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BETHESDA NAVAL HOSPITAL

Millard war in einem Einbettzimmer untergebracht mit je einem finster und entschlossen dreinblickenden Marineinfanteristen als Wächter an jedem Ende des Krankenhausflurs und zwei ebenso kampferprobten Marines vor seiner Zimmertür.

Kurt nahm diese aufwendigen Sicherheitsmaßnahmen erfreut zur Kenntnis.

Nachdem er bei Millard vorbeigeschaut und festgestellt hatte, dass sein Zustand unverändert war, führte Kurt ein klärendes Gespräch mit dem Chef des medizinischen Dienstes und der Chefärztin des Bethesda Hospital.

Die Diskussion über die medizinischen Risiken, Millard in die Wachphase zurückzuholen, nahm stellenweise einen hitzigen Verlauf und endete, als eine schriftliche Duchführungsverordnung des Präsidenten eintraf. Die Chefärztin, eine resolute Frau mit kurzem weißgrauem Haar, strenger Miene und Hornbrille mit petrolfarbenem Gestell, entschied schließlich, die Prozedur selbst durchzuführen, anstatt ein Mitglied ihres Stabes mit der nicht sonderlich angenehmen Situation zu konfrontieren, potenziell heikle Entscheidungen treffen zu müssen.

Sie bereitete Millard mit Unterstützung einer Krankenschwester und eines Anästhesisten auf den entscheidenden Moment vor. Kurt setzte sich und schaute von Weitem zu.

Millard aus dem Koma herauszuholen war ein langwieriger und mühsamer Prozess. Zuerst mussten sie die Wirkung der Medikamente und Narkosemittel neutralisieren, die Millard verabreicht worden waren. Danach mussten sie seine Verletzungen versorgen.

Während sie konzentriert arbeiteten, unterhielt sich die Ärztin mit Kurt. »Sie sind mir ein Rätsel, Mr. Austin.« Während sie sprach, behielt sie den Patienten beständig im Auge und würdigte Kurt keines Blickes. »Man hat mir erzählt, Sie hätten Ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um diesen Mann zu retten. Sie sollen ihn aus einem brennenden Schiff herausgezogen haben. Ist das wahr?«

»So in etwa«, gab Kurt widerstrebend zu.

»Das erklärt zumindest den Dieselölgeruch, den Sie beide ausströmen, und weshalb Sie beide Verbrennungen aufweisen«, fuhr sie fort. »Aber es erklärt nicht, weshalb Sie nun gewillt sind, sein Leben auf diese Weise aufs Spiel zu setzen. Ist Ihnen klar, dass er eine starke Gehirnschwellung davongetragen hat? Ihn jetzt aufzuwecken, ist wirklich gefährlich. Am Ende töten Sie ihn. Wollen Sie das?«

»Natürlich nicht«, sagte Kurt. »Dies ist keine leichte Entscheidung, aber wir müssen wissen, was er weiß. Daher tun Sie bitte alles, was Sie tun können.«

Die Ärztin sagte nichts mehr zu Kurt, sondern konzentrierte sich ausschließlich auf Millard. Sie überprüfte die Funktionen seiner lebenswichtigen Organe, während neue Präparate dem intravenösen Tropf hinzugefügt wurden, und kontrollierte zwei Mal den Inhalt einer Injektion, die soeben vorbereitet wurde.

Während der nächsten zwanzig Minuten wachte Mil lard in winzigen Schritten aus seiner Bewusstlosigkeit auf. Seine Herzfrequenz erhöhte sich, desgleichen seine Atemfrequenz. Auch sein Blutdruck zeigte aufsteigende Tendenz.

»Er kommt allmählich zu sich«, sagte die Krankenschwester.

»Das EEG zeigt keine Veränderungen«, sagte die Chefärztin. »Die Gehirntätigkeit befindet sich noch im rein vegetativen Bereich.«

Ein anderes Medikament wurde verabreicht, und schließlich begannen die Gehirnwellen zu oszillieren.

»Jetzt wacht er auf.«

Kurt erhob sich und näherte sich dem Krankenbett. Millard kam zu sich, aber irgendetwas schien nicht in Ordnung zu sein. Ein Zittern lief durch den Körper des Mannes. Es begann in der linken Hand, wanderte am Arm aufwärts bis zur Schulter und dehnte sich über seinen Kopf und seinen Hals aus.

Ohne Vorwarnung trat Millard heftig aus und streckte sich.

»Er hat Krampfanfälle«, sagte die Ärztin. »Mehr Epitol.«

Während die Ärztin und die Krankenschwester Millard so gut wie möglich ruhigstellten, nahm eine zweite Krankenschwester eine kleine Ampulle von einem Instrumentenwagen und bereitete eine zweite Injektion vor. Mithilfe der Injektionsnadel füllte sie den Glaskolben, hielt die Spritze hoch, schnippte mit einem Finger dagegen und drückte den Kolben ein wenig herunter, um Luftblasen herauszupressen.

»Schnell.«

Sie gab die Spritze an die Ärztin weiter, die den Inhalt des Glaszylinders in die Armvene Millards injizierte.

Augenblicklich ließen die Zuckungen nach, allerdings wollte das Zittern seiner Hände nicht aufhören. Nach gut einer Minute, in der er vollkommen ruhig geblieben war, begann er wieder, sich zu rühren. Diesmal waren seine Bewegungen allerdings normaler, kontrollierter. Schließlich schlug er die Augen auf.

Die Ärztin stellte ihm mehrere Fragen, die er fast unhörbar beantwortete. Aber seine Reaktion reichte ihr aus. Sie wandte sich an Kurt. »Sie können jetzt mit ihm reden. Ich weiß aber nicht, ob Sie viel erfahren werden. Diese Art eines Schädeltraumas hat gewöhnlich Erinnerungsverlust und Koordinationsstörungen zur Folge.«

Kurt legte einen Digitalrekorder neben Millards Kopf und schaltete ihn ein. Dann beugte er sich vor, um Millards Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Können Sie mich hören?«

Der Wissenschaftler reagierte nicht. Seine Augen waren glasig und unfokussiert. Ohne Vorwarnung warf er sich wieder herum, aber diesmal nicht, als habe er Krämpfe, vielmehr sah es so aus, als ob er versuchte, aus dem Bett zu steigen. »Das Schiff wird gleich explodieren«, sagte er. »Wir müssen es verlassen.«

»Wir sind schon draußen«, sagte Kurt. »Sie befinden sich in einem Krankenhaus. Wir konnten uns schwimmend befreien. Erinnern Sie sich?«

Millard entspannte sich für einige Sekunden und begann abermals, sich hin und her zu werfen. Diesmal redete er Französisch. Kurt verstand ihn nicht und war unsicher, ob die Worte überhaupt einen Sinn ergäben, wenn er sie verstünde – aber immerhin hatte er sie aufgezeichnet.

»Sehen Sie mich an«, sagte Kurt. »Erkennen Sie mich?«

Der französische Monolog versiegte. Während Millard Kurt ansah, wechselte er wieder ins Englische. »Festhalten … Atmen Sie durch diesen … Nein … Nicht …«

Kurt erkannte die Worte zum Teil wieder, die er in dem versenkten Schiff zu Millard gesagt hatte. »Das ist richtig«, sagte er. »Geraten Sie nicht in Panik, sonst lasse ich Sie hier zurück. Das habe ich zu Ihnen gesagt, als wir hinausgeschwommen sind.«

Millard bäumte sich plötzlich auf. »Wir müssen uns beeilen. Das Schiff wird explodieren.«

»Wir sind schon draußen«, wiederholte Kurt. »Sie befinden sich in Sicherheit.«

»Es wird explodieren«, sagte Millard. »Es wird explodieren.«

Trotz Kurts Bemühungen tauchte Millard immer nur kurz aus seinem Panikzustand auf, um gleich wieder darin zu versinken. Er reagierte auf jede Frage, die Kurt ihm stellte, mit der Auskunft, dass sie schnellstens das Schiff verlassen müssten, und dann bewegte er seine Arme, als versuchte er zu schwimmen.

Kurt wandte sich an die Ärztin. »Was ist mit ihm?«

»Das Schädeltrauma«, antwortete die Ärztin. »Es beeinflusst das Kurzzeitgedächtnis. Wir hatten hier Patienten, die nach Verkehrsunfällen stundenlang den gleichen Satz vor sich hinmurmelten. Einfach ausgedrückt, sein Gehirn hat nicht gespeichert, dass er aus dem Schiff herausgekommen ist. Sie sagen ihm, dass er sich in Sicherheit befindet. Das akzeptiert er, beruhigt sich und vergisst es trotzdem gleich wieder. Sobald es dazu gekommen ist, kehrt er in Gedanken zum letzten Ereignis zurück, an das er sich erinnern kann, und schon ist er wieder im Schiff. Sein Gehirn ist wie eine Schallplatte mit einem dicken Kratzer. Seine Gedanken springen immer wieder in dieselbe Rille zurück.«

»Was ist mit seinem Langzeitgedächtnis?«

Die Ärztin rückte ihre Brille zurecht. »Ich kann nicht sagen, dass es sehr präzise ist, aber Dinge, die vor dem Trauma geschehen sind, bleiben gewöhnlich auch später noch präsent. Je weiter diese Ereignisse zurückliegen, desto genauer können sie rekonstruiert werden.«

Kurt beugte sich wieder zu Millard hinab und packte seine Schultern. »Halten Sie sich an mir fest«, sagte er. »Ich hole Sie aus dem Schiff. Aber Sie müssen aufhören, um sich zu schlagen.«

Millard klammerte sich mit einem kläglichen Lächeln an Kurt, verhielt sich jedoch vollkommen ruhig. Die Ärztin beobachtete die beiden Männer aufmerksam.

»Sie müssen mir von dem Bakterium erzählen«, sagte Kurt.

»Es verzehrt Öl«, erwiderte Millard.

»Ich weiß«, sagte Kurt. »Wie können wir es aufhalten?«

»Aufhalten?«

»Es muss doch eine Eigenschaft haben, die es schwächt und die wir ausnutzen können. Ich meine einen Weg, es zu stoppen.«

Millards Blick verlor sich in der Ferne. »Es war nicht dort … Sie müssen es … Wir haben es nicht gefunden …« Danach hustete Millard, sagte etwas Unverständliches und redete wieder zusammenhangloses Zeug.

»Bleiben Sie hier … bei mir«, sagte Kurt, »oder ich lasse Sie im Schiff zurück.«

»Nein«, antwortete Millard und hielt sich krampfhaft an Kurt fest. »Das Schiff wird explodieren. Wir müssen es verlassen.«

Die Ärztin legte Kurt eine Hand auf die Schulter. »Mr. Austin, Sie sollten bald fertig werden.«

Kurt nickte. »Ich bringe Sie raus. Erzählen Sie mir von dem Bakterium. Beschreiben Sie, wie es vernichtet wird.«

Millard bewegte den Kopf heftig hin und her. »Sie wussten, wie … Aber sie sind tot … arme Seelen … ertrunken … Sie kamen nicht heraus …«

Seine Worte wurden wieder undeutlich. Kurt beschloss, etwas Einfacheres zu fragen. »Wo kann ich Tessa finden?«

»Sie kommt nicht mehr zu uns … nicht hierher nach unten …«

»Sie hat Bermuda in der Monarch verlassen«, sagte Kurt. »Wohin geht sie, wenn sie nicht in Bermuda ist?«

»Das weiß niemand«, sagte Millard. »Sie ist in diesen Tagen immer weg. Wir sehen nie das Tageslicht.«

Millards Zustand machte es schwierig zu entscheiden, was man ihn fragen konnte. »Gibt es noch ein anderes Labor? Eine andere Produktionsstätte? Einen Ort, wo man Aufzeichnungen finden kann, wie Sie das Bakterium entwickelt haben?«

»Pas moi «, flüsterte Millard, schluckte und schüttelte den Kopf. »Le Dakar … «

»Dakar?«, fragte Kurt.

Millard nickte müde. »Les Français «, fügte er hinzu. »Sie sind dort gewesen. Sie kamen nicht heraus … Arme Seelen, sie sind alle ertrunken.« Und wieder klammerte er sich an Kurt. »Wir müssen das Schiff verlassen … Es wird explodieren.« Die nächsten Worte blieben ihm im Hals stecken, und Millard versank wieder im Koma.

Die Ärztin musterte Kurt mit strengem Blick. »Das war’s«, sagte sie. »Es reicht. Er ist weggetreten, bis die Schwellung seines Gehirns zurückgegangen ist.«

Kurt griff nach dem Rekorder schaltete ihn aus und steckte ihn in die Tasche.

»Wer ist der Mann?«, wollte die Ärztin wissen.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete Kurt. »Aber ich kann Ihnen sagen, dass er zum Teil für Dutzende von Todesfällen verantwortlich ist – und dass er vielleicht über das Wissen verfügt, eine weltweite Krise abzuwenden. Also behandeln Sie ihn gut, aber vergessen Sie nie, auf wessen Seite er steht.«

Darauf erwiderte die Ärztin nichts, und Kurt verließ das Krankenhaus, während er sich in Gedanken bereits darauf vorbereitete, in Dakar nach einem Genlabor zu suchen.