doch nicht unser Problem, es ist ihr Problem. Ja, klar, darin stimmten wir völlig überein.
Und da setzte das Flugzeug auch schon zur Landung an; während unserer Gespräche war die Zeit buchstäblich im Fluge vergangen.
Vor der Passkontrolle trennten sich unsere Wege, denn er ging bei den US-Citizens durch, während ich mich in die Schlange der Non-US-Citizens einreihte. Wir verabschiedeten uns, wir bedankten uns gegenseitig für die angenehme Begleitung.
Es blieb uns nur noch eine einzige Frage: Worüber reden eigentlich Gojim?