Im bewegten Leben eines Schriftstellers, zwischen den Höhen seiner Kreativität und den Tiefen seiner Schaffenskrisen, gehört die Entgegennahme eines Literaturpreises eindeutig zu den Höhepunkten. Diese Tatsache will ich zum Anlass nehmen, meinen Weg bis nach Leuk auch als einen Weg geografischer Erhöhung aus der Norddeutschen Tiefebene bis hierher an den Fuß des Matterhorns zu betrachten.
Berlin, die Stadt, in der ich geboren wurde, in der ich aufwuchs und die ich vor langer Zeit verließ, ist weit und breit nur von Preußen, das heißt der Mark Brandenburg und der Norddeutschen Tiefebene umgeben. Irgendwo zur Ostsee hin liegen ein paar Hügelchen, die werden gleich die Mecklenburgische Schweiz genannt; näher an Berlin gibt es die Seelower Höhen, die auch nicht mehr als fünfzig Meter über den Meeresspiegel aufragen, aber traurige Berühmtheit durch die letzte Schlacht der Roten Armee um den Zugang nach Berlin erlangt haben, bei der noch einmal, zehn Tage vor dem Ende des Kriegs, mehr als hunderttausend Soldaten starben.
Meine Eltern hatten dort ganz in der Nähe, am Rande des Scharmützelsees, in Bad Saarow, ein Haus gepachtet, in dem wir die Wochenenden verbrachten. Bad Saarow war nach dem Kriegsende zum großen Teil von der sowjetischen Militärbehörde requiriert und gesperrt worden, und da, wo keine sowjetischen Militäreinrichtungen untergebracht waren, zog in die Villen der ehemaligen Größen der Nazikulturwelt die neue antifaschistische Intelligenzija von Johannes R. Becher bis zu meinen Eltern ein. Zwischen den beiden Garnisonsorten Karlshorst, wo wir während der Woche wohnten, und Bad Saarow bewegten wir uns sozusagen im Epizentrum der sowjetischen Besatzungszone. Meine Eltern hatten sich, nachdem sie aus dem englischen Exil zurückgekehrt waren, für diesen Teil Deutschlands entschieden und klärten mich während unserer Spaziergänge Schritt für Schritt, wenn ich so sagen darf, über die Vorgeschichte der sowjetischen Besatzung auf, über Hitler, über den Krieg, über die Judenverfolgung, in angemessener Dosis, dem Alter des Kindes, das ich war, entsprechend. Aber gerade dort, bei den Seelower Höhen, wollten oder konnten sie es mir offensichtlich nicht ersparen, jedes Mal darauf hinzuweisen, dass wir hier buchstäblich über Leichen liefen, »das musst du dir vorstellen«. Und manchmal sagte mein Vater auch, mit einem gewissen Stolz in der Stimme, weißt du, ich gehöre zu den ganz wenigen Deutschen meiner Generation, die in ihrem ganzen Leben niemals eine Uniform angehabt haben. Bis heute habe ich nicht herausfinden können, wo der Witz in der Bemerkung versteckt war, oder ob er sich etwa ernsthaft als jemand sah, der freiwillig eine Feldmarschallskarriere oder so etwas in der Wehrmacht ausgeschlagen hatte. Wenn der Gärtner, bei dem wir unser Obst und Gemüse kauften, von seinem Soldatenleben erzählte und noch einmal so richtig über die Juden herzog, sagte mein Vater gar nichts. Später hat der Gärtner seine Frau totgefahren, sie stand in der Garage hinter dem Auto, und er hat sie nicht gesehen, er hatte aus Versehen den Rückwärtsgang eingelegt und sie zerquetscht. So haben sie es in Saarow erzählt. Dann kam er ins Gefängnis.
Ansonsten hatten meine Eltern für die Norddeutsche Tiefebene, Preußen, die Mark Brandenburg und Berlin nicht sehr viel übrig und kultivierten diese Abneigung geradezu, was ich ungerecht fand, denn ich war dort aufgewachsen, es war meine natürliche Umgebung, und ich konnte mir gar nichts anderes vorstellen, wenn meine Eltern auch noch so viel von anderen Ländern und Gegenden erzählten. Die Sympathie für Berlin und das Berlinerische habe ich wenigstens auf meine Kinder übertragen können, die dieses Heimatgefühl nun fern der Heimat kultivieren. Als unser großer Sohn noch klein war und wir ihn nun, unsererseits in angemessener Dosis, seinem Alter entsprechend, über die Geschichte aufklärten, über Hitler, über den Krieg, über die Judenverfolgung, da verteidigte er seine Heimatstadt: »Aber ich glaube, Berlin hat da nicht mitgemacht!«
Eines Tages aber hatte sich Berlin aufgebraucht, die DDR schon lange und noch einiges mehr, und wir zogen nach Straßburg, weit nach Westen, und hatten dort gleich mehrere Kulturschocks zu verkraften. Der Westen war schon äußerlich sauberer, gepflegter, reicher und von allem, was man benötigte und nicht benötigte, gab es gleich Dutzende Sorten und Hunderte von Arten zu kaufen, auch von den allersimpelsten Dingen des Lebens, sogar von Scheuerlappen und Abwaschbürsten, und oft fragten wir uns, wozu braucht man das alles. Alle diese Dinge bis hin zur allgemeinen Infrastruktur und Landschaft, Nahverkehr, Fernverkehr, Telefon, Rhein und Vogesen waren eigentlich nur Varianten der Grundausstattung eines jeden Landes. Nur eben besser entwickelt, schöner, zuverlässiger, schneller, berühmter, als wir es bis dahin kannten.
Nur zwei wirklich sensationell neue Erfahrungen, zwei unerhörte und vorher nie gesehene Dinge sind uns begegnet. Und von der ersten Sensation habe ich zunächst auch nur meinen Mann erzählen hören, der das Unglaubliche gesehen hatte. Wo? Natürlich in Amerika, in New York, dahin war er nämlich kurz nach unserer Ausreise von der jüdischen Organisation Agudat Israel, die sich sehr um die Auswanderung der Juden aus der Sowjetunion bemühte, zu ihrem 62. Annual Dinner eingeladen und eingeflogen worden. Weil in diesem Jahr 1984, unter Breschnew, die Ausreisebewilligungen in der Sowjetunion gegen null gesunken waren, trat Peter stellvertretend für die russischen Juden auf, wurde als a special guest with a fascinating story präsentiert, und es wurde ihm zu seinem coming out from behind the iron curtain gratuliert. Um die zahlreichen Gäste des Dinners zu noch mehr Aktionen, Spenden und Stiftungen zu animieren, sollte er eine kleine Rede halten, die er natürlich vorher schon konzipiert hatte, aber noch mit dem chairman der Aguda durchsprechen wollte. Und bei dieser Gelegenheit sah er, was er in seinem ganzen Leben vorher noch nie gesehen hatte, einen Computer, der auf des chairman’s Schreibtisch stand und auf dessen Tastatur sie direkt in den Text auf dem Bildschirm hineinkorrigierten, strichen, veränderten, ein Ding also, das wir heute PC nennen und banal finden. Bis dahin hatte Peter nur zimmergroße Rechner und Schränke voll Lochkarten im VEB Robotron in Dresden gesehen. Den kleinen Computer auf dem Schreibtisch des chairman’s fand er noch sensationeller als alle Wolkenkratzer New Yorks zusammen.
Das Erlebnis der zweiten Sensation hatten wir ebenfalls unserer Rolle als arme Ostjuden zu verdanken. Der leider inzwischen verstorbene Reinhard Baumgart bot uns damals an, unsere ersten »Westferien« im Haus seiner Familie in Celerina zu verbringen, das zu dieser Zeit leer stand. Das Angebot nahmen wir begeistert an, und so entdeckten wir die Alpen, die wir noch nie vorher gesehen hatten, weder aus der Nähe noch von weitem. Denn Alpen, Hochgebirge, Gletscher, ewiger Schnee gehörten nicht zur Grundausstattung der DDR und auch keines anderen europäischen Ostblocklandes. Das höchste Gebirge des ehemaligen Ostblocks sind die Karpaten, deren höchster Gipfel gerade mal 2600 Meter erreicht.
Wir fuhren über den Julierpass, an diese Überquerung erinnern sich meine Söhne noch heute und lachen mich heute noch aus, weil ich bei jeder Haarnadelkurve schrie, vor Angst, Aufregung und Euphorie, so hoch hinaus gekommen zu sein. Dann spazierten und wanderten wir drei Wochen, fuhren mit Sesselliften oder Zahnradbahnen immer noch höher hinauf, besichtigten Städtchen und schlichen um die Hotels von St. Moritz herum, immer in dicken Anoraks und mit dicken Sonnenbrillen. Auch so ein Klima, Sommer und Winter zugleich, hatten wir noch nie am eigenen Leibe gespürt. Und später überquerten wir noch einen weiteren Pass in die cisalpinische Provinz, der ich bis dahin nur im Lateinunterricht begegnet war. Hinter dem Malojapass, von dem ein Fluss ins Mittelmeer fließt und wo ein Wind aus dem Süden herauf weht, was eine meteorologische Abartigkeit und irgendwie unerklärlich, also eine Art Wunder ist, wie wir in verschiedenen Schriften lasen, da war es schon fast Italien. Ein Süden jedenfalls, den der Osten so auch nicht zu bieten hatte, wie das Bergell, Soglio, Stampa, Rilke, Giacometti. In Soglio habe ich mir eine Postkarte mit einem Blick über den Ort gekauft, was ich sonst selten tue, und diese Karte wanderte nach unserer Rückkehr auf meinem Schreibtisch von einer Seite zur anderen, verbrachte einige Jahre an der Wand, einige in der Schublade, weitere auf einem Stapel anderer Postkarten und landete dann in einer Mappe, in der ich Skizzen, Entwürfe, Fotos für Bilder sammelte, bevor ich schließlich, fast zwanzig Jahre später, nach ihrer Vorlage eines meiner wenigen Landschaftsbilder malte.
Nein, Hochgebirge, Gletscher, ewigen Schnee hatte der Osten, aus dem ich kam, nicht zu bieten, denn er besteht ja nur aus einer riesigen Tiefebene, die sich »von der Hasenheide hinter Berlin bis zum Ural« hinzieht, wie es Alexander von Humboldt beschrieben hat, und die nur allzu gut zu einem riesigen Schlachtfeld taugte, von dem die Seelower Höhen eine traurige Parzelle sind. Langsam wächst Gras darüber, unverschämt grün.