Das Judentum in Frankreich ist, wenn nicht ganz assimiliert, religiös eher orthodox und kulturell eher konservativ. Jedenfalls gibt es hier nicht, oder noch nicht, die großen unterschiedlichen Strömungen wie in den USA, wo sich jeder Jude, oder wenigstens viele von ihnen, der einen oder anderen Strömung zugehörig fühlt. Die neueste davon, aber die gibt es nun auch schon seit vielen Jahren, ist die, die sich »modern orthodox« nennt.
Dieser Orientierung, wenn sie existierte, würden sich viele unserer Freunde, die meistens auch Mitglieder der Straßburger konsistorialen Communauté Israélite, liebevoll »la com« genannt, sind, auch zugehörig fühlen, denn sie leben auf eine informelle Weise modern orthodox, auch wenn das keiner sozusagen offiziellen Qualifizierung entspricht. Man erkennt diese Gruppe ziemlich deutlich an einigen äußeren Zeichen und besonders deutlich an ihren Frauen. Meine Freundinnen und ich selbst rechnen uns im Großen und Ganzen dazu. Die modern orthodoxe Frau ist nämlich, um es mit einem Schlagwort zu sagen, emanzipierter als die klassisch orthodoxe, was zuallererst an der Zahl ihrer Kinder ablesbar ist; die modern orthodoxe Frau ist die Mutter von sehr viel weniger Kindern. Meist hat sie einen Hochschulabschluss und einen Beruf, in dem sie engagiert und mit Ambition arbeitet, sie stellt Ansprüche an jüdische Bildung und jüdisches Lernen; statt in der Synagoge trifft man sie eher in einem Schiur oder Wochenendseminar zu den verschiedensten jüdischen Themen, es kann sogar ein Gemara, also ein Talmud-Schiur sein. Im Gegensatz zu ihrem Mann hält sie nur die beiden großen Fasttage und nicht die vier kleinen, und manchmal isst sie auch in einem nichtkoscheren Restaurant oder bei nichtjüdischen Freunden vegetarisch, nachdem sie sich gründlich nach den Ingredienzien der Mahlzeit erkundigt hat, vegane Restaurants machen ihr inzwischen das Leben leichter. Sie reist auch mehr in der Welt herum.
Bleibt das Problem mit der Kopfbedeckung. Es gibt eine Menge talmudische, nachtalmudische und moderne rabbinische Diskussionen zu dem Thema, die das Problem um- und umwenden und doch nicht, und zwar unter keinen Umständen, davon absehen können, dass sich die verheiratete jüdische Frau die Haare zu bedecken hat, und sei es nur mit einer kalta, wie der Terminus technicus der Rabbiner lautet, also einer Art Kappe, aus der durchaus Pony und lange Haare heraussehen können.
Meine Freundinnen und ich selbst auch, die wir verheiratet sind und uns dem religiösen Judentum nahe fühlen, also mit unseren Familien im jüdischen Jahresrhythmus leben, irgendwie Schomer Mitzwot sind, das heißt, uns ohne übertriebenen Eifer darum bemühen, die Gebote und Verbote zu beachten, müssen uns diesem Problem der äußerlich so sichtbaren Observanz stellen, denn wenn es sonst ein breites Spektrum von Umgehungsstrategien und Kompromissen gibt, läuft hier alles auf nur zwei Optionen hinaus, nämlich Haare bedecken oder Haare nicht bedecken. Manche haben sich für eine unauffällige Perücke entschieden oder für eine Art Zwischenlösung, einige junge Frauen aus diesem Milieu binden nach Indianer- oder sonstwie exotischer Art ein Tuch um ihr meist langes und lockiges Haar. Die das nicht tun, haben nun immer noch zwei Optionen, ihre Haare nicht zu bedecken, zwischen denen sie sich entscheiden müssen. Im täglichen Leben bedecken wir sie also definitiv nicht. Wie verhalten wir uns aber, wenn wir an einem Feiertag oder Schabbes in die Synagoge oder zu einem Schiur gehen oder bei einer »richtig« orthodoxen Familie eingeladen sind? Einige von uns, zum Beispiel ich, setzen bei dieser Gelegenheit eine Baskenmütze oder einen Hut auf oder schlingen sich ein Tuch um den Kopf und wollen das als eine Geste des Respekts vor dem Ort, der Lehre und dem Gastgeber verstanden wissen. Andere aber machen es aus den gleichen Gründen umgekehrt. Eben weil sie sich im täglichen Leben die Haare nicht bedecken, so argumentieren sie, wollen sie auch im Talmudkurs oder bei den orthodoxen Gastgebern nicht den Eindruck erwecken, sie würden es doch tun. Sie kämen sich dabei heuchlerisch vor, sagen sie, religiöser zu erscheinen, als sie es in Wirklichkeit sind. Für sie wiegt die Aufrichtigkeit schwerer als der Respekt. Jede ihrer Gruppe begründet ihre Entscheidung auf Grund ebenso vieler Argumente, die dem Pilpul, der talmudischen Diskussion, würdig wären.
In jedem Falle haben meine Freundinnen und ich das Problem mit der Kopfbedeckung nicht wirklich lösen können, unsere Verhaltensweisen sind nicht kohärent, wie so vieles andere in unserer religiösen Praxis und unserer Einstellung dazu. Wir fühlen uns ja auch keinem geschlossenen System, etwa der klassischen Orthodoxie, zugehörig und werden von deren Anhängern sowieso misstrauisch beäugt. Wir bleiben ständige Grenzgängerinnen, und zwar mitten in unserem alltäglichen Leben, zwischen der nichtjüdischen und der jüdischen Welt. Wir stellen uns selbst und unsere Prinzipien dauernd in Frage und fühlen uns fragmentiert. Das muss es wohl sein, worin wir so modern sind. Oder sollte man gar sagen, postmodern.