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GOLF VON SIDRA

SIEBZIG MEILEN VOM FESTLAND ENTFERNT

Über dem Mittelmeer zog der Morgen auf und begann den Tag mit glasklarem Wasser, wolkenlosem Himmel und der Gryphon in einer Position siebzig Meilen vor der Küste von Libyen.

Kurt und Rudi waren auf der Kommandobrücke geblieben, wo sie die Videoaufnahmen vom ersten Tauchgang der Trouts verfolgten.

Die Gewässer vor der libyschen Küste waren flach, warm und klar. Sogar hier, siebzig Meilen vor der Küste, betrug die Wassertiefe nie mehr als siebzig Meter. Der Meeresgrund war sandig und eben, eine Kombination, die ideale Tauchbedingungen bot.

»Wrack an Ort und Stelle«, meldete Paul. »Es ist eindeutig ein Unterseeboot.«

Kurt und Rudi sahen das Wrack auf dem Videoschirm. Obgleich das Schiff auf der Seite lag, mit Meeresgetier dicht bewachsen und halb im Sediment vergraben, ließen seine Konturen keinen anderen Schluss zu.

Während Paul zum Heck hinabsank, wo das Steuerruder und eine der Zwillingsschrauben deutlich zu sehen waren, schwamm Gamay an seinem Rumpf entlang.

»Ich sehe nirgendwo einen Schaden«, sagte sie. »Genau genommen sehe ich überhaupt nichts, was auf einen Angriff hinweist. Es scheint eher, als sei es behutsam in den Schlick gesetzt und anschließend sanft zur Seite gekippt worden.«

»Das ist gut«, freute sich Paul. »Umso einfacher ist es zu durchsuchen.«

»Vorausgesetzt, es ist das richtige U-Boot«, sagte Kurt. »Wir sollten uns vergewissern, ob es das ist, was wir suchen. Seht euch mal am Bug um.«

Die Minerve hatte ein auffälliges glockenförmiges Gehäuse, das sich in Bugnähe aus dem Rumpf wölbte. Es gestattete die Installation einer leistungsfähigen Sonaranlage, ohne die Torpedorohre verlegen zu müssen, von denen die Minerve insgesamt zwölf besaß – acht am Bug und vier im Achterschiff.

Unter Einsatz seiner Druckstrahlruder schwebte Paul am Rumpf entlang, passierte den Kommandoturm und manövrierte sich zum vorderen Ende des Schiffes. Dort hielt er über einem Schlickhügel inne, der den Bug wie eine Sanddüne bedeckte. Mit einem seiner Druckstrahlruder beseitigte Paul das Sediment.

Kurt und Rudi begutachteten das Ergebnis. Das charakteristische Sonargehäuse und die offene Außenklappe von Torpedorohr eins waren deutlich zu erkennen.

»Das ist sie«, sagte Kurt. »Das Schulterklopfen hole ich mir nachher ab. Wir sollten das Schiff öffnen und suchen, weshalb wir hierhergekommen sind.«

Während Paul und Gamay in und an dem französischen U-Boot arbeiteten, saß Hiram Yaeger siebentausend Meilen und sieben Zeitzonen weit entfernt an seinem Schreibtisch und verfolgte den Gang der Dinge am Computermonitor.

Es war in Washington, D.C., kurz nach Mitternacht.

»Sieht es so aus, als schnitten sie an der richtigen Stelle?«, erkundigte sich Hiram bei Max.

Max antwortete mit typischer Präzision. »Legt man den Aufnahmewinkel der Kamera und die Ausrichtung der Mittelachse des U-Boots zugrunde, sind Gamay und Paul fünfzehn Zentimeter vom idealen Punkt entfernt, was für menschliche Arbeit ein adäquater Grad von Genauigkeit ist.«

»Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass das U-Boot mit explosivem Gas gefüllt ist?«, wollte Hiram weiter wissen.

»Unbekannt«, sagte Max, »wenngleich im Allgemeinen sehr unwahrscheinlich.«

»Damit habe ich eine Sorge weniger.« Hiram lehnte sich zurück, legte die Füße auf den Schreibtisch und verfolgte weiter aufmerksam das Geschehen auf dem Monitor. Mithilfe des Trench-Crawler-eigenen Schweißgeräts hatte Paul soeben einen Sektor des Außenrumpfs entfernt. Er und Gamay nahmen nun den inneren Druckkörper des U-Boots in Angriff.

Der Prozess war mühsam und langwierig, und Hiram spürte seine Müdigkeit. Er war gerade im Begriff einzunicken, als sein Schreibtischtelefon besonders schrill klingelte. Er zuckte hoch und nahm die Füße vom Tisch. »Max, wenn du es bist, dann unterbreche ich deine Stromversorgung, ich zieh dir den Stecker.«

»Der Anruf kommt nicht von mir«, sagte Max. »Es ist die Kommunikationsabteilung.«

»Um diese Uhrzeit?« Hiram nahm den Hörer ab. »Hier ist Yaeger.«

»Mr. Yaeger, hier ist Ellie Ramos in der Komm-Bereitschaft.«

»Was kann ich für Sie tun, Miss Ramos.«

»Ich habe hier etwas, das Sie sich anhören müssen. Es kam auf dem 12.290-Band herein.«

»Auf dem alten Kurzwellenkanal?«

»Ja«, sagte Ms. Ramos. »Es ist das Marine-Band. Auch wenn es nicht mehr offiziell genutzt wird, überwachen wir es nach wie vor.«

»Falls jemand einen Notfall meldet, müssen Sie ihn zur Küstenwache weiterleiten oder …«

»Es ist kein Marine-Notfall«, erwiderte sie. »Es könnte auch ein Scherz sein, ich bin mir nicht sicher. Aber bitte, hören Sie es sich einfach an.«

»Stellen Sie’s durch.«

Mit einem Klicken wurde die Verbindung hergestellt, und Hiram schaltete die Mithörfunktion seines Telefons ein. Zuerst war ein atmosphärisches Rauschen alles, was er hören konnte, dann folgte ein leises Pfeifen, das in ein Hintergrundrauschen überging. Schließlich schälten sich Worte heraus.

»… genaue Position nicht sicher, irgendwo in Kasachstan zwischen … und siebenundvierzig Grad nördliche Länge … einhundertfünfzig Meilen östlich des Kaspischen Meeres … «

Hiram lief es kalt über den Rücken, als er die Stimme erkannte. »Priya?«, sagte er. »Priya, können Sie mich hören?«

Ellie Ramos antwortete. »Wir haben bereits versucht, mit ihr zu sprechen. Entweder ist es nur eine Einweg-Botschaft, oder sie empfängt unsere Antwort nicht. Wie dem auch sei, sie hat die ganze Zeit geredet, seit die Übertragung begann, und einiges wiederholt, was sie bereits vorher gesagt hatte.«

»Weil sie keine Ahnung hat, wie viel von dem durchkommt«, sagte Hiram. »Sie nehmen es doch sicherlich auf.«

»Das ist die vorgeschriebene Prozedur.«

Die NUMA speicherte alle Notrufe, Funksprüche und andere wichtige Kommunikation auf unbegrenzte Zeit in einem Computer.

Priyas Stimme erklang wieder, und Hiram verstummte.

»… Joe hat mir geholfen zu fliehen … ist jetzt verschwunden … hat versucht, die Monarch zu sabotieren … «

»Sagte sie Joe

»Eindeutig«, bestätigte Max.

»… Tessa Franco arbeitet mit Mitgliedern des regionalen Öl-Konsortiums zusammen … ökologische Interessen nicht echt … nur vorgeschoben … Ziel ist weltweite Ölknappheit … «

Ein weiteres Pfeifen unterbrach die Übertragung.

»Max, trianguliere das Signal. Wir müssen wissen, von wo sie sendet.

»Triangulieren unmöglich«, sagte Max. »Kein anderer unserer Kurzwellenempfänger fängt ein Signal auf. Vielleicht aufgrund von Senderposition, atmosphärischen Störungen oder der mangelnden Qualität der Empfangsausrüstung.«

Die Antennen, die in der NUMA -Zentrale installiert wurden, waren von höchstem Standard und dazu geeignet, auch die allerschwächsten Funksignale von jedem Punkt des Globus aus aufzufangen. Die einzige andere NUMA -Einrichtung mit gleicher technischer Ausrüstung wie die in D. C. befand sich auf Hawaii und damit zu weit entfernt, um Priyas Funksprüche zu registrieren.

Das Signal wurde deutlicher, und Priyas Stimme war wieder zu hören, aber diesmal so leise, dass Hiram sie kaum verstehen konnte.

»… wurde gezwungen zu hacken … NUMA -System geknackt … in Gefahr … greifen an, wenn französisches U-Boot gefunden … Tessa sucht Antidot … will Lenkraketen einsetzen … bitte, vorher warnen … «

Ein langes Pfeifen unterbrach den Funkspruch, und als es verstummte, war überhaupt nichts mehr zu hören.

»Ellie, was ist passiert?«

»Wir haben das Signal verloren«, antwortete die Frau in der Komm-Bereitschaft. »Ich lasse die Aufnahme archivieren.«

»Nein«, sagte Hiram. »Machen Sie keine Aufnahme.«

»Aber …«

»Speichern Sie diese Aufnahme im Ordner Vermischtes und geben Sie ihr einen unverfänglichen Namen wie Sonnenflecken-Interferenz oder so, und sprechen Sie mit niemandem darüber.«

»Aber, Mr. Yaeger, das ist nicht unsere übliche Prozedur.«

»Tun Sie es einfach«, sagte Hiram. »Ich erkläre es Ihnen später.«

»Ja, Sir«, sagte sie.

Hiram unterbrach die Verbindung und legte den Hörer auf. »Max«, sagte er dann. »Wurden wir gehackt?«

»Meine Systeme sind sicher«, sagte Max. »Aber die NUMA hat andere Server und Stand-alone-Systeme.«

»Bitte, überprüf alles«, befahl Hiram.

Es dauerte nur ein paar Minuten. Max antwortete genauso, wie Hiram erwartet hatte. »Zweiundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit, dass Module im Bereich Ausstattung und Logistik angegriffen und angezapft wurden. Andere Applikationen tragen ähnliche Spuren.«

»Das erklärt, wie sie Kurt im Mittelmeer aufspüren konnten«, sagte Hiram.

»Soll ich das System mit geprüften Produkten absichern?«

Hiram dachte einen Moment lang nach. »Nein« entschied er dann. »Wir lassen es erst einmal so, wie es ist.«

»Ein System offen zu lassen, in das bekanntermaßen eingebrochen wurde, ist nicht ratsam«, sagte Max. »Es lädt zu weiteren Einbrüchen ein.«

»Ich weiß«, sagte Hiram. »Aber mir ist es lieber, wenn sie nicht wissen, dass wir ihnen auf der Spur sind.«

»Vernünftiger Schachzug.«

»Schachzug ist genau das richtige Wort«, sagte Hiram. »Ich muss mit Kurt und Rudi sprechen. Aber nicht über das Satellitennetz, für den Fall, dass auch dort jemand eingedrungen ist.«

»Die Gryphon verfügt über verschlüsselte Funkempfänger«, sagte Max. »Unmöglich für Dritte mitzuhören.«