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NUMA-SCHIFF GRYPHON

Kurts Augen waren genauso konzentriert auf einen Monitor gerichtet wie Tessas noch kurz zuvor. Ein Teil des Bildschirms zeigte die Umgebung der Gryphon , der andere das Tragflügelboot selbst und seinen augenblicklichen Status: Maschinen im Leerlauf, Tragflügel in Ausklappbereitschaft. »Irgendwas auf dem Radar?«

Rudi, der neben Kurt saß, studierte einen anderen Bildschirm. Dieser zeigte ein kreisrundes Bild mit einer weißen Radiuslinie, die im Uhrzeigersinn rotierte.

»Nichts«, sagte Rudi. »Aber deshalb hat sie sich vielleicht auch die teure Beschichtung für ein Tarnkappenflugzeug geleistet.«

Kurt schaltete die Kameras auf Autopano, und sie verfolgten die Kameraschwenks, auf der Suche nach einer Bewegung. »Theoretisch sollte ein großes Flugzeug am helllichten Tag leicht zu sehen sein«, sagte Kurt. »Aber mit der Sonne dahinter ist es vielleicht doch um einiges schwieriger.«

»Schon der Rote Baron nutzte diese Taktik«, sagte Rudi. »Sehr effektiv.«

»Sag bloß«, meinte Kurt.

Schließlich fing eine der Kameras etwas auf und zoomte es heran. Das Bild auf dem Monitor verschwamm, dann wurde es wieder scharf. Zuerst sah es wie ein Vogel aus. »Okay, das ist die Monarch , kein Zweifel. Entfernung zwanzig Meilen und in schnellem Anflug.«

»Ich möchte mich nicht einmischen«, sagte Rudi, »aber ich würde jetzt die Tragflügel ausklappen und in die Gänge kommen.«

Kurt benutzte einen Touchscreen, um das Schiff zu lenken. Er schob einen virtuellen Gashebel nach vorn und verfolgte, wie die Drehzahl sprunghaft anstieg, aber einstweilen hielt er noch einige Leistung in Reserve.

Er schaltete auf einen Unterwasserfunksender um und rief Paul und Gamay. »Unsere Gäste sind im Anmarsch. Wie sieht es bei euch aus?«

»Wir haben den Druckkörper fast geschafft«, antwortete Paul.

»Wir können sie nur für eine begrenze Zeit aufhalten«, sagte Kurt. »Also bummelt nicht.«

Das Display, vor dem Rudi saß, begann zu blinken. »Radarkontakt«, meldete er. »Zwei Kontakte … jetzt ein dritter. Schneller als die Monarch . Müssten Raketen sein. Ich denke, wir haben keine Zeit mehr.«

»Ich weiß nicht, wie ich uns mehr Zeit verschaffen kann.« Kurt tippte auf den Schirm, fuhr die Tragflügel aus und schaltete die Gasturbinen auf volle Kraft. Die Gryphon setzte sich in Bewegung und startete wie ein normales Boot, während die Tragflügelanzeige von Rot über Gelb und dann zu Grün umsprang.

Das Boot nahm Geschwindigkeit auf, und die Kameras richteten sich auf die anfliegenden Raketen. Die Projektile selbst waren zwar nicht zu sehen, aber ihre weißen Kondensstreifen markierten ihre Flugbahnen.

»Raketen fliegen mit Überschall«, sagte Rudi. »Entfernung fünfzehn Meilen.«

Die Gryphon erhob sich auf ihre Beine und beschleunigte. Mit dem Rumpf aus dem Wasser verschwand der Reibungswiderstand, und die Geschwindigkeit steigerte sich schlagartig, sodass es sich anfühlte, als habe ein Turbolader seinen Betrieb aufgenommen.

Kurt spürte, wie ihn die Beschleunigungskräfte in seinen Sitz nagelten und vorwärtsschoben. Rudi klammerte sich an seine eigenen Armlehnen, als sie vor und zurück schwangen.

»Dieser Ritt wird wohl wilder, als ich erwartet habe«, stellte Rudi fest.

»Er könnte auch kürzer werden als erwartet«, sagte Kurt. »Wie viel Zeit bleibt uns noch?«

»Die führende Rakete ist neun Meilen entfernt«, sagte Rudi. »Weniger als eine Minute. Die anderen hängen jeweils zwei Meilen zurück.«

Kurt ließ den Gashebel vorn, und die Gryphon erreichte ihre Höchstgeschwindigkeit von neunzig Knoten. Verglichen mit den Raketen bewegte sie sich im Kriechtempo.

»Acht Meilen«, sagte Rudi vollkommen ruhig. »Sieben. Sechseinhalb …«

»Ich brauche keinen vollständigen Countdown«, sagte Kurt. »Verraten Sie mir nur, wann ich ausweichen soll.«

»Ausweichen wird keine Hilfe sein«, sagte Rudi. »Selbst wenn uns die erste verfehlt, trifft die zweite uns ganz sicher. Wir sollten vielleicht lieber daran denken, über Bord zu springen.«

»Zu spät«, sagte Kurt. »Bei achtzig Knoten brechen wir uns sämtliche Knochen.«

»Vielleicht ist das die bessere Alternative.«

»Schon möglich.«

»Drei Meilen«, sagte Rudi. »Zwei …«

Kurt drückte die Ruderkontrolle leicht nach Steuerbord, und die Gryphon schnitt eine tiefe Kerbe ins Wasser. Kurt und Rudi hatten Mühe, in ihren Sitzen zu bleiben, aber die Raketen verfolgten sie weiter.

»Eine Meile …«, sagte Rudi.

Kurt nahm ein wenig Gas zurück und legte das Ruder in die andere Richtung. Die Gryphon reagierte sofort und pflügte nach Backbord.

Die erste Rakete raste mit dreißig Metern Abstand vorbei.

»Das war knapp«, kommentierte Rudi.

»Die nächste wird noch knapper.«

Kurt nahm Gas weg und legte die Gryphon abermals nach Steuerbord. Die zweite Rakete ging ebenfalls vorbei, jedoch so nah, dass ihr Abstandssensor den Sprengkopf auslöste. Eine aufwallende Explosion drückte die Panzerung und die Fenster auf der linken Seite der Gryphon ein, während glühende Stahlsplitter ihren Rumpf durchschlugen und die Druckwelle den vorderen Tragflügel abknickte.

Die Gryphon wühlte sich mit dem Bug ins Wasser, stieg hoch und krachte wieder zurück, wobei sie ihre Fahrtrichtung jedoch mit relativ hoher Geschwindigkeit beibehielt. Kurt und Rudi wurden hin und her geworfen.

»Jetzt«, sagte Kurt zu Rudi.

Rudi drückte auf einen Knopf, und Kurt warf einmal mehr das Ruder scharf in die andere Richtung.

Doch es war nicht weit genug. Die dritte Rakete traf das Schiff in der Mitte, durchschlug den Rumpf, explodierte auf der anderen Seite, fegte eine Flammenwalze durchs Mitteldeck und sprengte das Schiff auseinander.

Tessa Franco beobachtete die Explosion von ihrem Platz in der Monarch aus. Als der grelle Feuerschein nachließ, erkannte sie, dass die Gryphon in zwei Hälften gerissen worden war. Die kümmerlichen Reste ihres Heckabschnitts waren bereits nahezu vollständig abgesackt, während der Bugabschnitt brannte und langsam sank.

»Diese Raketen waren jeden Penny wert«, sagte Woods zu ihr.

Volke war geradezu euphorisch. »Mögest du schlimmer brennen als ich, Austin.«

»Somit endet diese Konkurrenz«, flüsterte Tessa. »Und eine neue beginnt.« Sie wandte sich zu Volke und Woods um. »Unsere Uhr tickt. Bringen Sie Ihre Männer mitsamt ihrer Ausrüstung auf Trab. Sie sollen anfangen, sobald wir das Wasser berühren.«