Im November 1947 reist Max Frisch schon zum zweiten Mal nach Kriegsende nach Deutschland. Nun betritt er zum ersten Mal Berlin und notiert in sein Tagebuch: »Kurt kauft eine kleine Skizze von Liebermann. Ferner gäbe es drei Täßlein aus Meißner Porzellan, einen Aschenbecher aus Messing und vieles andere, was man sonst nicht braucht.«
Das klingt erst einmal nicht so aufregend, Schwarzmarktatmosphäre eben, wenn nicht genau diese »Täßlein« aus Meißner Porzellan im obersten Regal meines Küchenschranks stünden. Ich hole sie nur für seltene Gelegenheiten, für würdige Gäste über vierzig heraus.
Die Meißner Täßlein sind klein und zierlich und sehr zerbrechlich. Sie gehören jetzt mir, aber stammen, genau wie die Zeilen aus Max Frischs Tagebuch, aus einer Vorzeit meines Lebens, einer allerdings nahen Vorzeit, einer Frühzeit, der frühen Nachkriegszeit.
Als der unbestimmt bleibende »Kurt« in Begleitung von Max Frisch im zerstörten Berlin seine kleine Skizze von Liebermann auf dem Schwarzmarkt erwarb, kaufte auch meine Mutter auf dem Schwarzmarkt die Meißner Täßlein und dazu einige Zeichnungen, nicht von Liebermann, sondern von Lovis Corinth. »Alles unerschwinglich teuer, wenn man mit Löhnen rechnet, aber billig, wenn man mit Zigaretten rechnet«, notiert Max Frisch, und meine Mutter hat das oft genauso bestätigt, auf dem schwarzen Markt in Berlin gab es damals für ein paar Zigaretten al-les, erzählte sie manchmal, wenn sie einem Gast Kaffee in das Meißner Täßlein goss oder er die Corinth-Zeichnungen an unserer Wohnzimmerwand bewunderte. Und wenn sie diese Bemerkung machte, klang immer irgendeine Art Spott in ihrer Stimme mit: »Die blöden Deutschen — wenn sie nicht die ganze Welt in Scherben gelegt hätten, könnten sie die Täßlein noch unversehrt in ihren Schränken zu stehen haben.«
Meine Eltern waren ziemlich genau zur gleichen Zeit nach Berlin gekommen wie Max Frisch, aber nicht, wie er, als Beobachter und Besucher der zerstörten Städte Europas; sie waren wiedergekommen, um in Berlin zu leben, zu arbeiten und den Deutschen zu helfen, aus ihrem Schutt wieder auf die Beine zu kommen. Für Juden eine nicht ganz selbstverständliche Motivation.
Diese frühe Nachkriegszeit ist, wie gesagt, eine Vorzeit meines Lebens, aber sie streckt sich in mein eigenes Leben hinüber und reicht noch immer hinein, als ein Zeitriese sozusagen, eine Zeit, die ich nicht erlebt habe, die vergangen ist, die aber an mir haftet wie eine Haut, durch Überlieferung und Erzählung. Dann haben die das … und es wäre … und es war, und es ist gewesen … und dann und dann und dann … und wenn nicht … so war das.
In den Beobachtungen, wie Frisch sie in seinem Tagebuch notiert hat, finde ich viele Eindrücke wieder, die ich von meinen Eltern oft genauso geschildert bekommen habe: Die Russen sprechen tadelloses Deutsch, sie »nehmen den Geist sehr ernst, offensichtlich entsenden sie ihre besten Leute. […] Unser Gespräch hat keinen einzigen Namen zutage gefördert, der ihnen nicht bekannt ist.«
Meine Eltern arbeiteten zu dieser Zeit mit den russischen Kulturoffizieren der sowjetischen Besatzungsbehörde zusammen, um die deutsche Kultur wieder aufzurichten, Theater, Film, das ganze Pressewesen — natürlich in ihrem, im sowjetischen Sinn. Von diesen Kulturoffizieren, sie waren oft Juden, habe ich meine ganze Kindheit über sprechen gehört, sie müssen sich wohl aus denselben Gründen in die Erinnerung meiner Eltern eingeprägt haben, die Max Frisch nennt, »offensichtlich entsenden sie ihre besten Leute«. Einer dieser Männer hieß Georgi Bespalow, den Namen habe ich so oft gehört, dass ich ihn bis heute nicht vergessen kann und auch gar nicht vergessen will. Sein großes Engagement für die deutsche Kultur hat er später mit mehreren Jahren Gulag bezahlt, den er nach seiner Rückkehr aus den sibirischen Lagern nicht mehr lange überlebte. Das hat mir seine Witwe erzählt, die ich in den siebziger Jahren fast »zufällig« in Moskau traf. Als ich, zurückgekehrt, meinen Eltern diese schlechte Nachricht überbrachte, schwiegen sie verlegen, hätten es wohl lieber nicht gehört. Ach, der Arme.
»Kleiner Empfang durch den Kulturbund, der im Westen verboten ist«, notiert Max Frisch weiter. »Einige bekannte Gesichter, die als Emigranten in der Schweiz gewesen sind … Nachtessen in der sogenannten ›Möwe‹, wo die Künstler ohne Marken speisen können: zwei Kartoffeln, Fleisch, etwas Grünes sogar, Bier.«
Die »Möwe«, eines der wenigen unzerstört gebliebenen kleinen Stadtpalais im Zentrum Berlins, war von den russischen Besatzungsbehörden requiriert und dann den Theaterschaffenden Berlins geschenkt worden, daher, nach dem Stück von Tschechow, der Name »Möwe«. Die »Möwe« blieb auch weiterhin ein Theaterclub, man blieb dort unter seinesgleichen, ein Club eben, nach englischer Art. Später, als man schon überall ohne Marken essen konnte, besuchten meine Eltern noch immer die »Möwe« und nahmen mich oft mit, später ging ich mit Freunden oder Kollegen vom Theater dorthin. In der »Möwe« wurden kleine oder große Feste gefeiert oder Sylvester, oder man ging einfach essen, Kaffee trinken, Leute treffen oder Bücher ausleihen, eine Bibliothek war dort nämlich auch eingerichtet, wir konnten da Theatertexte von Beckett, Edward Bond oder gar Artaud ausleihen, die sonst in der DDR auf irgendwelchen Schwarzen Listen standen.
Die frühe Nachkriegszeit muss, da sie noch so lange nachgeklungen hat, eine sehr intensive Zeit gewesen sein. Aber auch ein seltener Moment der Hoffnung auf einen gelingenden Aufbruch aus dem Schlamassel nach der großen Katastrophe. Max Frisch beschreibt die Landschaft und Szenen vom Leben auf dem zerstörten Planeten:
»Später zum Brandenburger Tor. […] Stille wie in den Bergen, nur ohne das Rauschen eines Gletscherbaches. In den Zeitungen gibt es eine Spalte für tägliche Überfälle, es kommt vor, dass man eine kleiderlose Leiche findet … Ein Hügelland von Backstein, darunter die Verschütteten, darüber die glimmernden Sterne; das letzte, was sich da rührt, sind die Ratten. Abends in die Iphigenie.«
Irgendeine Hoffnung müssen meine Eltern in diesem Moment, in dem Hügelland von Trümmern, zwischen Verschütteten, Ratten und der »Iphigenie«-Aufführung, gefunden oder sich erhalten haben, die vielleicht sogar ihren Ausdruck in dem Entschluss fand, ein Kind, mich, in die Welt zu setzen. Meine Eltern waren nämlich nicht mehr sehr jung, von derselben Generation wie Max Frisch, aber sie gehörten nicht zu den Verschonten, wie Frisch sich im Vorspruch zu seinem Tagebuch selbst bezeichnet. Er legte offensichtlich großen Wert auf diese Bemerkung, er erklärt sich als einer, der außerhalb steht und dessen Beobachtungen aus dieser sicheren Distanz stammen.
Meine Eltern waren relativ Verschonte, da sie im englischen Exil die Nazizeit überleben konnten, und ich bin eine Nachgeborene. Eine von der sogenannten zweiten Generation. Diese Zählung allein markiert den tiefen Einschnitt der Jahre der Judenverfolgung und des Kriegs, wir zählen ein Davor und ein Danach. Die Jahre dazwischen folgen ganz anderen Zählungen, Anzahl der Länder und überschrittenen Grenzen des Exils, Zahl der Verstecke und Zahl der Tage in den Verstecken, Zahl der Lager, Zahl der Toten und Ermordeten. Sie lassen sich schwer erzählen.
An die Nachgeborenen wendet sich Bertolt Brecht:
Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut,
in der wir untergegangen sind,
gedenket,
wenn ihr von unseren Schwächen sprecht,
auch der finsteren Zeit,
der ihr entronnen seid.
Frisch erwähnt das Gedicht mehrmals in seinem Tagebuch und widmet Brecht auch in seinem zweiten Tagebuch (1966—1971) noch einmal Erinnerungen an ihre Begegnungen. Er hatte Brecht wenige Tage nach dessen Rückkehr aus dem Exil in Zürich kennengelernt und blieb ihm dann in einer kollegialen Freundschaft verbunden, hat ihn oft besucht.
Der Name Brecht hat eine besondere Farbe in diesem »Klang« der frühen DDR-Zeit, der »Möwe«, des Neuanfangs. In seinem Tagebuch, viel mehr einem sehr knappen Arbeitsjournal, erwähnt Brecht übrigens auch die »Möwe«: »die koffer aus der schweiz sind noch unterwegs, die COURAGE im deutschen theater geht immer noch ausverkauft, helli hat büroräume in der ›möwe‹, ein ensemble ist zusammengestellt.«
Bertolt Brecht ist, glaube ich, eine der seltenen Meisterfiguren, denn das war er für alle angehenden Künstler in der frühen DDR-Zeit und auch noch lange danach, der nichts von einem Übervater hatte, gegen den man sich allzu heftig auflehnen musste, sondern der für uns ein für alle Mal jede Miefigkeit und Tümlichkeit der Kunst des Bildungsspießertums, wie er es nennt, von der Bühne fegte und darüber hinaus aus der Idee von der Kunst allgemein. Das war schon immerhin etwas und wog seine ideologische Naivität, falls es Naivität war, allemal auf.
Ich kann Frisch nur bewundern, wie er gleichzeitig Brechts Meisterschaft würdigt, aber die ideologische Überfrachtung einiger seiner Werke sofort erkennt und es genau treffend, wie ich finde, ausspricht, »das Nur-Ideologische, genau wie das Nur-Ästhetische [ist] eine andere Art, nicht wirklich zu sein«.
Der Nachsicht gedenkend, die Brecht von uns Nachgeborenen erbittet, will ich annehmen, dass er und meine Eltern und all die anderen Genossen Rückkehrer, die da in der »Möwe« saßen, sich ihre parallele Welt, also eine Nicht-Wirklichkeit schaffen mussten, um ihr politisches Engagement weiter für gültig ansehen zu können. In dieser parallelen Welt verschlossen sie sich wie in einen geschützten Raum und lebten, wie Frisch auch beobachtet, hauptsächlich in Kolonien, »sie wissen, dass sie in Berlin sind, aber die Berliner sind [für sie] so etwas wie Eingeborene.« […] »Vergessen Sie nicht, Frisch, es sind Deutsche!«, erinnert ihn Brecht. »Vielleicht kommen Sie auch einmal in diese interessante Lage […], dass Ihnen jemand von ihrem Vaterland berichtet, und Sie hören zu, als berichte man Ihnen von einer Gegend in Afrika.«
Diese Entfernung von der Wirklichkeit, die Fremdheitsgefühle nach der Rückkehr nach Deutschland, gepaart mit tiefem Verletztsein, haben lange angehalten, und ich fürchte, meine Eltern haben einen Teil davon, genau wie die Meißner Täßlein, an mich weitergegeben.
Max Frisch, dem sein Vaterland glücklicherweise nie abhandenkam und für den die Zugehörigkeit zu ihm im Guten und im Bösen immer fraglos blieb, konnte oder musste, vielleicht um sich dieser festen Zufügungen zu erwehren, seinen Figuren neue Identitäten suchen, verschiedene Biografien ausprobieren lassen und sich fragen, »ob es möglich wäre, dass unser Leben auch hätte anders verlaufen können«. Was eine gewisse Freiheit voraussetzt, nach der er eben fragt.
Für Juden seiner Generation waren diese Freiheiten so gut wie nicht mehr möglich, sie waren überdeterminiert, wie Sartre es nennt. Mein Vater beschrieb diese Tatsache mit dem Bonmot, »zu Hause Mensch und auf der Straße Jude«. Ich nehme sogar an, dass die Hingabe an die kommunistische Idee, zumindest teilweise, dem Wunsch entsprang, dieser Überdeterminierung zu entrinnen, um einfach Mensch, Genosse, Kamerad zu sein. Eine Flucht nach vorne, nachdem jüdische Überlieferung, Konvention und Religion schon lange abgelegt und abhanden gekommen waren, um diese Anerkennung als Mensch durch die Genossen Mitmenschen zu finden. Auch diese Illusion scheiterte, denn so sehr die jüdischen Remigranten, wie zum Beispiel meine Eltern, auch bemüht waren, sich an das von ihnen frei gewählte Milieu anzupassen und ihre Herkunft zu verleugnen, es nützte ihnen, wie schon in allen vorherigen Zeiten, gar nichts.
Am 30. April 1952 fasst die Stasi zusammen:
»Äußerlich versucht H. den Fortschrittlichen und aktiven Genossen zu spielen. Honigmann und Frau verhalten sich völlig reserviert gegenüber den Genossen, sind sehr eingebildete und angeberische Menschen und tragen auffällig westliche Kleidung. Sie beherrschen die englische Sprache in Wort und Schrift. Es wurden zwei GM angeworben, die laufend im [sic] Wohnsitz und Arbeitsstelle Informationen zusammenstellen sollen.«
Der »Stiller« gelangte mit etwa zehnjähriger Verspätung zu uns in die DDR, jedenfalls zu mir, nicht, dass er in der DDR verlegt worden wäre, dafür brauchte es noch einmal zehn Jahre — nein, wie alles andere, was an Büchern und Platten wichtig war, hatte jemand das Buch aus Westberlin herübergebracht. Es war die Zeit, als meine Freundinnen und ich gerade in ausgeleierten schwarzen Rollkragenpullovern herumliefen und zwar sozusagen Tag und Nacht, jedenfalls ob es regnete oder die Sonne schien. Wir waren 14-jährige Mädchen und hatten etwas von Existenzialismus, Sartre und Camus gehört, hatten »Stiller« gelesen und Juliette Greco im Radio gehört und auf Fotos von Saint-Germain-des-Prés gesehen, dass da alle rauchend und in schwarzen Rollkragenpullovern herumsaßen. Der Verwandlungstraum des »Stiller« gefiel uns, und es leuchtete uns ein, dass der Mensch ist, wozu er sich macht, und überhaupt, dass der Mensch Freiheit ist, und da wollten wir als 14-Jährige, bevor wir noch wussten, wer wir denn waren, schon mal anders sein, das war klar. Unbewusst oder halbbewusst lehnten wir uns gegen die festgeschriebene Herkunft, die festgelegten Rollen, Erwartungen und Forderungen auf, die uns das Leben bald antragen würde, indem wir uns kettenrauchend in schwarzen Pullovern zu Existenzialisten, oder was wir dafür hielten, »entwarfen«, und brachten damit immerhin unsere Umgebung zu kopfschüttelnder Missbilligung und unsere Eltern zur Verzweiflung. Wenigstens gaben wir nicht die netten hübschen Mädchen, wie es sich gehört hätte, und stimmten der Idee zu, »dass der Mensch zuerst ein Entwurf [ist], der sich subjektiv lebt, anstatt nur ein Schaum zu sein oder eine Fäulnis oder ein Blumenkohl«, wie wir bei Sartre in dem Taschenbüchlein von 1963, das heute noch in meinem Regal steht, lasen, in dem Essay »Ist der Existenzialismus ein Humanismus?«. Gefolgt von den »Betrachtungen zur Judenfrage«, in denen ich damals, abgesehen von der genauen Analyse des Antisemitismus, auch den Typ Juden gezeichnet fand, den ich nur allzugut kannte, den Sartre le juif inauthentique nennt und der von dem ungenannt bleibenden Übersetzer mit »der verschämte Jude« übersetzt wird. Die Übersetzung von inauthentique mit »verschämt« finde ich gar nicht so schlecht, da sie doch ins Zentrum des Problems trifft, den »Makel der Geburt« und die Scham darüber. Natürlich kann man auch unverschämt jüdisch sein, ohne authentisch zu sein, und was überhaupt »authentisch« ist, darüber kann man lange streiten, wahrscheinlich gibt es schon lange keinen »authentischen Menschen« mehr auf der Welt.
Als meine Freundinnen und ich dann zur »2. Erweiterten Oberschule Berlin-Mitte« kamen, so hieß die Schule, nachdem ihr ursprünglicher Name »Gymnasium zum Grauen Kloster« getilgt worden war, trotz humanistischer Tradition, auf die die DDR ansonsten großen Wert legte, und wir dort die letzten vier Jahre bis zum Abitur absolvierten, trugen wir immer noch Jeans statt Röckchen, schwarze Rollkragenpullover statt Blüschen, lümmelten uns in den Bänken, statt ordentlich zu sitzen, rauchten in den Pausen und trugen West-Bücher unter dem Arm, die wir auch lasen, was am allerschlimmsten war. Zu Beginn des Schuljahres sollte sich jeder mit einem Lied und einer kurzen Selbstbeschreibung der Klasse präsentieren, und meine Freundin Wera sang stolzen Hauptes: »Die Gedanken sind frei, wer kann sie erhaschen«, und dann sagte sie ebenso tapfer: »Meine Eltern sind Juden, sie haben die Nazizeit und den Krieg in der Emigration in England überlebt, mein Bruder wurde in London geboren, icke in Berlin.« Absolutes Schweigen in der Klasse. Sozusagen Totenstille. Noch nie hatte einer unserer Klassenkameraden einen lebenden Juden gesehen.
Es war ein gewagtes Geständnis. Aber es war wichtig, um dem verschämten Judentum zu entkommen. Es blieb wichtig. Es ist noch heute wichtig.
Damals in der DDR stützte diese Herkunft sogar die gewisse Aufmüpfigkeit und Unangepasstheit unserer kleinen Gruppe von Emigrantenkindern. Den Mut dafür schöpften wir nämlich zum großen Teil aus dem Bewusstsein, nicht in die historische deutsche Schuld verstrickt zu sein. Unsere Eltern waren keine Nazis gewesen. Das machte das Leben zwar auch nicht leichter, aber es war wenigstens eine Klarheit. Eine Würde und Bürde zugleich. Selbst ein so ausgesprochener Dissident wie Wolf Biermann, dessen verbotene Lieder auf vielfach kopierten Tonbändern damals von Hand zu Hand gingen und in dessen »Wohnbühne« nur seine Gefährten sein Publikum waren, nahm sich seine Frechheiten gegen das Regime wohl auch im Bewusstsein heraus, dass sein ermordeter Vater ihm beistehe.
Ich singe für meinen Genossen Dagobert Biermann
der ein Rauch ward aus den Schornsteinen
der von Auschwitz stinkend auferstand
in die viel wechselnden Himmel dieser Erde
und dessen Asche ewig verstreut ist
über alle Meere und unter alle Völker …
So beginnt der »Gesang für meine Genossen«, und es endet:
In ungebrochener Demut singe ich den Aufruhr.
»Die Würde des Menschen, scheint mir, besteht in der Wahl«, schreibt Max Frisch in seinem Tagebuch. Unsere Wahl bestand damals darin, diese zweifelhafte Auszeichnung anzunehmen, von anderer Herkunft zu sein als unsere Mitschüler, als unsere Studienfreunde und späteren Kollegen, und es hieß gleichzeitig, die Wahl unserer Eltern, nach Deutschland zurückzukehren, ebenfalls zu akzeptieren oder sie wenigstens nicht andauernd in Frage zu stellen, also Deutsche zu bleiben, statt sich wie die Kinder anderer Ausgewanderter in Engländer, Amerikaner, Israelis oder Australier zu verwandeln, die die deutsche Sprache nicht mehr sprechen, die unter Juden »seitdem« sowieso in schlechtem Ansehen steht, und die die deutsch-jüdische »Beziehung« ihrer Eltern und Großeltern ein für alle Mal beendet haben.
Deutsche Juden sind heute nämlich nicht nur verschämte Juden, sondern auch verschämte Deutsche. Deshalb gab der Großvater meines Mannes, Rudolf Schottländer, der sich während der Zeit der Verfolgung als Jude vor seinen deutschen Mitbürgern in einer Kleingartensiedlung in Berlin versteckt hat, seiner kurzen Autobiografie auch den Titel »Trotz allem — ein Deutscher!«.
Viel Zeit ist vergangen, seit meine Freundin so tapfer »Die Gedanken sind frei« gesungen hat. Die Probleme von damals, mit dem Deutschen und dem Jüdischen und dem unabhängigen Denken, haben sich seither nicht verflüchtigt. Ich versuche jetzt aber, mich ihnen zu stellen, sie sind sogar ins Zentrum meines Lebens und meines Schreibens gerückt und waren vielleicht sogar der Antrieb zu Letzterem. Denn ich bin dann selbst Schriftstellerin geworden wie Max Frisch, der schon ein richtiger Schriftsteller war, als ich noch mit meinen Freundinnen im schwarzen Rollkragenpullover herumlümmelte. Aber er war noch mein Zeitgenosse, sogar Brecht war noch mein Zeitgenosse, wir haben noch die Luft derselben Atmosphäre geatmet. Frisch und Brecht haben diese Atmosphäre, die geistige jedenfalls, in der ich aufwuchs, geprägt. Kein zur Kunst strebender junger Mensch konnte sich den Strömungen dieser Atmosphäre entziehen, er musste sich darin behaupten, aber sie gaben ihm auch den Elan, den es braucht, um den Moment zu finden, sich an seinen Schreibtisch oder in ein Café oder sonst einen Ort zu setzen und zu versuchen, seine Gedanken und Ideen zu verfertigen und ihnen Gestalt zu geben, statt sie nur zu träumen. Diese Zeitgenossenschaft ist wahrscheinlich mindestens so prägend wie die Begegnung mit den Dichtern aus vergangener Zeit, die man sucht und bei denen man sich selbst wiederfindet.
Schreiben heißt ja wiederfinden. Die verlorene Zeit zum Beispiel oder sich selbst. Frisch sagt an einer Stelle seines Tagebuchs: »Schreiben heißt sich selber lesen. Was selten ein reines Vergnügen ist, man erschrickt auf Schritt und Tritt, man hält sich für einen fröhlichen Gesellen und wenn man sich zufällig in einer Fensterscheibe sieht, erkennt man, dass man ein Griesgram ist.«
Ich bin aus einer ganz anderen Konstellation heraus Schriftstellerin geworden als Max Frisch — Frau, Jüdin, Deutsche und dazu noch aus dem Osten. Für einen fröhlichen Gesellen habe ich mich noch nie gehalten. Aber andere haben das getan und sind dann, wenn sie eines meiner eher traurigen Bücher gelesen hatten, gekommen und haben gefragt, aber sag mal — du bist doch sonst immer so lustig!
Der Antrieb zum Schreiben und der Wunsch, sich, in welcher Kunstform es auch sei, auszudrücken, speist sich wohl immer aus derselben Quelle, der Hoffnung, »dass das Chaos sich ordnen lasse, fassen lasse wie ein Satz, und die Form, wo immer sie einmal geleistet wird, erfüllt uns mit einer Macht des Trostes, die ohnegleichen ist«. So formuliert es Max Frisch, und ich empfinde es ganz genauso.
Diese Sätze, ebenfalls aus dem frühen Tagebuch 1946—1949, lässt er noch in seiner letzten Poetik-Vorlesung in New York im Jahr 1981 gelten. Das erstaunt mich und berührt mich, seine Bücher gab es ja schließlich schon, als ich noch eine Schülerin war, und ich hatte mir deshalb immer vorgestellt, dass so ein »gestandener« Schriftsteller diesen Trost gar nicht mehr nötig habe. Schließlich hatte Max Frisch es in seinen Arbeiten, im Drama und in der Prosa zu dramaturgischer Perfektion und höchstem ästhetischen Können gebracht und war sich darüber hinaus seiner Rolle als Schriftsteller wohl bewusst. Er nahm sogar die Rolle des »engagierten Schriftstellers« an, ohne sich dafür zu schämen und ohne sich über die Wirkungslosigkeit dieses Engagements Illusionen zu machen. Und vor allem, ohne ideologisch zu sein, sondern der Ideologie und aller ideologisch aufgeladenen Literatur zu misstrauen, da sie behauptet, Antworten geben zu können, statt zu fragen, zu klagen, zu suchen, zu beschreiben, zu beunruhigen. Denn das ist es, was die Literatur zu leisten hat, nicht mehr und nicht weniger, und es ist schon mutig genug, da die Menschen sich und allen anderen ja gerne irgendein Theater vorspielen, um nur ja nicht hinter die Kulissen schauen zu müssen, und wenn doch, dann andere für das Chaos, das sie da entdecken, verantwortlich zu machen — gerne Juden, Fremde, Klassenfeinde, Frauen oder Katzen.
Der Schriftsteller neigt dazu, sich immer wieder vergewissern zu müssen, was er da tut, darin besteht wahrscheinlich auch der Unterschied zu allen anderen Berufen. Schließlich erwirbt er keinen Titel, kann keinen Abschluss einer Ausbildung vorweisen, hat auch keine feste Stelle, und schon oder nur in diesem Sinne muss jeder Schriftsteller engagiert, sehr engagiert sogar sein, sonst würde er an manchen Tagen leicht den Mut verlieren, sich immer wieder dem Dienst an einer sozusagen höheren Wahrheit und der Suche nach Wahrhaftigkeit verpflichtet zu glauben.
»[…] gleichviel, wo Wahrhaftigkeit geleistet wird, sie wird uns immer einsam machen, aber sie ist das einzige, was wir entgegenstellen können: Bilder, nichts als Bilder und immer wieder Bilder, verzweifelte, unverzweifelte, Bilder der Kreatur, solange sie lebt«, formuliert es Max Frisch in seiner Büchner-Preis-Rede 1958.
Neulich war ich in Berlin zufällig in der Gegend, wo die »Möwe« gewesen war, in der Luisenstraße, und dachte plötzlich, ich werde mal nachsehen, was wohl aus ihr geworden ist. Aber ich konnte sie nicht mehr finden, sie war nicht mehr da, sogar das Gebäude konnte ich nicht wiederfinden, oder ich habe es nicht wiedererkannt. Eine der mir vertrautesten Ecken Berlins, abgelegen und ruhig damals, weil zu nah an der Mauer, hat nun nach dem Wegfall der Mauer die Topografie, die sie in meinem Kopf hatte, verloren und ihre ursprüngliche wiedergefunden. Wenn ich heute so ganz normal mit dem Bus aus dem Westen hinüberkomme, stimmt die alte Orientierung für die Ostlerin, die ich war, nicht mehr. Die Straßen haben sich sozusagen verlegt, gehen in völlig neue Richtungen, die ich nie gekannt habe, sie sind umstellt von Gebäuden, die ich nie gesehen habe, und Geschäften, die es nicht gab, und die »Möwe« ist nicht mehr auffindbar. Ja: »Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach! wie die Jahre.« Wie wahr ist dieser Satz von Marcel Proust!
In meinem Kopf aber existiert der Künstlerclub »Die Möwe« noch immer, und auch die russischen Kulturoffiziere leben noch in meiner Erinnerung, im Nachklang, nein im Klang der Erzählungen, die ich so oft gehört habe und denen ich in Max Frischs Tagebuch überraschend wiederbegegnet bin.
Und sogar die Meißner »Täßlein« habe ich noch alle im Schrank.