Vortrag im Rahmen der Poetikdozentur Literatur und Religion an der Universität Wien 2020
Juden heißen wir, seit wir im Exil sind.
Zum ersten Mal werden Juden im biblischen »Buch Esther« Juden genannt, auch wenn sie nicht zum Stamm Jehuda gehören. »Es lebte ein jüdischer Mann mit Namen Mordechai in Schuschan, Sohn Jairs, Sohn Schimis, Sohn Kischs, aus dem Stamm Benjamin. Er war aus Jerusalem in die Gefangenschaft verschleppt worden, mit den Verschleppten, die mit dem König Jechonia verschleppt wurden, verschleppt von Nebukadnezar, dem König von Babel« (Esther 2,5). Nicht weniger als viermal wird in dem Satz das Wort »verschleppt« wiederholt, damit wir auch ja verstehen, was geschehen ist.
Mit dem Wortstamm golah wird das Exil auch heute noch Galut genannt. Das Buch Esther ist die erste Exilerzählung und zugleich das einzige Buch der Bibel, in dem das Wort Gott nicht vorkommt. Der Talmud, der später in genau diesem Exilland, in Babylonien, entstand, deutet diese Epoche aus dem Buch Esther jedoch so, dass die Juden gerade in dieser Zeit, trotz starker Assimilation an die babylonische Umwelt und Kultur, noch einmal bewusst die Tora akzeptiert haben, so wie einst am Sinai. Die zehn Stämme des Nordreichs waren schon durch die frühere Eroberung durch die Assyrer in die Gefangenschaft geführt worden und sind seitdem nie mehr aufgetaucht; das jüdische Volk, das bis heute existiert, hat mit diesen verlorenen Stämmen sicher auch Farben und Stimmen einer größeren Vielheit verloren.
In allen anderen biblischen Büchern heißen die Juden noch Hebräer oder Kinder Jakobs oder Kinder Israels. Abraham, als er noch Abram heißt, wird, wie Raschi (1040—1105), der bekannteste und populärste Kommentator von Tora und Talmud, erklärt, darum Hebräer genannt: »Iwri — weil er von jenseits — ewer — des Stromes (Euphrat) kam« (1. Mose 14,13). Hebräer ist also von Anfang an einer, der von anderen Ufern kommt; das Wort ist verbunden mit dem Herausreißen aus der alten Heimat: »Der Ewige sprach zu Abram, gehe aus deinem Lande und deinem Geburtsort, aus dem Hause deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde. Und ich werde dich segnen und dein Name wird Segen sein« (1.Mose 12,1—3). Trotz dieses Versprechens ist der Auszug doch eine Reise ins Ungewisse, und so wird es immer bleiben — eine Passage mit Brüchen und Umbrüchen und Trennungen, ein Lossagen von alten Gewohnheiten und auch ein Ausbrechen aus etwas, das wir heute vielleicht Zeitgeist nennen würden. Etwas ganz Neues wagen, im Leben, im Denken, im Schreiben.
»Wie hätten wir existieren können und könnten wir existieren, hätten wir nicht von vorneherein von Abraham den Mut einer Minorität erhalten«, kommentiert Samson Raphael Hirsch ein paar Tausend Jahre später diese Textstelle, da die Existenz im Exil in den zahlreichen Weltgegenden, in denen Juden leben, noch anhält und sie von Flucht zu Flucht, von Wanderung zu Wanderung, ohne sich jedoch am Ankunftsort völlig zu verlieren, als Minorität weiterexistieren.
Israel wird Jakobs Name sein, nachdem er mit dem Engel gerungen und dessen Segen erzwungen hat, »ich entlasse dich nicht, du habest mich denn gesegnet«. Israel heißt »der mit Gott ringt«, und in diesem Ringen werden seine zwölf Söhne oft unterliegen, zehn von ihnen werden, wie gesagt, für immer in den anderen Völkern aufgehen, und wir kennen sie heute nicht mehr. Es scheint, dass Jude sein heißt, von weither zu kommen und sich in fremden Gefilden zurechtfinden zu müssen. Joseph wird von seinen Brüdern verkauft, landet im ägyptischen Gefängnis und macht schließlich an Pharaos Hof eine große Karriere. Moses, der größte Prophet Israels, wird am Hof des Pharaos erzogen, wir können ihn uns in seiner Jugend gar nicht anders als »assimiliert« vorstellen, bis er nach Midian flieht, nachdem er aus einem solidarischen Gefühl heraus, das ihm geblieben ist, einen ägyptischen Aufseher erschlagen hat, der einen hebräischen Sklaven getötet hatte. In Midian bekennt er offensichtlich nicht gleich seine jüdische Herkunft, denn sein künftiger Schwiegervater Jithro, ein midianitischer Priester, fragt seine Tochter Zippora, warum sie denn »den ägyptischen Mann«, der sie am Brunnen gegen aufdringliche Hirten verteidigte, nicht nach Hause eingeladen habe. Moses heiratet später die Midianiterin Zippora, und sie bekommen zwei Söhne, den einen nennen sie Gerschom, »Gast bin ich im fremden Land«, und den zweiten Elieser, »Gott hilft, denn der Gott meines Vaters ist Hilfe, er hat mich vor Pharaos Schwert gerettet« (2. Mose 18,4f). Und dort, in diesem fremden Land, wird sich ihm Gott im brennenden Dornbusch unter dem Namen »Ich werde sein, der ich sein werde« offenbaren und vor Moses die Verheißung an Abraham, Itzchak und Jakob vom Land, in dem Milch und Honig fließt, und der Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft erneuern. Bevor er sich ihm offenbart, bittet Gott Moses, die Schuhe auszuziehen (2. Mose 3,5), und genauso sieht man es auch auf dem Bild »Die Prüfungen Moses’« von Botticelli, auf dem Swann, die eigentliche Hauptfigur in Prousts Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, seine Geliebte und spätere Frau Odette als Zippora, die Tochter Jithros, zu erkennen glaubt.
König David stammt von der Moabiterin Ruth, Moab war die Frucht des Inzests einer Tochter Lots mit ihrem Vater, und nach den ausschmückenden, erklärenden rabbinischen Auslegungen der Tora (Midraschim) muss er sich diese Herkunft auch des Öfteren an den Kopf werfen lassen, Ruth hingegen, die zu Noemie sagte, »wo du hingehst, da will auch ich hingehen […], dein Gott soll mein Gott sein« (Ruth 1,16), wird diese Anhänglichkeit hoch angerechnet, so dass sie, wieder nach dem Midrasch, so lange lebte, dass sie noch Davids Sohn Salomon auf dem Thron sehen konnte. Davids und Salomons Königtum, die Reichseinigung und der Tempel, den Salomon baute und vollendete, haben nicht überdauert, ihre Dichtungen, Psalmen und Weisheitssprüche jedoch sind in die Weltliteratur und bis in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen — »Hochmut kommt vor dem Fall« und »Alles ist eitel und ein Haschen nach Wind«.
Gibt es eine Sprache auf der Welt, in die sie nicht übersetzt sind?
Auch von Esther heißt es (Midrasch Tehillim), sie habe im Moment ihrer größten Not, bevor sich dann alles zum Guten wendet, einen Psalm, nämlich Psalm 22 gebetet. Eli, Eli, lama asavtani — »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen / Ich rufe dich tags und du antwortest nicht. / Und nachts beruhigst du mich auch nicht. […] Ich bin ein Wurm und kein Mensch, der Menschen Hohn und von den Leuten verachtet. […] Entferne dich doch nicht von mir — wo die Not so nah und keiner zu meiner Hilfe da ist.«
Psalm 22 ist bei den Juden der Psalm Esthers, bei den Christen ist er der Psalm Jesu am Kreuz. Der Talmud liest die in der Gesangseinleitung erwähnte, immer etwas geheimnisvoll gebliebene Ayelet haschachar, die junge Hirschkuh, als »Stern des frühen Morgens, der erste Strahl des Morgenlichts«, und damit sei Esther gemeint. Das ist ein Hinweis auf die neue Existenz derer, die nun Juden heißen. Ein Hinweis auf das Exil, in dem Gott schweigt, keine Propheten mehr schickt, auch in nächtlichen Träumen nicht mehr erscheint und die Menschen einsam ihren Weg im grellen Licht der Geschichte suchen lässt.
Als der Erste Weltkrieg beginnt, ziehen sich zwei nicht mehr ganz junge Junggesellen, kinderlos, der eine in Paris, einer Welthauptstadt, der andere in Prag, der Provinzhauptstadt eines Imperiums, das bald untergehen wird, also in feindlichen Lagern der Kriegsparteien, in ihre Zimmer zurück. Der eine lebt noch bei den Eltern und wird dort den größten Teil seines kurzen Lebens im Durchgangszimmer gelebt haben; in einer seiner ersten Veröffentlichungen, der »Betrachtung«, schreibt er vom »Unglück des Junggesellen«. Der andere zieht nur unfreiwillig nach dem Tod seiner Eltern aus deren Wohnung aus, mietet die Wohnung einer Tante, 102 Boulevard Haussmann, tapeziert sie mit Kork aus, schließt alle Vorhänge, arbeitet im Bett, immer nachts.
Sie sind beide hypochondrisch, kränkeln ihr Leben lang und sind tatsächlich schwerkrank, weigern sich, Ärzte zu sehen oder gar auf sie zu hören, wissen selbst alles viel besser und haben genaue Vorstellungen, wie ihre Körper und deren Organe zu behandeln seien, sie beobachten sich selbst ständig, innen und außen, sie beobachten alles um sich herum, sie sind süchtig nach und abhängig von Beobachtung, aber »alles was nicht Literatur ist, langweilt mich«, schreibt der in Prag in sein Tagebuch, und sie tyrannisieren ihre Umgebung, die trotzdem ihrem Charme erliegt. »Seit längerer Zeit klage ich schon, dass ich zwar immer krank bin, aber nie eine besondere Krankheit habe, die mich zwingen würde, mich ins Bett zu legen. Dieser Wunsch geht sicher zum größten Teil darauf zurück, dass ich weiß, wie die Mutter trösten kann, wenn sie aus dem beleuchteten Wohnzimmer in die Dämmerung des Krankenzimmers kommt.« Nein, der Satz ist nicht von Proust, er ist aus Kafkas Tagebuch. Dann in demselben Tagebuch der Eintrag: »Gestern fiel mir ein, dass ich die Mutter nur deshalb nicht immer so geliebt habe, wie sie es verdiente und wie ich es könnte, weil mich die deutsche Sprache daran gehindert hat. Die jüdische Mutter ist keine ›Mutter‹, die Mutterbezeichnung macht sie ein wenig komisch, […] wir geben einer jüdischen Frau den Namen deutsche Mutter, vergessen aber den Widerspruch, der desto schwerer sich ins Gefühl einsenkt. ›Mutter‹ ist für den Juden besonders deutsch, es enthält unbewußt neben dem christlichen Glanz auch christliche Kälte, die mit Mutter benannte jüdische Frau wird daher nicht nur komisch, sondern auch fremd.«
Ungefähr zur gleichen Zeit beschreibt Proust in seinem »Contre Sainte-Beuve«, das Fragment bleiben wird, eine Szene, in der sein Freund Reynaldo Hahn am Klavier im Wohnzimmer seine Vertonung der Racine’ schen »Esther« vorspielt und »Mama« dazu leise mitsummt: »Und die schönen Züge ihres jüdischen Gesichts, ganz geprägt von christlicher Sanftheit und jansenistischem Mut, machten aus ihr Esther selbst in dieser Familienvorstellung.«
Für den einen gibt es eine ganz klare Fremdheit zwischen der jüdischen Mutter und ihrer deutschen, also christlichen Bezeichnung von außen, der andere schafft oder erträumt eine jüdisch-christliche Einheit.
Kafka und Proust — beide haben, kurz bevor der Erste Weltkrieg ausbricht, ihr erstes Buch veröffentlicht, Kafka die »Betrachtung« und Proust »In Swanns Welt«. Sie ziehen sich also zurück in ihre nächtlichen Zimmer und asketischen Leben, sie haben Freunde bei den Soldaten und schreiben Kondolenzbriefe an die Mütter derer, die in diesem Krieg fallen. Dieser Krieg ist zum ersten Mal ein Weltkrieg und verzögert und ermöglicht in gewisser Weise zugleich die Arbeit unserer beiden Dichter an ihren Werken und deren Veröffentlichung, mit denen sie die Weltliteratur ein für alle Mal verändern, auch wenn sie fragmentarisch bleiben werden. Denn den beiden Junggesellen ist es nicht vergönnt, ihr Werk zu vollenden. Marcel Proust stirbt 1922 mit 51 Jahren und Franz Kafka 1924 mit 41 Jahren.
Gibt es eine Sprache auf der Welt, in die ihre Werke nicht übersetzt sind?
Kafka und Proust sind Söhne, Söhne starker Väter, die sich, auf unterschiedlichem Niveau, mit Erfolg hochgearbeitet haben und das auch von ihren kränkelnden und unverheiratet bleibenden Söhnen erwarten. Aus diesem Schatten heraus werden sie ihr literarisches Werk entwerfen, es wird unter dieser Problematik stehen, wenn es nicht überhaupt daraus geboren wurde, wie Proust es in der »Wiedergefundenen Zeit« deutlich ausspricht: »[…] daß ein großer Schriftsteller dieses wesentliche Buch, dieses einzig wahre Buch, da es bereits in jedem von uns existiert, nicht im landläufigen Sinne erfinden, sondern übersetzen muß«. Proust tastet sich an seine »Suche nach der verlorenen Zeit« durch vielfache Skizzen heran und schreibt schon 1908 in einem Brief an Georges Lauris: »Ich habe schon zwei Artikel in meinem Kopf entworfen, der eine wäre ein klassischer Essai […], der andere begänne mit der Beschreibung eines Morgens, an dem Mama an mein Bett kommt und ich spreche mit ihr über den Text, den ich über Sainte-Beuve schreiben möchte, und ich würde ihr das dann entwickeln.« Die Grundidee des Romans, der Suche nicht etwa nach der verlorenen Zeit, sondern nach dem Werk, das geschrieben werden soll, ebenso wie die lebenswichtige Präsenz von Mama als Zeugin der Berufung zum Schreiben ist hier schon entwickelt.
Kafkas Werk hingegen durchzieht die Sohnes-Problematik vom »Urteil« über »Die Verwandlung« bis zum »Heizer«, die er schon 1912 unter dem Titel »Die Söhne« als Trilogie veröffentlichen wollte, bis zum späten »Brief an den Vater«. Beider hochproblematische Mutter- bzw. Vaterbeziehung ist jeweils auch eng an das Judentum der Mutter bzw. des Vaters gebunden.
Wir kennen Kafkas berauschte Tagebucheintragung nach der durchwachten Nacht des »Urteils« — die nebenbei auch die Nacht nach Jom Kippur dieses Jahres 1912 war: »Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.« Schon in dem berühmten Brief vom 27. Januar 1904 an Oskar Pollak hatte er geschrieben: »Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.« Ungefähr zur gleichen Zeit schreibt Proust in einem frühen Essay, der dann in den »Gegen-Sainte-Beuve« eingeht: »Was wir machen, das ist, zum Leben zurückzukehren, mit all unseren Kräften das Eis der Gewohnheit und der Überlegungen zu zerbrechen, das sich unverzüglich auf der Wirklichkeit bildet und zur Folge hat, dass wir sie nie sehen, das ist, das offene Meer wieder zu erreichen.«
Wir verstehen, die beiden Junggesellen haben große Ambitionen, aber sie suchen nicht Ruhm noch Geld oder sonstige Zustimmung von außen, sondern Ausbruch aus dem Exil des erstarrten, entfremdeten Lebens, vielleicht die Rückkehr zu einer Wahrheit, die so lebendig ist wie die Wasser der Meere.
»Gedanken an Freud natürlich …«, schreibt Kafka am Ende der Tagebucheintragung nach der durchwachten Nacht des »Urteils« weiter. An anderer Stelle spricht er von der Psychoanalyse »als Raschi-Kommentar« zur Bedingung der jüdischen Existenz seiner Generation.*8 Und in einem Brief an Max Brod vom November 1921 heißt es: »Besser als die Psychoanalyse gefällt mir in diesem Fall die Erkenntnis, dass dieser Vaterkomplex, von dem sich mancher geistig nährt, nicht den unschuldigen Vater, sondern das Judentum des Vaters betrifft. Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration.«
Franz Kafka präsentiert sich: »Ich heiße hebräisch Anschel wie der Großvater meiner Mutter von der Mutterseite, der als ein sehr frommer und gelehrter Mann mit langem weißem Bart meiner Mutter erinnerlich ist.«*9
Valentin Louis Georges Eugene Marcel Proust ist jüdisch durch seine Mutter: »Ich und mein Bruder wie mein Vater sind katholisch getauft, aber meine Mutter ist Jüdin.«*10 Die Mutter hat sich nie taufen lassen, die Ehe mit Adrien Proust, dem fünfzehn Jahre älteren Professor der Medizin, wurde nur standesamtlich geschlossen. Es ist erstaunlich, dass diese Ehe, mitten im Pariser Establishment, gesellschaftlich akzeptiert wurde, auch wenn sie dann später, während der Dreyfus-Affäre, auf eine harte Probe gestellt wurde, in der Zeit, als sich Juden in Frankreich Israeliten nannten und fast vollständig assimiliert haben. Darüber hinaus waren sie auch viel weniger zahlreich als in der österreichisch-ungarischen Monarchie, in der Franz Kafka lebte und in der es zwei Millionen Juden gab, während es in Frankreich weniger als hunderttausend waren, die meisten davon deutscher oder elsässischer Herkunft, die in wenigen Generationen von Klein- und Großhändlern zu Bankiers und Intellektuellen aufgestiegen waren. So wie die Familie Proust/Weil wohnten sie in großbürgerlichen Bezirken zwischen der katholischen Madeleine-Kirche und der Synagoge in der Rue de la Victoire oder in den westlichen Vororten von Paris, wie Prousts Großonkel Louis Weil in Auteuil, in dessen Haus Proust geboren wurde und das sich ebenso in den sagenhaften Ort Combray einschreiben wird wie das Illiers aus dem Département Eure-et-Loir der kleinbürgerlichen französischen Familie, die der Vater Adrien Proust hinter sich gelassen hat. In seinem Romanwerk der »Recherche« zeichnet Marcel Proust unter anderem die Verwandlung und den Aufstieg der elsässischen, deutschen oder auch polnischen Juden in die französische Bourgeoisie nach, der letztlich der seiner eigenen Familie ist.
Marcel Proust ist einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller geworden und hat die europäische Literatur nachhaltig verändert, vielleicht haben ihn seine Randstellung als Jude und auch als Homosexueller wie seine Beobachtungssucht besonders dazu befähigt. Die Dreyfus-Affäre, auf Grund derer »das gesellschaftliche Kaleidoskop in einer Drehung begriffen [war], durch die die Juden auf den letzten Platz der sozialen Stufenleiter geschleudert wurden«*11, wird als Katalysator gewirkt haben. Proust hat sich selbst als den »ersten Dreyfus-Anhänger« bezeichnet, er nahm täglich am Prozess teil, wie er es später auch seine Romanfigur Bloch tun lässt. Die Erzählung von den Verwicklungen um die Verurteilung des jüdischen Hauptmanns Dreyfus, die erst nach der Veröffentlichung von Zolas »J’accuse« und dessen Verurteilung zur eigentlichen Dreyfus-Affäre wird, nimmt im Roman der »Recherche« und dem früheren Romanfragment »Jean Santeuil«, dem einzigen literarischen Zeugnis, das gleichzeitig geschrieben wird, einen großen Raum ein. Proust ist auch ein aktiver Unterschriftensammler für das »Manifest der Intellektuellen«, das 1898 am Tag nach Emile Zolas Artikel »J’accuse« ebenfalls in der Zeitschrift »L’Aurore« erscheint. Er wehrt sich hingegen, diese Haltung als jüdische Solidarität anzusehen, und wird das auch den jüdischen Figuren seiner »Recherche« so in den Mund legen, dass es ihnen einzig um die Suche nach Gerechtigkeit geht. Diese Haltung teilte er übrigens mit der offiziellen Haltung der jüdischen Gemeindemitglieder, über die Leon Blum in seinen Memoiren schreibt: »Die Juden wollten nicht, dass man von ihnen glaubt, sie würden Dreyfus verteidigen, weil Dreyfus Jude war. Sie wollten nicht, dass man ihre Haltung irgendeinem Unterschied oder einer Solidarität der Rasse zuschreibt. Vor allem wollten sie keinen Vorwand liefern, um den Antisemitismus anzufachen, der sich in der Folge mit unvergleichlicher Intensität verbreitete.«*12
Kafka hingegen behauptet die Geburt seiner Literatur aus der Randstellung als Jude ganz offen und formuliert seine These von der »kleinen Literatur«*13: »Denn die Anforderungen, die das Nationalbewusstsein innerhalb eines kleinen Volkes an den Einzelnen stellt, bringen es mit sich, dass jeder immer bereit sein muss, den auf ihn anfallenden Teil der Literatur zu kennen, zu tragen, zu verfechten und jedenfalls zu verfechten, wenn er ihn auch nicht kennt und trägt.«*14 Kafka bekennt sich zu dieser Aufgabe, nimmt sie an, auch wenn er zehn Jahre später noch in seinem Brief an Max Brod vom November 1921 von den drei Unmöglichkeiten einer deutsch-jüdischen Literatur, so nennt er sie beim Namen, klagt: »Zunächst konnte das, worin sich ihre Verzweiflung entlud, nicht deutsche Literatur sein, die es äußerlich zu sein schien. Sie lebten zwischen drei Unmöglichkeiten, (die ich nur zufällig sprachliche Unmöglichkeiten nenne, es ist das Einfachste, sie so zu nennen, sie könnten aber auch ganz anders genannt werden): der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben.«
Die Gedanken zu einer »kleinen Literatur« notiert er 1911 in sein Tagebuch, in der Zeit nach der Begegnung mit Jizchak Löwy und seiner jiddischen Theatertruppe aus Lemberg, deren Aufführungen in Prag er sich jeden Abend ansieht und die in ihm starke Gefühle einer Zugehörigkeit auslösen, die er wohl sonst nicht so positiv erleben kann. »Bei manchen Liedern, der Aussprache ›jüdische Kinderloch‹, manchem Anblick dieser Frau, die auf dem Podium, weil sie Jüdin ist, uns Zuhörer, weil wir Juden sind, an sich zieht, ohne Verlangen und Neugier nach Christen, ging mir ein Zittern über die Wangen.« Er liest »gierig und glücklich« Heinrich Graetz’ »Geschichte der Juden«, er liest die verschiedenen Sammlungen der Sagen und talmudischen Erzählungen der Juden und hört sie von Jizchak Löwy, notiert sie ausführlich in sein Tagebuch, und der amhorez, der dort immer wieder vorkommt, wird in einem der wichtigsten Teile des späteren »Prozess«, in der Türhüter-Legende, als wörtlich übersetzter »Mann vom Lande« seinen großen Auftritt haben.
Auch wenn Marcel Proust in einer weiter fortgeschrittenen Phase der Assimilation lebte, die er als gegeben annimmt, dürfen wir uns nicht vorstellen, dass er gänzlich vom jüdischen Erbe seiner mütterlichen Familienüberlieferung abgeschnitten war, ganz im Gegenteil. Sein Großonkel, Godchaux Weil, der aus einer der vielen jüdischen Familien stammte, die um 1800 aus dem Elsass nach Paris kamen, als dort weniger als dreitausend Juden lebten, hatte unter dem Pseudonym Ben Levi ein im jüdischen Milieu vielgelesenes Buch, »Les matinées du samedi. Livre d’éducation morale et religieuse à l’usage de la jeunesse israélite«, publiziert. Das war eine Sammlung jüdischer Sagen und Erzählungen, in denen er die problematische Stellung des »modernen« Juden thematisierte, um ihn an das zu erinnern, was ihm verlorengegangen war, etwa mit der Erzählung vom Schicksal eines Tallits, eines Gebetsschals, über drei Generationen, der vom Enkel völlig sinnentleert einer »Grisette« geschenkt wird und ihr dann zur Verkleidung beim Kostümball dient. Godchaux Weil war einer der ersten jüdischen Autoren französischer Sprache und publizierte schon in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts in den verschiedenen französischen jüdischen Zeitungen Erzählungen, die ihm den Titel eines »jüdischen Victor Hugo« einbrachten. Er starb 1878, und Jeanne Weil nahm ihren Sohn Marcel nicht nur zu seinem Begräbnis mit, sondern las den Söhnen regelmäßig aus den Erzählungen ihres Großonkels vor. Diese »Samstagmorgen-Geschichten« wurden nicht nur in Frankreich, sondern von der »Alliance israélite universelle« (französische Übersetzung des »Kol Israel Chawerim / Alle Juden sind Gefährten«) in ihren Schulen verbreitet, in denen die Juden des Maghreb, des Balkan, im Irak und in Persien Französisch lernten, und sie mögen vielleicht ihr Echo in dem auffälligen familiären Samstagsritual der Familie des Erzählers der »Recherche« gefunden haben, auch wenn sie nach Marranen-Art in einen christlichen Kontext verwebt sind; jedenfalls findet aus einem ganz pragmatischen Grund, weil die Köchin zum Markt ins benachbarte Dorf geht, »samstags […] alles eine Stunde früher statt. Die Wiederkehr dieses regelwidrigen Samstags war eines der im Innern unseres gemeinsamen Lebens auftretenden, lokalen, unserem kleinen Staatswesen eigentümlichen Ereignisse, die […] eine Art von nationaler Einheit schaffen […] und […] Barbaren […] nannten wir alle Menschen, die die Besonderheit unseres Samstags nicht kannten.«*15 Auf zwei Seiten wird nicht weniger als fünfzehnmal das Wort Samstag wiederholt, als könnte man den Namen dieses Tages, den die Barbaren so nicht kennen, gar nicht genug betonen.
»Zweitausend Jahre war die Tora der Mittelpunkt und absolut existentiell für die Juden, um sich als Volk zu verstehen, sie war der Ursprung der nationalen Identität jedes Einzelnen. […] Heute ist das nicht mehr selbstverständlich und muss bewusst gewählt werden«, konstatiert Haym Soloveitchik, der amerikanisch-israelische Historiker.** Das Judentum ist eben nicht nur Konfession, also Bekenntnis, sondern Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, in das man hineingeboren wird und das man sich nicht ausgesucht hat. Umso schwieriger und umso problematischer wird diese Existenz, wenn die Tora und die Volkszugehörigkeit nicht mehr eins sind, wie Soloveitchik zu Recht betont, wie seit den Zeiten der Aufklärung und der Emanzipation, die es nun jedem erlauben, sich seiner Bindungen, welcher Art auch immer, zu entledigen und als Einzelner zu behaupten, frei, aber auch ungeschützt durch den Stand, die Gruppe, die Gemeinschaft, ja, das Ghetto. Die neue Freiheit der Juden ist schon in der problematischen Erklärung verfasst, die der Comte de Clermont Tonnerre 1789 in der französischen Nationalversammlung verkündete, »den Juden als Nation alles zu verweigern, den Juden als Individuen alles zu gewähren«.
Die völlige Lösung des Juden als Individuum aus seinem Volk ist nie ganz gelungen, trotz erzwungener oder gewünschter Anpassungs-, ja, Auflösungsbestrebung. Die Grenzen sind von beiden Seiten nie ganz niedergerissen worden, und je mehr die Juden sich assimilieren, desto weniger werden sie akzeptiert. Proust breitet das in aller Ausführlichkeit aus, zur Zeit von »Eine Liebe von Swann«, also lange vor der Zeit des Dreyfus-Prozesses lässt er eine Marquise de Gallardon über Swann sagen: »Ich weiß natürlich, er ist getauft, sogar seine Eltern und Großeltern schon. Aber man sagt ja immer, dass getaufte Juden noch mehr mit ihrer Religion verbunden bleiben als die anderen, dass sie sich nur verstellen, ob das wohl stimmt?«*16
Diese nie ganz niedergerissenen Grenzen werden von Seiten der christlichen oder säkularen Mehrheitsgesellschaft zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich betont, von der christlichen Anklage des Gottesmords über mehr oder weniger dezente gesellschaftliche Vorurteile bis zur völligen Ausgrenzung und gewaltsamen »Endlösung« des nationalsozialistischen Deutschland. Ihr fielen Kafkas drei Schwestern Ottla, Elli und Valli und Prousts einzige Cousine Adèle und ihr Mann Jules-Maxime Weil einzig ihres Judeseins wegen an weit auseinanderliegenden Orten in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern Europas zum Opfer.
Martin Buber zitiert Moritz Heimann: »Was ein auf die einsamste, unzugänglichste Insel verschlagener Jude noch als ›Judenfrage‹ anerkennt, das einzig ist sie. Ja, das einzig ist sie«, fügt Buber noch in der ersten seiner »Drei Reden über das Judentum«, die er zwischen 1909 und 1910 im jüdischen Studentenverband Bar Kochba in Prag hält, hinzu. Er beginnt sie mit einer »Frage, die ich Ihnen und mir heute vorlege, […] die Frage nach dem Sinn des Judentums für die Juden. Warum nennen wir uns Juden? Weil wir es sind? Was bedeutet das, dass wir es sind?«*17 Im Auditorium sitzt der gesamte Freundeskreis um Kafka, Brod, Weltsch, Bergmann, die von Bubers Reden aufgerüttelt und zu einem jüdischen, heute würden wir sagen, Selbstfindungsprozess motiviert wurden, einer Befragung des ererbten Judentums, das sie nur noch als Westjudentum, wie Kafka betont, erleben, »ein Nichts von Judentum […] es vertropfte zur Gänze, während du es weitergabst«, wirft er seinem Vater in dem Brief, den er nie abschicken wird, vor.
Sowohl Kafka als auch Proust lebten jedoch in einer Epoche, in der sich auch der assimilierteste Jude, vielleicht gerade, weil er sich von seiner Religion entfernt hatte, noch einer irgendwie gearteten Volkszugehörigkeit bewusst war, und zwar auf Grund einer damals modernen Rassentheorie, die im Großen und Ganzen zu dieser Zeit auch von den Juden angenommen wurde, nicht hierarchisierend, was sie zunächst ja nicht war. Jedenfalls ersetzte bei den Juden die Idee der Rasse im allgemeinen Zeitgeist nur die Idee der Volkszugehörigkeit, die teils Stolz, teils Fremdzuschreibung ausdrückt. Auch Buber in seinen »Drei Reden über das Judentum« beschwört »die Unsterblichkeit der Generationen in der Gemeinschaft des Blutes«. In einem Brief aus Paris an seine Braut vom 2. Februar 1886 schreibt Sigmund Freud, wie er in eine politische Diskussion voller antideutscher revanchistischer Ideen nach dem Krieg 1870/71 geriet und wie er sich da herauszog, »ich gab mich gleich als juif, der weder Deutscher noch Österreicher ist, zu erkennen. Solche Gespräche sind aber immer sehr peinlich, denn ich fühle was Deutsches sich in mir regen, was ich zu unterdrücken lange beschlossen habe«. Im nächsten Brief berichtet er seiner Braut übrigens von einer Abendeinladung bei Jean-Martin Charcot, bei der er vielleicht den inzwischen prominenten Adrien Proust hätte treffen können.
In den nicht sehr umfangreichen Aufzeichnungen seiner Reisen mit Max Brod nach Paris und in die Schweiz 1911 bemerkt Kafka anlässlich eines Konzerts in Zürich knapp: »Keine Juden«, und im Pariser Bois de Boulogne: »Hier war das Fehlen der Juden am auffallendsten«, oder aber: »Vier Juden im Zug, Ähnlichkeit mit dem Vater.« Man erkannte sich also. Und noch 1920 schreibt er an Milena: »Für die Europäer haben wir alle das gleiche Negergesicht.«
»Ein Menschenschlag von einem gewissen Einheitstyp aus verschiedenen Einflüssen amalgamiert«, formuliert das »Jüdische Lexikon« von 1927 unter dem Eintrag »Jüdische Rasse« etwas dezenter, was Kafka so ungeschminkt formuliert.
Diesen gewissen, also auch physiognomischen »Einheitstyp« hat Proust seinen jüdischen Romanfiguren verliehen, dem späten Charles Swann und vor allem Albert Bloch, auf die er offensichtlich seine eigene äußere Erscheinung übertragen hat. In seinem Buch »Profils juifs de Marcel Proust« hat Jean Recanati einige Bemerkungen seiner Freunde über Prousts äußere Erscheinung zusammengetragen: »Er war schön, von einer ein wenig italienischen Schönheit, er lachte im Einverständnis, als ich ihm sagte, dass er einem italienischen Prinzen ähnele.« (Fernand Gregh); »Das reine Oval seines Gesichts, eines jungen Assyrers« (Jean-Emile Blanche); »Dieser junge persische Prinz mit den großen Gazellen-Augen« (P. Desjardin); »Er erinnerte mich an ich weiß nicht welche El Grecos, an welche Porträts der florentinischen und lombardischen Schule, ich weiß nicht, welchen persischen Prinzen.« (Leon-Paul Farge); »Dieses schöne, orientalische Gesicht« (Comtesse de Noailles); »diese dunkle, orientalische Haarpracht« (Lucien Daudet); »Eines Abends, nachdem er eine Weile seinen Bart hatte wachsen lassen, erschien plötzlich hinter dem charmanten Marcel, den wir alle kannten, der rabbinische Ahne.« (Ders.)*18 Genauso wird Marcel Proust später den alten, vom Tode gezeichneten Charles Swann beschreiben: »jedenfalls […] wirkte [seine Nase] eher wie die eines alten Hebräers, als die eines sonderbaren Valois. Vielleicht ließ in seinen letzten Tagen die Rasse den für sie charakteristischen Typ bei ihm rein körperlich ebenso deutlich in Erscheinung treten wie das Gefühl moralischer Solidarität mit den anderen Juden, ein Gefühl, das Swann sein ganzes Leben lang vergessen zu haben schien und das jetzt, als eines zum anderen kam — die tödliche Krankheit, die Dreyfus-Affäre und die antisemitische Propaganda —, in ihm wach geworden war. Swann war im Alter der Propheten angelangt.«*19
Des Öfteren beschreibt, betitelt, beklagt sich Franz Kafka, ja, klagt er sich an als »Westjude«, in einem Brief an Milena vom November 1920 als der »westjüdischste von ihnen […] nichts ist mir geschenkt, alles muss erworben werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit.«
Er meint damit das Abgeschnittensein von der jüdischen Überlieferung, der Tradition, dem Wissen und vielleicht sogar der Religion, das er in einer Art Phantomschmerz sein ganzes Leben lang buchstäblich an Leib und Seele spürt. Proust hingegen, scheint mir, konnte sich von seiner nicht ganz jüdischen und nicht ganz katholischen Existenz, zumal als Homosexueller, schreibend erlösen.
Die Problematik des »Westjuden« ist fast die älteste, die das Judentum mit sich herumträgt und aus der sich tatsächlich über die Jahrhunderte und später, nach der Emanzipation in den Zeiten Kafkas und Prousts, Juden bis zum völligen Verschwinden in die Assimilation verloren.
Dass wir Juden sind, sagte ich zu Beginn, kommt aus dem Exil, und so wie Gott mit Abraham im fremden Land seinen Bund schloss, ihn dort die Verheißung hören ließ, entstand viel später das eigentliche rabbinische Judentum im babylonischen Exil. Dort fand der Talmud seine Gestalt in den zahllosen Kommentaren zur Tora in der Mischna und der späteren Gemara, der Grundlage aller weiteren Kommentare bis heute, die die Schrift in der Gegenwart des täglichen Lebens zu deuten suchen.
Weil dieses Herzstück des Judentums, der Talmud, im Osten, in Babylonien entstand, heißt er auch der babylonische Talmud, im Gegensatz zu seiner weniger umfangreichen Version, die von den in Palästina verbliebenen Gelehrten entworfen wurde und deshalb der Jerusalemer Talmud heißt. Zur gleichen Zeit trat im Westen des Römischen Reiches das Christentum seinen Siegeszug an, das auf der griechischen Sprache und Schrift beruhte, während der Talmud sowohl in Hebräisch (Mischna) und im vernakulären Aramäisch abgefasst (Gemara) wurde, nachdem er zunächst lange nur mündlich überliefert worden war. Das Christentum bezog sich auf die griechische Übersetzung der biblischen Bücher, die Septuaginta, und auch Philon von Alexandria in seinen Schriften und Flavius Josephus in seinen »Jüdischen Altertümern« schrieben und sprachen Griechisch und bezogen sich einzig auf die Septuaginta, weit entfernt vom neuen rabbinischen Judentum, das in Babylonien dabei war, den Talmud zu redigieren.
Wahrscheinlich nicht zufällig verirrte sich Paulus auf seinen Missionen nie in den Osten, und die »einzig auf der griechischen Bibel fußende Vorstellung von Juden und Judentum wird während der ersten Jahrhunderte u. Z. in den Schriften der Kirchenväter weiter verfestigt«, schreiben Doron Mendels und Arye Edrei in ihrem Buch »Zweierlei Diaspora«.*20 »Ihre antijüdische Polemik gründet sich auf den gemeinsamen Text des Alten Testaments. In der Regel ignorierten die Kirchenväter Gesetze und Gelehrsamkeit der Rabbiner. […] Im gesamten Corpus der zunächst mündlichen Lehre, Mischna, Tosefta, beider Talmudversionen und Midrasch, gibt es praktisch keine Gesetze oder Aussprüche, die den Weisen der westlichen Diaspora zugeschrieben werden, von den Hunderten Rabbinern, die an der kollektiven, mehrere Jahrhunderte umspannenden Schöpfung der mündlichen Lehre teilhatten, waren nahezu alle aus dem Osten.«
Ein assimiliertes Westjudentum gibt es also schon sehr lange, eben nicht nur in Gestalt jüdischer Christen, sondern von Juden, die in römischen und griechischen Provinzen und Städten sehr wohl in jüdischer Tradition und religiöser Praxis lebten, aber ohne jeden Kontakt zum neuen und sich ständig erneuernden modernen rabbinischem Judentum in Babylon. So war zu Zeiten von Kafka und Proust das Westjudentum abgeschnitten von der litauischen Gelehrsamkeit, dem rabbinischen Judentum, das einzig Zeiten, Nationen, Sprachen und Kulturen seit der Antike überlebt hatte, und von der verhältnismäßig neuen chassidischen Frömmigkeit und Lehre, auch wenn es in der Lebensrealität der Ghettos, Judengassen oder Schtetl nicht so idyllisch gewesen sein mag, wie es Kafka zunächst bei seinen Begegnungen mit der ostjüdischen Theatertruppe aus Lemberg und den Flüchtlingen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und deren Erzählungen idealisierte: »[…] alle diese Geschichten sind, ich verstehe es nicht, das einzige Jüdische, in welchem ich mich, unabhängig von meiner Verfassung, gleich und immer zuhause fühle, in alles andere werde ich nur hineingeweht und ein anderer Luftzug bringt mich wieder fort«, wie er im Brief an Max Brod vom 28. September 1917 schreibt.
Langsam entstand unter den modernen Westjuden ein Bewusstsein ihres leer gelaufenen Judentums, das von vielen Söhnen beklagt wurde, von denen einige, wie Martin Buber und Franz Rosenzweig, eine geistige Erneuerung, wenn nicht Wiedererweckung im Geistigen erstrebten. Die stärkste Strömung jedoch war die des politischen Zionismus; in Theodor Herzl, der in seinem Buch »Der Judenstaat« zur Rückkehr in das Heilige Land als letztlich einziger Lösung der ewigen Judenfrage aufrief, fand er eine charismatische Führerfigur. Auch Herzl war einer der »westjüdischsten« Juden gewesen, wohl etabliert im K.-u.-k.-Kulturbetrieb, bis der Dreyfus-Prozess, dem er als Korrespondent beiwohnte, in ihm die schockierende Erkenntnis auslöste, es müsste eine radikale Lösung geben, den Juden einen Platz zu verschaffen, an dem sie nicht mehr als ausgegrenzte, ständig bedrohte Minderheit ihr Schicksal unter den Völkern erdulden müssten, sondern es selbst gestalten könnten. Alfred Dreyfus wurde am 5. Januar 1895 in Paris vor Tausenden von Zuschauern öffentlich degradiert und auf die Teufelsinsel verschickt, im Juni desselben Jahres stellte Herzl sein Buch »Der Judenstaat« fertig, das im Februar 1896 erschien, und schon 1897 fand der I. Zionistenkongress in Basel statt. Kafka nahm später, 1913, am XI. Zionistenkongress in Wien teil, sicher mehr aus Neugier. Er fühlte sich zeitweilig sowohl von Bubers kulturzionistischem Projekt als auch vom politischen Zionismus angezogen, der dann schnell zu einer institutionalisierten Bewegung wurde; er lernte immer wieder Hebräisch, schrieb sich in seinem letzten Berliner Jahr zu Kursen in der dortigen Hochschule für die Wissenschaft des Judentums ein und spielte immer wieder mit der Idee der Auswanderung nach Palästina. Doch er war viel zu stark von seinem unabhängigen, immer zweifelnden Geist geprägt und zu wenig eins mit sich und der Welt, als dass er sich von ideologischen Bewegungen Erlösung hätte erhoffen können. Das Wort »Volk« gehört nicht zu seinem Wortschatz und kommt, da aber gehäuft, nur in seiner allerletzten Erzählung »Josefine und das Volk der Mäuse« vor. Zum Auswandern war er am Ende schließlich zu krank.
Auch Proust erwähnt den Zionismus als ein gegebenes gesellschaftliches Phänomen, neben »der Verweigerung des Militärdienstes, Saint-Simonismus, dem Vegetariertum, der Anarchie« in »Sodom und Gomorra«, eher beiläufig. Der Dreyfus-Prozess in allen seinen Volten durchzieht das gesamte Werk der »Recherche«, bis sein Erzähler am Schluss, nach Verlauf sehr vieler Jahre glaubt, feststellen zu können: »Die Stimmung für Dreyfus war jetzt in den Bestand respektabler und gewohnter Dinge eingereiht worden […] shocking jedenfalls fand man sie nicht mehr.«*21 Dass die Affäre ihn bis in die letzten Lebensjahre seiner Arbeit an der »Recherche« begleitete, beweist jedoch eher die Aussage von Charles Peguy: »Plus cette affaire est finie, plus il est evident qu’elle finira jamais.«*22 Je mehr diese Affäre beendet ist, desto klarer wird, dass sie niemals enden wird.
Was ist, was wäre eigentlich, gibt es eine jüdische Literatur?
Im engeren Sinne ist jüdische Literatur natürlich »all dasjenige Schrifttum des jüdischen Volkes, das nach der Bibel entstanden ist und die Behandlung oder Darstellung des Judentums, seiner Lehre, seiner Geschichte und seiner Quellenschriften in Prosa oder Poesie in erster Reihe für jüdische Leser zur Aufgabe hat«, definiert das Jüdische Lexikon*23 nach der Auffassung des 19. Jahrhunderts, die besonders von Leopold Zunz und Gustav Karpeles in ihren Schriften zur jüdischen Literatur geprägt wurde. Zunz, der 1838 eine erste Übersetzung der jüdischen Bibel auf Deutsch und in lateinischer Schrift unternahm, theoretisierte den Begriff der jüdischen Literatur ganz im säkularen Sinne der von ihm gegründeten Wissenschaft des Judentums. Franz Rosenzweig verspottete diese Wissenschaft übrigens viele Jahre später in einem seiner Briefe als »doppelte Buchführung«*24, er gehörte der Generation an, die das Unbehagen in der assimilierten Kultur empfand und eine Erneuerung in einer ganz anderen Richtung anstrebte.
Interessant an Zunz’ Auffassung von jüdischer Literatur ist ihre Beschreibung als eine Literatur zwischen den Nationen, Kulturen und Sprachen, jenseits fester nationaler Identitäten. Wir erkennen Kafkas »kleine Literatur« wieder, und vielleicht war es auch Kafka, der diesen Begriff als einer der Ersten, wenn auch im Zusammenhang mit den drei Unmöglichkeiten des Schreibens, mit solcher Selbstverständlichkeit in seinem Brief an Brod von 1921 benutzt: deutsch-jüdische Literatur.
Spricht der Offizier in Kafkas Strafkolonie nur zufällig Französisch? Auch Kafka wird von der Dreyfus-Affäre und Dreyfus’ Deportation auf die Teufelsinsel nicht unbeeindruckt geblieben sein. Es gibt in Kafkas Werk keine jüdischen Figuren und auch keine explizit jüdische Thematik, auch wenn viele seiner Texte dazu einladen, sie als Parabeln auf die »Judenfrage« zu lesen. Der Landvermesser im »Schloss« ist ein Fremder, bleibt ein Fremder, kommt von weit her, es wird aber nie gesagt, woher, vom anderen Ufer, von jenseits des Flusses; ein Fremder, »der für etwas Nahes kämpfte, für sich selbst, […] statt dessen ließen sie K. allerdings innerhalb des Dorfes überall durchgleiten, wo er wollte, verwöhnten, schwächten ihn dadurch […] schalteten hier überhaupt jeden Kampf aus und verlegten ihn dafür in das außeramtliche, völlig unübersichtliche, trübe, fremdartige Leben.«*25 Kafkas Romanfragmente und Erzählungen wirken unerhört klar, ja, akribisch, und gleichzeitig märchenhaft; die Tierfabeln unter den Legenden scheinen eine jüdische Auslegung besonders nahezulegen. So könnte die Geschichte des dressierten Affen im »Bericht für eine Akademie« als eine karikierende Beschreibung der Assimilation als misslungener oder zu gut gelungener Dressurakt gelesen werden und wird von einigen Kommentatoren auch so gelesen. Und der Käfer der »Verwandlung«, erinnert er nicht an den Wurm aus Psalm 22, dem Hilfe und Erlösung jedoch endgültig verweigert zu sein scheinen?
Franz Kafka beschäftigt sich, schlägt sich über seine ganze Lebenszeit mit seinem Judentum herum, davon lesen wir in seinen Briefen und Tagebüchern und im nie abgeschickten »Brief an den Vater«, einem Zwischending zwischen Brief und Essay, wo er auf wenigen Seiten den ganzen Prozess der Assimilation skizziert, »aus der kleinen gettoartigen Dorfgemeinde«, aus der der Vater stammte, vom »verhältnismäßig noch frommen Lande« bis zu seiner sich in »Nichtigkeit und Gleichgültigkeit« auflösenden Form, die dann »zur Gänze vertropfte«. Kafka bedauerte diesen Zustand, er quälte ihn, wie wir aus dieser späten Bilanz herauslesen können, aber aus diesem Mangel, aus dieser Nichtigkeit kann er aus seinem Vaterhaus hinaus ein literarisches Universum schaffen, indem er die drei Unmöglichkeiten, zu schreiben, durchbricht, jenseits der konventionellen Erzählungen der Mehrheitskultur, die sich ihres Behagens in der modernen Zeit ja auch nicht mehr so sicher ist. Kafkas Werk vermisst diese moderne Welt auf eine detailversessene, extrem reale und gleichzeitig märchenhafte Weise. Es gibt in diesem Universum eigentlich auch keine weiteren kulturellen Bezüge, es gibt keine Malerei, Musik, Bilder oder Architektur und auch keine Psychologie und keine Landschaft, wie sie bei Proust als so wichtige Bezugspunkte erscheinen. Auch die jüdische Literatur im klassischen Sinne, von der Bibel bis zum Talmud mit all seinen Kommentaren, kennt keine Landschaftsbeschreibungen, keine Psychologie oder sonstigen Bezüge außerhalb der Deutung der Schriftweisen. »Gegen zehnmal ›das ist recht, das ist gut‹ hört man kaum einmal von ihnen ›das ist schön‹«, beklagt sich Wilhelm von Humboldt in einem seiner Briefe über die jüdischen Frauen, in deren Berliner Salons er ansonsten häufig verkehrte.*26
Der christliche Volksmund nannte diese Art der Betrachtung »Haarspalterei«, die jüdische Tradition hingegen bekennt sich dazu mit dem Begriff »Pilpul«, der von dem hebräischen Wort für Pfeffer abgeleitet ist und also eine »verschärfte Diskussion« meint. Die Diskussion K.s mit dem Geistlichen um die Deutung der Türhüter-Legende erinnert genau an diese »pilpulistische« Methode, von der Kafka von seinen verschiedensten jüdischen Bekanntschaften und Lektüren ja gehört haben muss.
Proust, der sich in der Assimilation eingerichtet zu haben scheint, hat in der ersten Hälfte seines Lebens die bourgeoisen und aristokratischen Pariser Milieus durchwandert, um nicht zu sagen unterwandert, wie seinen Freunden und Bekannten später klarwerden wird, und wirft in der zweiten Hälfte seines Lebens den Blick zurück in diese Welt. Er präsentiert sie zunächst noch in der Art eines Balzac, unternimmt jedoch bald darüber hinaus auch eine Psychoanalyse dieser Gesellschaft und kennt keine Chronologie mehr, denn er sucht ja in Wirklichkeit nicht die verlorene Zeit, sondern sich selbst, seinen Weg aus den Äußerlichkeiten des Geredes und Getues in die Zukunft seines Werkes, das dafür Gestalt finden soll. Unter den zahllosen Personen, die den Roman bevölkern, stechen drei Figuren hervor. Neben dem homosexuellen und höchstadligen Baron de Charlus, dem wir auch einen besonders aggressiven antisemitischen Redeschwall zu verdanken haben, sind es die beiden jüdischen Figuren des Charles Swann und Albert Bloch. Diese beiden »durchleben« die »Recherche« vom ersten bis zum letzten Band. »[…] alles in allem, wenn ich darüber nachdachte, hatte ich den Stoff meiner Erfahrung, der auch der Stoff meiner Bücher sein würde, von Swann und zwar nicht nur in Gestalt dessen, was ihn selbst […] betraf […], so dass sogar meine derzeitige Anwesenheit im Hause des Prinzen de Guermantes, in dem mich mit so jäher Plötzlichkeit die Idee meines Werkes überfiel […], ebenfalls durch Swann zustande gekommen war«, bilanziert der Ich-Erzähler in »Die wiedergefundene Zeit«. Swann — das bin ich, könnte es heißen, oder besser, Swann ist der, der ich war, der seine Zeit vertat, sein Leben an die Leidenschaften der Liebe und der Kunst verlor und in beidem ein Dilettant blieb, im Gegensatz zum Ich-Erzähler, der schließlich die Kraft zu dem Entschluss findet, sich an sein Werk zu machen. In dem breiten Fresko der Figuren nehmen die jüdischen Figuren also einen besonderen Platz ein, ja, sie scheinen Identifikationsfiguren zu sein, in einem Satz der »Wiedergefundenen Zeit« versteckt Proust diese Identifikation sogar: »Wenn man Bloch sagte, meinte man damit mich.«*27 Dazu kommt die Beschreibung von Blochs Äußerem, das den von mir zitierten Beschreibungen Prousts durch seine Freunde auffällig ähnelt, und die Bemerkung, dass er, Bloch, sich nach dem Tod seines Vaters »fast ein Jahr in einem Sanatorium aufhalten musste«, genau wie Proust nach dem Tod seiner Mutter. Dass der Autor ihn besonders überzeichnet, bestärkt diese Vermutung noch, obwohl er auch sonst niemanden schont, wenn er die Leere hinter den Kulissen der aristokratischen und bourgeoisen kultivierten Welt aufdeckt, deren Getue beschreibt, ja, karikiert.
Wie schon gesagt, der Roman von der Entstehung des Romans, um nicht zu sagen, der Erlösung zur Kreativität, ist eben auch der Roman vom Aufstieg der Juden in die französische Gesellschaft und den Grenzen, die ihnen dabei gesetzt sind, wie die Dreyfus-Affäre aufdeckt.
Der Assimilationsprozess wird bei Swann und bei Bloch gegenläufig beschrieben. Swann, dessen Familie schon seit Großväterzeiten getauft ist, findet unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre zum Judentum seiner Väter zurück, während Albert Bloch, Kind russischer Einwanderer, die noch Jiddisch sprechen, sich am Ende zu einem Jaques du Rozier und Erfolgsschriftsteller wandelt und seinerseits ein überaus engagierter Dreyfusard ist, der, wie Marcel Proust es auch selbst getan hat, Unterschriften für eine Revision des Prozesses sammelt und dem der Erzähler gleich zu Beginn der »Recherche« seine Initiation in die Literatur und den Sex zu verdanken hat. Wir haben bei der Lektüre das Vergnügen, den gesamten Bloch-Clan kennenzulernen, den Vater, die Schwestern, den homosexuellen Onkel, dessen Vornamen Nissim Proust nie vergisst zu nennen, obwohl er das sonst so beständig bei keiner anderen Figur tut, als möchte er dessen Judentum besonders kenntlich machen. Dieser Clan um Bloch, so wird uns gezeigt, macht sich ziemlich lächerlich, weil er in den Codes der Welt, an die er sich gerade anpasst, noch nicht zu Hause ist; sie kommen eben von »jenseits«, sie sind peinlich, geschmacklos, so wie es auch in Wirklichkeit von alteingesessenen Mitbürgern in zahllosen Briefen und sonstigen Berichten bezeugt worden ist, von Theodor Fontane in der Mark Brandenburg bis zu den Badegästen in Trouville, von denen uns Prousts Biograf Jean-Yves Tadie einige Beispiele gibt: »Alle gingen ihnen aus dem Weg, weil sie grell gekleidet, Schreihälse und gewöhnlich waren.«*28 Gemeint sind hier die Finalys, eine Familie der europäischen Hochfinanz, in deren Villa in Trouville Proust öfters die Ferien mit Horace Finaly, seinem Klassenkameraden vom Lycée Condorcet, verbrachte, der später Direktor der Banque de France et des Pays Bas (Paribas) wurde; es stimmt, die Familie kam von »jenseits«, Horace wurde noch in Budapest geboren.
Proust karikiert Bloch in seiner vollendeten Assimilation, ja, Verwandlung: »Dank der Haartracht aber, dem Wegfall des Schnurrbarts, der Eleganz des gewählten Typs, dem Willen verschwand diese jüdische Nase […], um aber das Gesicht mit dem geglätteten Haar und Monokel in Einklang zu bringen, drückten Blochs Züge überhaupt nichts mehr aus.«*29 Den Gag, in Blochs neuem Namen du Rozier seine Herkunft aus der Pariser Judengasse Rue de Rosiers zu verstecken, lässt sich Proust nicht entgehen. Noch auf den letzten Seiten der »Recherche« aber lässt er dem jüdischen Parvenü Gerechtigkeit widerfahren, indem er ihm bei seinem letzten Auftritt charakterliche Reife bescheinigt, die »ihm mit der gesellschaftlichen Stellung und dem Alter zugekommen [war], mit einer Art gesellschaftlichem Alter, wenn man so sagen darf.«*30
Es gab sowohl im Leben Prousts als auch Kafkas starke Momente der Versuchung, sich sozusagen in Wort und Tat zu engagieren, der sie jeweils auch für kurze Zeit nachgaben, im Engagement des Dreyfusards, im Engagement für eine jüdische Erneuerung, für den Zionismus — beide jedoch verweigerten sich einem weiter gehenden Engagement. Sie entschlossen sich für die lange, langsame Suche nach der Gestalt, die sie ihrer einmal erkannten Wahrheit geben könnten. »Zeitweilige Befriedigung kann ich in Arbeiten wie Landarzt noch haben […], Glück aber nur, falls ich die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche heben kann«, schreibt Franz Kafka am 25. September 1917 in sein Tagebuch, und am 28. September, dazwischen lag Jom Kippur: »Dem Tod würde ich mich anvertrauen. Rest eines Glaubens. Rückkehr zum Vater. Großer Versöhnungstag.«
Beide Schriftsteller, Junggesellen, haben schließlich bis zu ihrem frühen Tod, der ihre Werke unvollendet ließ, alles an körperlicher und seelischer Kraft aufgeboten, um in ihrem Werk »die in den Wörtern gefangene Wahrheit zu befreien«, wie es Proust in »Die wiedergefundene Zeit« ausdrückt, und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sie darin Erlösung erhofften, ja, sich einer Verheißung auf den Aufbruch zum jenseitigen Ufer des Flusses anvertrauten, zu den Gestaden der Wahrheit, trotz aller Unmöglichkeiten des Schreibens.
»Nach tagelangen ununterbrochenen Kopfschmerzen endlich ein wenig freier und zuversichtlicher. Wäre ich ein Fremder, der mich und den Verlauf meines Lebens beobachtet, müsste ich sagen, dass alles in Nutzlosigkeit enden muss, verbraucht in unaufhörlichem Zweifel, schöpferisch nur in Selbstquälerei. Als Beteiligter aber hoffe ich«, schrieb Franz Kafka am 25. Februar 1915 in sein Tagebuch. Kafka wusste, oder wusste auch nicht, dass der Talmud in einem seiner Traktate*31 versichert, dass eine der Fragen, die dem Menschen einst von seinem obersten Richter gestellt werden wird, lautet: »Hast du gehofft?«
»In dem Augenblick aber, in dem uns alles verloren scheint, erreicht uns zuweilen die Stimme, die uns retten kann: man hat an alle Türen geklopft, die auf gar nichts führen, vor der einzigen aber, durch die man eintreten kann, und die man vergeblich hundert Jahre lang hätte suchen können, steht man, ohne es zu wissen, und sie tut sich auf«, erkennt der Erzähler in der »Wiedergefundenen Zeit«.*32
So ergeht es auch Ruth, der Moabiterin, als sie zu Boas Füßen schläft, sie weiß es nicht, er weiß es nicht, aber aus ihrer Verbindung wird schließlich David hervorgehen, der kleine Hirtenjunge, an den überhaupt niemand denkt, bevor ihn Samuel zum König salbt. Sein Sohn und Nachfolger Salomon wird dann den Tempel erbauen; es heißt von ihm im Midrasch, er habe sich neun Jahre von seinem Thron in ein Exil zurückgezogen, um das Buch Kohelet zu schreiben, den »Prediger Salomon«: »Alles hat seine Zeit …«
So haben sich die beiden Dichter, ähnlich wie Salomon, ungefähr zur gleichen Zeit in Paris und in Prag, während draußen der Erste Weltkrieg tobt, zurückgezogen, um jeder auf seine Weise ein Werk jenseits aller bis dahin geltenden literarischen Konventionen zu entwerfen. »Wenn es sich ums Schreiben handelt, ist man gewissenhaft […], man verwirft, was nicht Wahrheit ist […], und dass der Leser das, was das Buch aussagt, in sich selbst erkennt, ist der Beweis der Wahrheit eben dieses Buches.«*33
Eine der berühmtesten Parabeln in Kafkas Werk ist die Türhüter-Legende aus dem »Prozess«, in der der »Mann vom Lande«, der amhorez, vergeblich vor der Tür des Gesetzes wartet, bis es zu spät ist und die Tür geschlossen wird, da er nicht verstanden hat, dass dies seine Tür ist, die, die nur für ihn bestimmt war.
Man kann sich wohl denken, dass an dem jungen Franz Kafka, wenn er, sich langweilend, neben seinem Vater den langen Versöhnungstag Jom Kippur in der Synagoge absaß, wenigstens das letzte volkstümliche Gebet nicht völlig vorüberrauschte, zu dem auch noch Juden in der Synagoge erscheinen, die man dort sonst nicht trifft, und mit dem dieser lange Tag endet, das Neila-Gebet: »Öffne uns das Tor / bevor es sich schließt / ehe die Nacht uns grüßt / denn schon neigt sich der Tag …«