Ist es eine Widmung oder ein Motto, das Elisabeth Langgässer ihrem Roman »Das unauslöschliche Siegel« voranstellt? Commystis commito — den Miteingeweihten gewidmet. Die mystes sind die Eingeweihten.
Das ist es, was mir die Lektüre von Elisabeth Langgässers Texten schwer macht. Ich fühle mich nicht als Mit-Eingeweihte, also eine, der das Buch gewidmet, für die es geschrieben worden ist. Bei der wiederkehrenden Stendhal’schen Widmung hingegen, die auch ein Motto ist, To the happy few, fühle ich mich selbstverständlich mit eingeschlossen, obwohl der Unterschied zwischen den happy few und den commystis nur eine Nuance ist, aber im Raum dieser Nuance geht es weniger geheimnisvoll, weniger dunkel zu. Vielleicht bin ich noch ein letztes Kind der Aufklärung, jedenfalls verspüre ich keine Neigung zum Mystischen, und am Judentum zieht mich seine helle, die Tagesseite, an und nicht die mystische, kabbalistische, von der so viele Nicht-Juden merkwürdigerweise glauben, sie repräsentiere das Jüdische in besonderer Weise. Das Gegenteil ist der Fall.
Ich bin also Jüdin. Der Langgässer-Preis stellt für mich eine gewisse Herausforderung dar, das Werk Elisabeth Langgässers, ihre Person, ihre Lebensgeschichte erscheinen mir schwierig und problematisch. Natürlich muss ich sie in ihrem katholischen Glauben akzeptieren und tue das auch, aber den Kampf, der auf jeder Seite ihres Werkes zwischen Gott, Satan, Vorsehung, Versuchung, Auferstehung, Gottheit Christi und den trotz Taufe noch immer schwankenden Juden und deren schließlich erfolgender gnadenvoller Erlösung und Wiedergeburt geschildert wird, und zwar in einer überzeitlichen, zauberischen Sprache, kann ich nicht mitkämpfen, auch deshalb nicht, weil alle diese Wörter auf allen Seiten stehen, um die Botschaft Christi zu übermitteln, die schon viele Generationen meiner Vorväter und Vormütter nicht gehört haben und nicht hören wollten. Abgesehen davon, dass ich Texte mit Botschaften nicht so mag.
Aber auch andere Leser Elisabeth Langgässers werden ihre Schwierigkeiten haben, wenn sie des Lateinischen nicht so mächtig sind, um die Widmung zu verstehen, die sie, wer weiß, ob gewollt?, von vornherein ausschließt, und sie werden wohl auch die unzähligen Referenzen und Metaphern aus der griechischen und römischen Mythologie nicht mehr in ihre eigene Sprache und Lebenswirklichkeit übertragen und mit der christlichen Glaubensunterweisung nicht viel anfangen können.
Den Namen Elisabeth Langgässer kannte ich nicht, bevor ich ihm in Cordelia Edvardsons Buch »Gebranntes Kind sucht das Feuer« begegnete. In der Bibliothek meiner Eltern, die meine frühen Lektüren bestimmte, gab es die Klassiker-Ausgaben und Heine und Rilke, die Manns, Brecht und eine wahrscheinlich nicht vollständige Gesamtausgabe von Sigmund Freud, die seine Tochter in London (bei Imago) herausgegeben hat, von wo sie meine Eltern mitgebracht hatten. Meine Mutter schenkte sie dann einem befreundeten Psychiater in der DDR, der sich über dieses Geschenk sehr gefreut haben dürfte, denn in der DDR wurde Freud natürlich nicht verlegt. Es gab auch den Roman »Die Thibaults« des Nobelpreisträgers von 1937, Roger Martin du Gard, ein französischer Schriftsteller des Renouveau catholique, an dem sich Langgässer in den dreißiger Jahren stark orientiert hat. Aber Werke von Elisabeth Langgässer fand ich in der Bibliothek meiner Eltern nicht, und ich kann mich auch nicht erinnern, ihren Namen je vorher gehört zu haben.
In der unerhörten Überlebensgeschichte ihrer Tochter Cordelia — alle Überlebensgeschichten sind unerhört — ist sie mir dann zum ersten Mal begegnet, also nicht als Autorin eines ihrer Werke, sondern in dieser schwierigen Mutter-Tochter Beziehung, um es vorsichtig auszudrücken. In diesem Buch erzählt die Tochter vierzig Jahre später, lange nach dem Tod Elisabeth Langgässers, die Geschichte, die ihre Mutter nicht erzählt hat, das heißt, sie stellt richtig, was die Mutter aus ihrer Perspektive nur angedeutet hat. Sie schildert, in deutlicher Sprache und ohne metaphysische Überfrachtung, ihre Deportation und ihr Überleben in Auschwitz, dem Ort, der viel dunkler war, als jedes mystische Erleben es je sein kann.
Kurze Zeit, nachdem Elisabeth Langgässer überhaupt erst vom Überleben ihrer Tochter erfahren hatte, bittet sie sie in einem Brief, ihr doch ihre Erfahrungen in »A.« im schriftlichen Bericht mitzuteilen; wiedergesehen haben sie sich erst später und auch nur noch ein einziges Mal. Den Namen Auschwitz schreibt sie nicht aus. Nur A. Kann sie es nicht, wagt sie es nicht, ist das schon eine Verharmlosung? Das muss es wahrscheinlich sein, denn sonst könnte sie in demselben Brief nicht behaupten, »in Wirklichkeit weiß ich ja alles [›weiß ich ja alles‹ unterstrichen], was ich aber brauche [brauche!], sind ganz reale Anschauungen!«
Alles in mir sträubt sich, wenn ich diese Zeilen lese, es bringt mich auf, ich empfinde es nicht nur als gefühllos, sondern eigentlich als unanständig. Aber es ist jetzt natürlich sehr leicht für mich, aufgebracht zu sein und zu urteilen und gar zu verurteilen oder über einen noch früheren Brief Elisabeth Langgässers entsetzt zu sein, in dem sie 1933 darum bettelt, doch wieder in die Reichsschrifttumskammer, aus der sie auf Grund der Rassengesetze ausgeschlossen worden war, sie galt, obgleich katholisch getauft, als Halbjüdin, aufgenommen zu werden, und zwar mit dem Argument, ihre künstlerische Begabung käme einzig und allein aus der rein arischen Linie ihrer mütterlichen Herkunft, sie sei doch auch mit einem Arier verheiratet und die jüdischen Verlage hätten sie alle mehr oder weniger boykottiert. Als sie keine Antwort erhält, wendet sie sich mit denselben Argumenten noch einmal direkt an Goebbels, der ihr natürlich auch nicht antwortet. Und setzt dann weiter, mit mäßigem Erfolg, alles in Bewegung, um nur ja auf der Bühne der deutschen Literatur präsent zu bleiben; das »innere Exil« sucht sie erst, als ihr kein anderer Weg mehr offensteht. Die Idee, auszuwandern, scheint ihr nie in den Sinn gekommen zu sein, obwohl Kollegen, enge Freunde und Bekannte, einer nach dem anderen das Land verließen.
In ihrer Korrespondenz aus dieser Zeit erscheint sie übelnehmend und selbstgerecht. Ich verstehe: Es ist eine schwere Zeit, sie möchte sich als Schriftstellerin behaupten, ihre Position ist unsicher und gefährdet und wird noch viel unsicherer und gefährdeter werden. Ihre Anstrengungen um Anpassung nutzen ihr nämlich nichts, die Rassengesetze belegen sie ein für alle Mal zu Zeiten des Dritten Reichs mit Publikationsverbot.
Zur gleichen Zeit, 1933, schreibt die Karmeliternonne Edith Stein ihre Autobiografie »Aus dem Leben einer jüdischen Familie«. Es ist vielleicht unfair, diese beiden Figuren miteinander zu vergleichen, Elisabeth Langgässer und Edith Stein, der Vergleich drängt sich mir jedoch auf. Edith Stein war knappe zehn Jahre älter als Elisabeth Langgässer und offensichtlich eine sehr viel intellektuellere Frau; sie promovierte bei Edmund Husserl und assistierte ihm mit Heidegger zusammen an der Universität Freiburg, ging durch Zeiten atheistischer Anschauungen und feministischen Engagements, interessierte sich also für »Frauenfragen«, in denen Elisabeth Langgässer besonders konservativ blieb, indem sie ein Ideal der Mütterlichkeit und Häuslichkeit beschwört, dem sie im Leben eigentlich überhaupt nicht entsprach.
Edith Stein hatte 1922, mit 31 Jahren, den katholischen Glauben angenommen, in Bergzabern, nicht sehr weit von Darmstadt, wo Elisabeth Langgässer zur gleichen Zeit als Lehrerin arbeitete, und trat später in das Karmeliterkloster in Köln ein. Gleich 1933, als sie ihre Autobiografie schrieb, nach den ersten antijüdischen Aktionen und Gesetzen, wandte sie sich an Papst Pius XII. und beschwor ihn in Briefen, die er wahrscheinlich nie gelesen hat, sein Schweigen zu brechen: »Wir fürchten das Schlimmste für das Ansehen der Kirche, wenn das Schweigen noch länger anhält.« Als sie schließlich aus dem inzwischen nach Holland emigrierten Kloster mit ihrer Schwester zur Deportation geholt wurde, soll sie zu ihr gesagt haben: »Komm, wir gehen für unser Volk.«
Dieses Zugehörigkeitsgefühl zum jüdischen Volk hat Elisabeth Langgässer nicht gespürt, hat es wahrscheinlich auch nicht spüren können, denn vielleicht wusste sie ja lange gar nichts von der jüdischen Herkunft ihres Vaters, insofern ist es schwer, überhaupt von einer wie auch immer gearteten jüdischen Identität zu sprechen, zu der sie sich hätte bekennen können, auch wenn ihr dann eine übergestülpt wurde, für die sie teuer bezahlt hat.
Für jemanden, der sich heute für Elisabeth Langgässer interessiert, wird ihr Werk von ihrer Lebensgeschichte überschattet, weil die dramatischer und tragischer ist als alles, was sie geschrieben hat. Ihr »Lebensroman« erzählt viel mehr von den oft tödlichen Widersprüchen und unlösbaren Problemen, denen ein Mensch, eine Frau mit einem unehelichen jüdischen Kind dazu, unter einem totalitären Regime ausgesetzt ist.
Statt ins Exil zu gehen, wie so viele ihrer Schriftstellerkollegen und nahe, auch nichtjüdische Freunde, mit denen sie noch lange im Briefkontakt bleibt, zieht sich Elisabeth Langgässer in das sogenannte »innere Exil« zurück, schafft sich eine parallele Welt im Schreiben ihres großen, christlich-mythischen Romans »Das unauslöschliche Siegel« und christlich mystischer Naturlyrik, während ihre Tochter den gelben Stern trägt und auf Berlin, wo sie jetzt lebt, Bomben fallen und drei Straßen weiter vom Bahnhof Grunewald die Deportationszüge losfahren.
Der von ihr bewunderte George Bernanos hingegen, auch ein Vertreter des französischen Renouveau catholique, zieht, obwohl sehr konservativ, sogar monarchistisch eingestellt, sofort seine Konsequenzen, geht ins Exil und findet deutliche Worte in seiner Ablehnung, ja, Abrechnung sowohl mit dem faschistischen Franco-Regime als auch dem französischen Vichy-Regime. Und auch wenn er einen Satz, über den heute noch gestritten wird, gesagt hat: »Hitler hat den Antisemitismus entehrt«, hat er seinen, wenn ich so sagen darf, angeborenen christlichen Antisemitismus (der aber in seinen Werken keine Rolle spielt) später deutlich revidiert.
»Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!«, dichtete Brecht im schwedischen Exil. Aber die Dichterin in Berlin scheint es anders empfunden zu haben, sie flüchtete sich in ihre Naturlyrik und den Roman, mit dem sie sich, wie sie selbst sagt, eine Zeit der Askese und geistigen Einkehr schaffen kann. Schon seit den dreißiger Jahren zählt sie sich zu den »Stillen im Lande«. Ein Ausdruck, der zum Synonym für eine ganze Gruppe von christlichen Schriftstellern wird, die damit einen Rückzug aus der nationalsozialistischen Lebenswelt in eine christliche innere Welt meinen und darüber hinaus eine Wendung zu Abgeschiedenheit und dem Gebet allgemein.
Die Formulierung »die Stillen im Lande« ist Psalm 35 entlehnt. Das Wort, das die christliche Bibel mit »still« übersetzt, ist ein sehr selten vorkommendes hebräisches Wort, das deshalb viel kommentiert und gedeutet worden ist. In Analogie zu Hiob 7,5 wird es von den mittelalterlichen jüdischen Kommentatoren Raschi und Menachem Meiri mit »gebrochenem Herzen« übersetzt und im Kommentar als Metapher für das jüdische Volk gelesen, dessen Feinde jede nur mögliche Art der Verleumdung ersinnen und sich freuen, je mehr sie die Juden leiden und von einem Ort zum anderen deportiert sehen, »Héah, héah, rufen sie dazu«, vor lauter Freude, sagt der nächste Vers des Psalm 35. Ich finde es interessant, wie die Verfolgten mit den gebrochenen Herzen in der christlichen Lesart dann zu den »Stillen« geworden sind.
Der Begriff des »inneren Exils« ist mir schwer nachvollziehbar, denn wo »innen« soll es denn ein Exil geben? Ist es nicht vielmehr ein Euphemismus für wegsehen, sich in andere Zeiten träumen und auf bessere Zeiten hoffen? Macht man sich damit nicht doch zu einem Werkzeug oder wenigstens einer Schraube im System, vor dem man glaubt, so flüchten zu können? Diese Problematik gilt ja für alle totalitären Systeme — wann geht die Anpassung in Kollaboration über? Und kann sich das System nicht nur so lange aufrechterhalten, wie es von allen mitgetragen wird? Die Frage danach, wie sehr sich der Einzelne an dem totalitären System mitschuldig macht, ist schmerzhaft, und er wird es vorziehen, sich lieber selbst als Opfer zu fühlen.
Nach dem Krieg wird Elisabeth Langgässer über Anna Seghers, die über viele Stationen des Exils schließlich in Mexiko die Nazizeit überlebte, schreiben, sie sei aus »naturhafteren Landstrichen zurückgekehrt«. Wie meint sie das? Wahrscheinlich so, wie es die meisten anderen Autoren der »inneren Emigration« meinten, nämlich dass die Rückkehrer aus den Ländern des Exils der deutschen Tragödie von bequemen Logenplätzen (naturhafteren Landstrichen) aus zugesehen hätten, wie die Formulierung in der berühmt gewordenen Kontroverse zwischen Frank Thieß, einem Schriftsteller der »inneren Emigration«, den nun wirklich keiner mehr kennt, und Thomas Mann lautete und auch von Elisabeth Langgässer in einem Brief an ihren in die Schweiz emigrierten katholischen Freund Karl Thieme gebraucht wird.
Ich finde, dass sich Elisabeth Langgässer für eine glaubensstarke Christin, die in allen ihren Werken die christliche Botschaft zu verbreiten sucht, in ihren Briefen zu sehr beklagt, selbst Opfer zu sein, statt eine Dankbarkeit für das Verschont-Worden-Sein zu empfinden und auszusprechen. Das wäre doch für einen religiösen Menschen ein Feld der Bewährung, dass er die Gefährdung, der er ausgesetzt war, zumindest nicht denen gegenüber vor sich herträgt, die das Exil gewählt hatten und es oft gerade noch mit heiler Haut erreichen konnten. Doch deren Unbehaustheit, Verzweiflung und Nöte mochte sie offenbar nicht anerkennen. »Fast drei Jahre nach dem Krieg lebt ein geistiger Mensch, der noch dazu ein Verfolgter war, immer noch von zufälligen Almosen. Da stimmt doch etwas nicht«, beklagt sie sich bei ihrem nach Amerika ausgewanderten Freund Waldemar Gurian, er möge ihr doch bitte dringend Aufträge verschaffen, für eine regelmäßige Kolumne in einer amerikanischen Zeitung etwa.
Es ist so, Juden empfinden es immer als kränkend, ja, als Verrat, wenn sie hören, dass einer von ihnen zu einer anderen Religion übertritt, meistens eben zum Christentum. Die Juden sehen das als eine Desertion an, eine Feigheit, das Schicksal als Minderheit nicht mehr teilen zu wollen und zu glauben, sich durch die Taufe einen komfortableren Platz im Schoße der Mehrheitsgesellschaft erkaufen zu können — das, was Heinrich Heine das »Entréebillet in die Gesellschaft« genannt hat. Ich sage bewusst, glauben zu können, da die getauften Juden noch lange in erster Linie als Juden und erst dann als getauft angesehen wurden, lange bevor die Nazis die Taufe sowieso als völlig irrelevant für ihre Rassentheorie ansahen. Viele Juden jedoch, die einer kulturellen Elite angehörten, nahmen die Taufe offensichtlich aus einer echten inneren, religiösen Hinneigung an und keineswegs aus gesellschaftlichem Opportunismus.
Warum war das so?
Seit die Juden in der Diaspora leben, und das ist schon eine ganze Weile, hat sich jüdisches Bewusstsein einzig und allein daraus speisen können, sich den reichen Inhalten, die in Tora und Talmud festgehalten sind, von jeweils neuem Standpunkt aus zu stellen, sie sich neu anzueignen und bezogen auf wechselnde Zeiten und Orte neu zu interpretieren. Die »Lehre« also, wie man das meistens nennt, war die Heimat der Juden, die ansonsten unter den verschiedensten Völkern im Exil lebten, innerhalb deutlicher Grenzen von ihnen abgetrennt, natürlich immer in der Hoffnung, dass dieses Exil einmal enden wird. Im biblischen 1. Buch der Chronik (16, 22) steht ein Satz, der in der Luther-Bibel lautet: »Tastet meine Gesalbten nicht an, und tut meinen Propheten kein Leid.« Der Talmud aber liest ihn so: »Meine Gesalbten — das sind die Schulkinder, und die Propheten — das sind unsere Gelehrten.«
Nur das Lernen und Wissen kann als einzige Tradition ein jüdisches Zugehörigkeitsgefühl vermitteln, denn im Gegensatz zu der weitverbreiteten Meinung, Judentum speise sich hauptsächlich aus der Erinnerung, ist das Gegenteil wahr: Judentum lebt immer in der Gegenwart, denn wenn es keine textbezogene Gegenwart hat, ist es, bei aller Anstrengung um Kultus und Ritus und koscherer Küche und einer wie auch immer gearteten Kultur, nur ein jüdisches Museum. Und aus eben diesem jüdischen Museum zogen die Juden seit ihrer Emanzipation auf dem rauschhaften »Weg ins Freie« aus, weil es, gemessen an Goethe und Schiller und allen Errungenschaften der Moderne, so langweilig zu sein schien.
Eduard Langgässer, Elisabeths Vater, stammte aus Mainz, eine der ältesten jüdischen Gemeinden Deutschlands, der Märtyrergemeinde des Jahres 1096, als die Kreuzfahrer des ersten Kreuzzugs auf ihrem Weg ins Heilige Land schon mal »Rache für Jesu Blut« an den Juden nahmen, auf die sie in den Städten der Rheinebene trafen. Zwar traten die Juden ihnen auch mit Waffen entgegen, »Groß und Klein gürteten sich«, wie es in einer zeitgenössischen Schilderung heißt, sie hatten aber kaum eine Chance gegen die kampferprobten und kampfeshungrigen Kreuzritter und den Pöbel, der immer gerne auf Juden mit dreinschlug. Die Bischöfe versuchten zwar, die Juden zu schützen, vermochten es aber nicht. Die Mainzer Gemeinde ging in einem kollektiven Selbstmord unter. Man hatte sie vor die Wahl gestellt, Taufe oder Tod, und sie wählten den Tod. Über dieses Ereignis gibt es jüdische und nichtjüdische Berichte; eines der eindrucksvollsten Zeugnisse ist das ergreifende Trauerlied »Une Tane Tokef«, das wir noch heute im langen Gottesdienst von Rosch Haschana und Jom Kippur singen und das einer breiten nichtjüdischen Öffentlichkeit durch Leonard Cohens Song »Who by fire« bekannt ist, der ganz eng an den letzten Versen des hebräischen Originals bleibt.
Elisabeth Langgässers Vater wird in der Synagoge seiner Kindheit und frühen Jugend vielleicht diese poetischen Zeilen im hebräischen Original gehört haben, ohne sie zu verstehen, genau wie er den Rest, der da, von Orgelmusik begleitet, gebetet wurde, nicht verstand. Wahrscheinlich wird sich Eduard Langgässer, genau wie Franz Kafka, der das seinem Vater im »Brief an den Vater« vorwirft, nie in seinem Leben so gelangweilt haben wie in der Synagoge.
Es gibt unendlich viele Zeugnisse über diese gelangweilten Juden, auch die Väter langweilten sich ja schon. Joseph Roth beschreibt es so: »Sie beten nicht mehr in Synagogen und Bethäusern, sondern in langweiligen Tempeln, in denen der Gottesdienst so mechanisch ist wie in jeder besseren protestantischen Kirche. Sie werden Tempeljuden, das heißt: guterzogene, glattrasierte Herren in Gehröcken und Zylindern, die das Gebetbuch in den Leitartikel des jüdischen Leibblattes packen, weil sie glauben, man erkenne sie an diesem Leitartikel weniger als an dem Gebetbuch. […] Die Großväter kämpften noch verzweifelt mit Jehova, schlugen sich die Köpfe wund an den tristen Mauern des kleinen Bethauses, riefen nach Strafe für ihre Sünden und flehten um Vergebung. Die Enkel sind westlich geworden. Sie bedürfen der Orgel, um sich in Stimmung zu bringen, ihr Gott ist eine Art abstrakte Naturgewalt, ihr Gebet ist eine Formel. Und darauf sind sie stolz! […] Das nennt man dann: westliche Kultur haben.«*2 Wie viele haben dieses entleerte »Tempeljudentum« beklagt, und einige von ihnen konvertierten dann zum Christentum, Hermann Broch, Edmund Husserl, Max Scheler, Joseph Roth, Alfred Döblin, um nur bekannte Namen zu nennen.
Es gab also ein großes Unbehagen in der assimilierten jüdischen Kultur, die das Jüdische so weit an die umgebende Kultur assimiliert hatte, bis so gut wie nichts mehr übrig blieb vom Ringen mit Gott, von dem Israel schließlich seinen Namen hat, als Konvention, nur noch ein sozusagen aus Höflichkeit aufrechterhaltenes Brauchtum. Die geistige Leere konnte damit nicht gefüllt werden. Mehrere Generationen haben ihre Energien in einer großen Anpassungsleistung verausgabt, im Glauben an »die Verschmelzung mit einer Umgebung, die ihnen im Großen und Ganzen gleichmütig bis wenig wohlwollend gegenüberstand«, wie Gerschom Scholem in seinen Erinnerungen »Von Berlin nach Jerusalem« konstatiert. »Die Fähigkeit zum Selbstbetrug gehört zu den wichtigsten und trübseligsten Aspekten der deutsch-jüdischen Beziehungen.«
Auch Franz Kafka schreibt in seinen Tagebüchern und Briefen ausführlich über dieses Unbehagen in der westjüdischen Kultur, bezeichnet sich selbst als den westjüdischsten von allen und bedauert es, denn für den Westjuden »muss alles erworben werden, nicht nur die Gegenwart und die Zukunft, auch noch die Vergangenheit, etwas, das doch jeder Mensch mitbekommen hat, auch das muss erworben werden und das ist vielleicht die schwerste Arbeit«.
Die angesammelte Leere ist wahrscheinlich auch dem traditionellen rabbinischen Judentum anzulasten, das keine wirkliche Antwort auf den Prozess der Emanzipation, den Weg in eine offenere Gesellschaft, gefunden hat. Im Osten, in Litauen und Polen, hielten sich die großen klassischen Talmudhochschulen und chassidischen Gemeinden noch, aber diese Modelle wurden in den jüdischen Hauptstädten des Westens, den Kapitalen der K.-u.-k.-Monarchie Wien, Budapest, Prag, aber auch in Berlin, Breslau, Frankfurt als »gestrig« angesehen.
Zwar versuchte die Neo-Orthodoxie, die mit dem Namen des Frankfurter Rabbiners Samson Raphael Hirsch verbunden ist, das, was sie für moderne Kultur hielt und sich dabei an einer wilhelminischen konservativen Kultur orientierte, mit der Tora zu verbinden und gab die Losung tora im derech erez heraus, Tora und Lebensart, Kultur im weitesten Sinne also, ein Projekt der Restauration, das spätestens in der Schoa unterging. Die Neo-Orthodoxie mit ihren Austrittsgemeinden war ein Versuch, sich von den Reformbestrebungen abzugrenzen, die die Synagoge eben in einen »Tempel« verwandelt hatten, in dem die glattrasierten Herren in Gehröcken und Zylindern hofften, nicht mehr als Juden kenntlich zu sein und doch noch von einer »verquälten Gemeinschaftssehnsucht« geplagt waren, wie Kafka es nennt und sich darin natürlich mit einschließt.
»Das Lernen, in dem einzig der Schlüssel zum Judentum liegt«, wie der Rabbiner Joseph Carlebach nach einer Reise zu den Juden im Osten noch einmal konstatierte*3, war in Westeuropa zugunsten von Theatervorstellungen aufgegeben, die das Theaterstück »Jüdisches Leben« auf dem Programm hatten, in dem jüdische Sozialarbeit, jüdische Kultur-, Sport-, Musik- und sonstige Vereine wichtige und nützliche Rollen spielten, aber das Eigentliche aussparten. Vielen gaben diese Vereinsaktivitäten aber keine Antwort auf ihre Aspirationen nach einem authentischen jüdischen Leben, sie eröffneten ihnen keinen Zugang zu seinen intellektuellen Schätzen, den talmudischen und nachtalmudischen Texten und ihren zahlreichen Kommentaren. Franz Rosenzweig suchte mit dem Projekt des später gegründeten Frankfurter Freien Jüdischen Lehrhauses diese »gebildeten Juden dem Judentum zurückzugewinnen, die ihre geistige und intellektuelle Heimat außerhalb des Judentums sahen«.*4
Eine andere Antwort auf die beschriebene Leere als die Taufe gab zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch die kommunistische Bewegung mit der Idee, eine messianische Gesellschaft zu schaffen. Eine Idee, an die das Judentum verhältnismäßig viele Söhne und Töchter verlor, unter anderen meine Eltern. Vor allem in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war in der allgemeinen Orientierungslosigkeit eine Phase neuer Erlösungshoffnungen angebrochen.
Ein dritter Weg war der Zionismus, der vielen Juden in ihrem Unbehagen eine neue Orientierung gab, ja, ihnen damit sogar zu einer Art Erweckung verhalf. Martin Buber hat mit seiner Variante des Kulturzionismus eine ganze Generation junger Juden mobilisiert, ihre jüdische Seele zu suchen. Viele von ihnen hatten im Ersten Weltkrieg als Soldaten in der Begegnung mit den Ostjuden einen jüdischen Stolz in sich wiedergefunden. Franz Rosenzweig, der gerade der Versuchung der Taufe widerstanden hatte, schrieb im Schützengraben nicht nur sein großes Werk »Der Stern der Erlösung«, sondern auch unzählige Briefe an seine Mutter, in denen er von diesen Begegnungen berichtet, darüber, »wie der deutsche Durchschnittsjude die Verwandtschaft mit dem Ostjuden nicht mehr spürt, […] er ist wirklich verphilistert, verbourgeoist«.*5
Einige deutsche Juden traten also den Weg ins Innere des Judentums an, die Idee des Zionismus machte klar, dass dies kein Weg zurück, in eine Zeit vor der Emanzipation sein konnte, sondern es sich im Gegenteil darum handelte, sich jetzt als Nation insgesamt zu emanzipieren. Martin Buber beschwor in seinen Prager »Drei Reden über das Judentum«, die er vor einem zahlreichen Publikum, darunter Kafka und Brod und der ganze Bar-Kochba-Freundeskreis, die »Jüdische Erneuerung«, eine Wiedergeburt im Sinne eines ursprünglichen »Urjudentums«, von dem die Zionisten glaubten und noch heute glauben, dass dieses Werk nur im Lande unserer Väter zu realisieren sei. Viele aus diesem Kreis re-judaisierter Juden sind dann tatsächlich sehr früh nach Palästina aufgebrochen und haben dort die kulturellen Einrichtungen, Bibliotheken, Archive, die Universität aufgebaut, ja, überhaupt erst einmal geschaffen. Sie blieben also doch wieder bei der Kultur. Es gibt die hübsche Anekdote, wie sich die Herren bei irgendeinem Aufbauwerk in Palästina die Backsteine gegenseitig mit »bitte, Herr Doktor«, »danke, Herr Doktor« weiterreichen.
Sogar Kafka spielte mit dem Gedanken, nach Palästina zumindest zu reisen, sein alter Schulfreund Hugo Bergmann, der spätere erste Direktor der National- und Universitätsbibliothek in Jerusalem, hielt für ihn dort ein Gästebett in seiner kleinen Wohnung bereit, in dem dann aber statt Franz Kafka Gerschom Scholem seine ersten Tage und Nächte im Heiligen Land verbrachte.
In den zwanziger Jahren übersetzte Franz Rosenzweig gemeinsam mit Martin Buber die hebräische Bibel neu, sie gaben ihr den Titel »Die Schrift«. Es ist, nach der Übersetzung von Leopold Zunz von 1838, eine weitere neue jüdische Übersetzung nach Mendelssohn, allerdings aus entgegengesetzten Motiven. Während Mendelssohn 1783 den deutschen Text noch mit hebräischen Buchstaben schrieb, um den deutschen Juden statt des gesprochenen jüdisch-deutschen Dialekts ordentliches Deutsch beizubringen, strebten Buber und Rosenzweig das Gegenteil an, nämlich den des Hebräischen unkundig gewordenen deutschen Juden des 20. Jahrhunderts eine Ahnung davon zu geben, was im hebräischen Original steht. Die Unternehmung war seinerzeit über alle Maßen erfolgreich, wie fragwürdig uns heute die bereits damals kritisierte archaisierende und neoromantische Sprache auch erscheinen mag. Wenn jemand sie aber wie ich begleitend bei der Lektüre des hebräischen Textes benutzt, kann sie auch heute noch aufschlussreich sein.
Ungefähr zur gleichen Zeit unternahm Micha Josef Bin Gorion eine Sammlung und Ausgabe der »Sagen der Juden«, die nach seinem Tod 1921 von seinem Sohn Emanuel, der ein enger Freund von Elisabeth Langgässer war, vollendet wurde. Die Sagen der Juden sind die aggadischen Texte, der Midrasch, also die Erzählungen, Legenden und Märchen, die den Talmud und die rabbinischen Schriften umranken und durchziehen, und sie sind ebenso wie die mehr gesetzesauslegenden Diskussionen Quelle des »Lernens«, indem sie sozusagen ein Echo der Textstellen bilden, auf die sie sich beziehen und in ihren Sub- und Metatexten poetisch, manchmal geradezu aberwitzig und paradox bis zum Extrem ausschöpfen und interpretieren. Große Schätze der jüdischen Überlieferung wurden so auch für ein breites, des Hebräischen nicht mehr mächtigen Publikum gehoben, die diese Bücher dann neben ihren Goethe ins Regal stellten oder aber in einem jüdischen Lehrhaus oder jüdischen Volksheim gemeinschaftlich lasen.
Die erhoffte jüdische Wiedergeburt allerdings fand dann doch nicht statt, jedenfalls nicht in Deutschland, wo sich gleichzeitig die Herrschaft derer vorbereitete, die die Ausrottung der Juden beschlossen und ins Werk zu setzen sich anschickten. Die assimilierten Juden und die Juden, die ihr Judentum neu zu beleben suchten, die gesetzestreuen und die atheistischen, die sozialistischen und kommunistischen, die konservativen und deutschnationalen und auch die getauften Juden, Mann, Frau, Kind oder Greis, wurden alle gemeinsam und nicht nur in Deutschland ermordet oder vertrieben. Nur die frühzeitig nach Palästina ausgewanderten Zionisten blieben verschont und wurden dadurch in ihrem Projekt gestärkt.
Die jüdische Renaissance fand nach dem Krieg in Israel und den USA und auch in Frankreich statt, wo sich eine neue Generation von Juden in neuen Gedanken, neuen Projekten, neuen Lebensentwürfen, in vielen verschiedenen Strömungen ihre alte Identität neu zu erfinden suchte. Dazu gehörte auch, ein Verständnis, eine historische und auch religiöse Lesart dafür zu finden, was neuerdings Schoa genannt wird und vorher Holocaust hieß, zwei Wörter aus fremden Sprachen, die Worte wie Verfolgung, Vernichtung, Ermordung mehr verschleiern als benennen, wie ich finde. Über die Sinnlosigkeit dieses großen Mordens ist oft gesprochen worden, und die Verwendung des Wortes Holocaust, das ja ein Opfer, genauer gesagt ein Ganzopfer bezeichnet, entstammt vielleicht dem Wunsch, diesem Morden einen Sinn zu verleihen. Auch Elisabeth Langgässer hat die Judenvernichtung in ihrem letzten Roman, »Märkische Argonautenfahrt«, als »Feueropfer« gedeutet, wenn ich es richtig verstehe, lange bevor sich die Bezeichnung Holocaust einbürgerte. Mich befremdet diese Lesart in beiden Fällen, und ich kann dieser Deutung nicht folgen.
Ich muss Elisabeth Langgässer als offensiver Katholikin natürlich ihren Glauben und ihre Lesart lassen. Ihr Schicksal ist kein jüdisches, auch wenn sie von wahnsinnigen Rassengesetzen jüdisch »heimgeholt« wurde, um es bitter auszudrücken.
Natürlich weiß ich auch nicht genau, was »jüdisches Schicksal« ist, aber ich denke, es wäre eines, in dem man seine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk annimmt, notfalls auch verteidigt, wie die Helden Chanukkahs, die sich gegen die erzwungene Assimilation mit Waffen wehrten und denen schließlich ein Wunder geschah — eben das Chanukkah-Wunder. Es war leider das letzte Wunder, das dem jüdischen Volk geschah. Für die Männer und Frauen des Widerstands von Mainz 1096 und denen des Warschauer Ghettos 1943 gab es keine wunderbare Errettung, sie bleiben uns als Märtyrer in Erinnerung. Ein Märtyrertum, das sie nicht gesucht haben, Juden ziehen in fast allen Fällen vor, am Leben zu bleiben, denn es ist ihnen geboten, »wähle das Leben.«*6
In weniger dramatischen Situationen reicht es ja aus, sich wie Franz Rosenzweig, nachdem er lange mit der Idee der Taufe gerungen hatte, zu entscheiden: »Ich bleibe also Jude.«