Sie werden es wahrscheinlich nicht mehr hören können — jeder, der hier in Bremen auf die Bühne tritt, fängt wieder von den Bremer Stadtmusikanten zu sprechen an, weil sie es sind, die ihn, wenn er wie ich mit den Grimm’schen Märchen aufgewachsen ist, mit dem Namen dieser Stadt verbinden. Die Märchen, die wir in unserer Kindheit hörten, waren unsere erste Begegnung mit der Suche nach einem Sinn des Lebens, wenn ich diese platte Formulierung benutzen darf, da sie es ja doch ungefähr trifft. Sie vermittelten uns eine Ahnung, dass es zwischen all den Ängsten, Verwirrungen und komplizierten Verhältnissen auch und gerade des frühen kindlichen Lebens etwas gibt, etwas geben muss, das besänftigen, entwirren und ordnen kann, sei es von außen, sei es von innen. Niemals werde ich den Blick einer meiner Enkeltöchter vergessen, als sie mich, da war sie drei oder vier Jahre alt, bat, ihr ein Märchen zu erzählen, Rotkäppchen. Ich nahm das Grimm’sche Märchenbuch zur Hand, um daraus vorzulesen, aber da sagte sie, nein, nicht vorlesen, ich solle erzählen. Und so erzählte ich, wir saßen nebeneinander auf dem Bett, aber nun rückte sie sich so zurecht, dass sie mir ins Gesicht sehen konnte, und ich verstand zum ersten Mal den Ausdruck »jemandem an den Lippen hängen«. Und gleichzeitig ahnte ich, wie es einmal mit dem Märchenerzählen und dem Erzählen überhaupt zugegangen sein muss.
Wenig später hörte ich im Radio eine Sendung über die nie ganz geklärte Frage, wie eigentlich die Sprache entstanden ist, warum erst die Menschen die Sprache »erfunden« haben, die Tiere dagegen nicht. Eine der in Erwägung gezogenen Theorien ist, dass das Sprechen zugleich mit dem Kochen begann; da die Menschen nun schon einmal das Feuer erfunden hatten, kann man sich leicht vorstellen, dass ihnen da einmal ein Stück Fleisch hineinfiel und gebraten einfach besser schmeckte, und dann, so sagt diese Theorie, hätten sie halt beim Warten, bis das Fleisch gar war und sie weiter nichts zu tun hatten, angefangen zu sprechen. Und weil sie in dem eng zusammenlebenden Clan sowieso alles voneinander wussten und deswegen keinen Klatsch nötig hatten, fingen sie an, Dinge zu deuten, die sie sahen, erlebten und erlitten und die sie nicht verstanden. So haben sie sich Erklärungen zurechtgesponnen, umgaben die nackten Tatsachen mit Stoffen und Bändern, kleideten sie ein, wie sie sich selbst, im Gegensatz zu den Tieren, anfingen einzukleiden. Es wurde also um die Ereignisse und Phänomene des Lebens herum erdichtet, erkundet, erzählt, vielleicht wurde zunächst ja auch nur zusammengezählt, die Lebenden, die Toten, die Verschollenen, die Tiere, die Sterne. Fast in allen Sprachen hängt zählen und erzählen eng zusammen — the tale und le conte, und auch im Hebräischen bedeutet das Wort dawar zugleich das Wort und die Sache. Die beiden biblischen Bücher der Chronik, wie sie in der deutschen Übersetzung genannt werden, nach dem griechischen chronos, das auch Zeit und Dauer bedeutet, heißen diwrei hajamim, also die Worte oder die (Tat-)Sachen der Tage, und darin werden bekanntlich alle Ereignisse von der Erschaffung der Welt bis zur Rückkehr der Juden aus dem ersten Exil in gedrängter Form aufgezählt und nacherzählt. In der Septuaginta, der ersten griechischen Übersetzung der Bibel, heißen die beiden Bücher der Chronik Paralipomena, und gemeint sind die Hinzufügungen von Ereignissen. Das Wort »Ereignis« wiederum hieß ursprünglich Er-Äugnis, wie mir mein Weigand, in dem ich oft nachschlage, dem »Wörterbuch der deutschen Sprache« in der 5. Auflage von 1909, erklärt.
Friedrich Ludwig Karl Weigand übernahm nach dem Tod von Jakob Grimm 1863 die Redaktion des Grimm’schen »Deutschen Wörterbuchs«, und er war es, der noch im Auftrag Jakob Grimms im »Literarischen Zentralblatt für Deutschland« vom 15. Mai 1861 das »Wörterbuch der Deutschen Sprache. Mit Belegen von Luther bis auf die Gegenwart« des jüdischen Rivalen Daniel Sanders, das 1859 erschienen war, verriss. Der Verriss erschien Jakob Grimm jedoch zu zahm, und deshalb klärte er Weigand in einem Brief auf, »dass Sanders ein Jude ist, er hat ganz die jüdische Frechheit und Zudringlichkeit«, der erste Jude, »der sich mit unserer deutschen Sprache [befasst]«. Schon zwanzig Jahre vorher hatte ein mit den Grimms bekannter deutscher Dichter, ein Ausgewanderter, ein Jude, hatte Heinrich Heine geschrieben: »Und als ich die deutsche Sprache vernahm, / Da ward mir seltsam zumute; / Ich meinte nicht anders, als ob das Herz / Recht angenehm verblute.« Gott sei Dank hatte er im Gegensatz zu Daniel Sanders keine sprachwissenschaftlichen Studien verfasst und in seiner »Romantischen Schule« Jakob Grimms »Deutsche Grammatik« über alles gelobt, und vom jüngeren Bruder der Grimms kennen wir die schöne Radierung Heines von 1837. Merkwürdigerweise sind gerade jetzt zwei Artikel zum Thema »Das Judenbild der Brüder Grimm« erschienen, einmal von Gerhard Henschel im Oktober-Heft des »Merkur« 2019, gleichzeitig macht die Vierteljahresschrift des Salomon Steinheim-Instituts der Universität Duisburg-Essen auf den 200. Geburtstag von Daniel Sanders und seine Kontroverse mit den Brüdern Grimm aufmerksam.
Sagen wir es so, die Brüder Grimm hassten die Juden nicht mehr als normal, und wir kennen ja das Bonmot, dass erst dieses »mehr als normal« den wahren Antisemitismus kennzeichnet.
In meiner Bibliothek befinden sich drei Ausgaben der Märchen der Brüder Grimm, alle drei aus der DDR. Die jüngste ist eine Ausgabe des Aufbau Verlags von 1980, die nun zum ersten Mal auch die Märchen enthält, in denen die Grimms, sicher dem allgemeinen Volksempfinden entsprechend, sehr negative, böse, lächerliche Judenfiguren zeichnen. Die beiden früheren Auswahlbände lassen die Märchen »Der Jude im Dorn« und »Der gute Handel« weg. Die Ausgabe, die aus meiner frühen Kindheit stammt, wurde von Professor Walther Pollatschek im Kinderbuchverlag Berlin (Ost) 1952 herausgegeben und von Professorin Lea Grundig illustriert. Diese Illustrationen haben sich mir stark eingeprägt, ich zeige sie noch heute gerne meinen Enkeln. Viel später erst las ich das Nachwort von Walther Pollatschek, in dem er in einem kindertümelnden Ton schreibt: »Trotz ihres Namens waren die Brüder nicht grimmig und nicht böse. Sie waren gute und freundliche Männer, sie liebten die Blumen und die Bücher und sie liebten die Menschen. Über alles aber liebten sie ihr deutsches Vaterland, die Freiheit und die Wahrheit.«
Dass die Brüder Grimm die Juden etwas weniger liebten als die Blumen und die Bücher und ihr deutsches Vaterland, sagt er natürlich nicht, obwohl er es gewusst hat, ebenso wie seine Illustratorin Lea Grundig. Beide gehörten zur selben Generation wie mein Vater, den ich in dem Buch »Georg« zu porträtieren versucht habe. Und eigentlich nicht nur ihn, sondern eben auch diese wenigen, meist jüdischen Menschen, die aus einem gutbürgerlichen Hause wie Lea Grundig oder ganz und gar bildungsbürgerlichem Hintergrund kommend — Walther Pollatschek promovierte ungefähr zur gleichen Zeit in Frankfurt über Hugo von Hofmannsthal wie mein Vater in Gießen über Büchner —, sich dann in der kommunistischen Bewegung engagierten und nach der Machtergreifung der Nazis das entsprechende Schicksal erlitten, Verhaftung, Flucht, Exil durch alle möglichen Länder. So wie mein Vater aus Großbritannien war Pollatschek nach dem Krieg, so schnell er nur konnte, aus der Schweiz zurückgekehrt und Lea Grundig aus Palästina, ihrem kommunistischen Engagement entsprechend in die sowjetische Besatzungszone. Lea Grundig nach Dresden, wo sie Professorin und Rektorin der Kunsthochschule wurde. Die meisten anderen Remigranten lebten in Berlin, und dort gehörten Pollatschek und noch einige andere, deren Namen mir geläufig wurden und noch sind, wie Budzislawski, Keisch, Kahane, Knepler, Stillmann, Hanns und Gerhard Eisler, zum Bekanntenkreis meiner Eltern, irgendwie Kollegen meines Vaters und eben Schicksalsgenossen. Sie bildeten einen Mikrokosmos der Kultur- und Pressemenschen der frühen DDR, nicht wirklich der politischen Nomenklatura zugehörig, dazu misstraute man ihnen viel zu sehr als Bürgersöhnen, obendrein meistens jüdisch, die zu viele Jahre in der westlichen Emigration verbracht hatten. Für mich als Kind waren sie so etwas wie Onkel und Tanten, die man besuchte oder die zu Besuch kamen; während die Erwachsenen über Politik diskutierten, spielten wir Kinder im Nebenzimmer und wuchsen in dieser familienähnlichen Umgebung zusammen wie Cousins. Denn sonst gab es keine Familie, die echten Verwandten, wenn sie denn noch lebten, schickten höchstens einmal, wenn überhaupt, Grüße aus Amerika, England, Israel oder der Schweiz, wenn es nicht aus Australien war.
Heute sind wir Kinder von damals so um die siebzig und haben immer noch nicht verstanden, was unsere Eltern und alle diese Leute nach Flucht, Verfolgung und Exil so dringend nach Deutschland zurückgerufen hat, ihre ehemaligen Mitbürger und Kollegen sind es ja nicht gewesen, also war es doch nur der Auftrag der Partei? Oder war es am Ende sogar die deutsche Sprache, die ihnen das Herz so angenehm verbluten ließ, so dass sie alle sozialistischen Lügenmärchen schluckten, die man ihnen auftischte und die sie selbst mit erfanden, redigierten, publizierten, inszenierten, komponierten und propagierten? Manès Sperber stellt seiner Romantrilogie »Wie eine Träne im Ozean« sein Gleichnis vom verbrannten Dornbusch voran, in dem die Sklaven der neuen Herren immer weiter das Loblied des brennenden Dornbuschs singen, obwohl sie genau wissen, dass er völlig ausgebrannt ist. »Sie sangen: uns wärmt des Dornbuschs ewiges Feuer.« So etwas muss es gewesen sein, was diese Menschen um Georg, meinen Vater, immer weiter in dem lügenhaften Bau verharren ließ.
Jetzt weiß ich nicht genau, wie ich wieder zu den Bremer Stadtmusikanten zurückfinde. Am besten mit der Beobachtung, dass sie schließlich nie Musikanten wurden und wohl noch immer in ihrer Räuberhöhle leben, wenn sie nicht gestorben sind. Denn in Bremen angekommen sind sie ja auch nie. Im Gegensatz zu mir, die hier die Ehre und Freude hat, den Bremer Literaturpreis entgegennehmen zu dürfen.