18 BACK IN BUSINESS

Die Show muss weitergehen

Der Schock vom 19. Februar saß tief, doch den Young-Brüdem wurde bald klar, dass es für AC/DC nur eine Wahl gab: Sie mussten sich einen neuen Frontmann suchen und dort weitermachen, wo sie aufgehört hatten, sofern dies ohne Bon überhaupt möglich war. Es war Malcolm, Gründer und treibende Kraft der Band, der Angus zwei Tage nach der Beerdigung anrief und die allgemeine Lethargie durchbrach.

Angus erinnert sich: „In den ersten paar Wochen nach Bons Tod wussten wir gar nicht, was wir tun sollten. Wir waren so weit gekommen, und plötzlich standen wir da. Aber dann sagte Malcolm, dass wir beide an der neuen Platte weiterarbeiten sollten. Wir hatten schließlich auch eine Menge Verpflichtungen, viele Leute hingen von uns ab, also mussten wir weitermachen.“ ‒ Ja“, hakt Malcolm ein, „ich dachte: ,Du kannst doch nicht nur herumsitzen und Trübsal blasen.“ Ich rief also Angus an und fragte ihn, ob er mit mir wieder proben würde.“ ‒ „Es ist besser, in einem solchen Fall weiterzuarbeiten, denn sonst denkt man zu viel nach, und alles wird noch viel schwieriger“, erklärt Angus. „Malcolm und ich gingen also gleich nach der Beerdi­gung wieder an die Arbeit und schrieben an den Liedern für die nächste Platte weiter.“

Die geschäftliche Seite der Angelegenheit fiel mindestens ebenso schwer ins Gewicht wie die menschliche. Mit Highway To Hell waren AC/DC gerade erst in die oberste Kaste der Rockmusik aufgestiegen, und Malcolm und Angus würden sich nicht davon abhalten lassen, alles zu holen, was noch zu holen war, bevor sie denn überhaupt einmal abträten. Zum anderen war die Gruppe inzwischen Teil einer Maschi­nerie, die aus weit mehr bestand als aus den Musikern. Die Managementgesellschaft Leber&Krebs einerseits und die Plattenfirmen Atlantic und Alberts andererseits hatten viel Geld, Zeit und Mühe in das Projekt AC/DC gesteckt und erwarteten nun nach dem Erfolg von Highway To Hell weitere Ausschüttungen. Der Motor war angelaufen, und dabei war Bon Scott nur ein Rädchen im Getriebe.

Weniger als einen Monat nach Bons Tod, während mögliche Nach­folger schon in einem Londoner Studio vorsangen, bestätigte Angus gegenüber der Zeitschrift Sounds: „Wir müssen weitermachen, denn wir haben eine Menge Verpflichtungen. Auf uns hat aber keiner Druck ausgeübt, sondern wir haben als Band entschieden, weiterzumachen. Natürlich wissen wir noch nicht, in welche Richtung wir uns bewegen werden, denn mit Bon waren wir einmalig. Er war einzigartig, und wir wollen keinen Sänger, der Bon imitiert. Wir wollen einen haben, der eine eigene Persönlichkeit besitzt. Die Musik wird wahrscheinlich so bleiben wie sie ist, nur der Gesang wird ein bisschen anders sein. ... Wir haben uns schon einige Leute angehört, aber es gibt so viele mit einer guten Stimme, und wir wollen einen, der ein bisschen anders klingt. Man kann die Leute auch nicht einfach hinstellen und sagen: ,Los, sing!‘ und erwarten, dass sie in Hochform sind. Wir haben jeden Abend nur einen oder zwei kommen lassen. Die fühlen sich auch komisch dabei, uns die Lieder von Bon vorzusingen. Die machen sich vielleicht auch Gedanken darüber, was dabei in uns vorgeht, so kurz nach seinem Tod. Aber wenn morgen der Richtige zur Tür hereinspa­ziert kommt, nehmen wir sofort auf. Das Material für die neue Platte haben wir zusammen ‒ nur eine Sache fehlt uns noch ...“

ln den australischen Medien wurde derweil das Gerücht verbreitet, Stevie Wright werde Bon ersetzen. Er hatte in den zehn Jahren seit der Auflösung der Easybeats mit George Young und Harry Vanda als Pro­duzenten zwei Soloplatten aufgenommen, war aber durch seine langjährige Heroinsucht gezeichnet und arbeitete nun für die Heilsarmee in Sydney als Drogenberater.

Eine Zeitlang schien ein gewisser Allan Fryer das Rennen zu ma­chen, der als Sänger der Gruppe Fat Lip aus Adelaide recht unbekannt geblieben war. Er war George Youngs Favorit und hatte schon eine mündliche Zusage erhalten, sah seine Hoffnungen dann aber schließ­lich doch enttäuscht; Georges Meinung galt anscheinend immer we­niger, und die vielen Bewerber, die sich im Studio in London um Malcolms und Angus’ Gunst bemühten, wurden ebenso kritisch von Peter Mensch, Mutt Lange und Vertretern der Plattenfirma unter die Lupe genommen. Fryer spielte später übrigens zusammen mit dem ehemaligen AC/DC-Mitglied Mark Evans in der Gruppe Heaven, die von Michael Browning gemanagt wurde ‒ eine Ironie des Schicksals.

Um die Umstände, die zur Einstellung von Brian Johnson führten, ranken sich ebenso zahlreich die Legenden wie um andere Geschehnis­se aus der Geschichte der Band. Eine Variante (die auch von den Musikern selbst vertreten wird) besagt, Bon habe seinen Bandkamera­den den Sänger von Geordie empfohlen, nachdem er Jahre zuvor mit Fraternity einige Konzerte dieser Gruppe eröffnet hatte, eine andere, der Hinweis von Bon sei ergangen, nachdem ihm ein Fan das Geordie- Album Hope You Like It geschenkt habe und er Gefallen an Brian Johnsons Gesang gefunden habe.

Eine weitaus wahrscheinlichere Version ist die, dass ein Junge aus Chicago davon hörte, dass seine Lieblingsgruppe einen neuen Sänger suchte, und an Leber&Krebs in New York eine Geordie-Kassette schickte. Das Band wurde an Malcolm und Angus weitergeleitet, und diese waren, wenn sie auch mit dem Glamrock der Kapelle nicht viel anfangen konnten, so beeindruckt von dem stimmgewaltigen Sänger, dass sie ihn sofort ausfindig machen ließen und ihn zum Vorsingen einluden.

Brian Johnson wurde am 5. Oktober 1947 in der düsteren Arbeiter­stadt Newcastle upon Tyne ganz im Norden Englands geboren. Sein Vater, Alan Johnson, hatte als Oberfeldwebel der britischen Armee an der vernichtenden Durchbruchsschlacht gegen Generalfeldmarschall Rommel im November 1942 in El Alamein teilgenommen und in Italien seine Frau Esther kennengelernt. Brian trat als Kind in Fernsehspielen auf, doch dann tauchten Anfang der Sechziger die Animals in New­castle auf, und er fühlte sich unwiderstehlich zum Rock’n’Roll hinge­zogen. Sein Idol war Eric Burdon. Er verließ früh die Schule und fing eine Lehre als Maschinenschlosser in einem Turbinenwerk an. Nach Feierabend sang er bei Bands aus der Stadt, doch erst 1972 konnte er seine Arbeit aufgeben, als er mit Geordie erste Erfolge feierte.

Als die erste Glamrock-Welle das Land überrollte, ließ sich die Band in London nieder, wo es jedoch für sie nicht viel zu holen gab. Sie hatten drei erfolgreiche Singles, die unter die ersten zwanzig der briti­schen Hitliste kamen, doch konnten sie darauf nicht weiter aufbauen, und der Frust begann an den Musikern zu nagen. Brian erzählt: „Von den Plattenverkäufen haben wir nie auch nur einen Penny gesehen. Wir standen morgens um fünf auf und schlichen dem Milchmann nach. Wir schauten bei den indischen Restaurants durchs Fenster. Wenn die Leute etwas stehenließen, gingen wir rein und nahmen es mit. Mann, was wir alles gemacht haben. Ich war von dem ganzen Musikbusiness ent­täuscht. Wir rackerten uns ab, und es kam überhaupt nichts dabei raus. Wir lasen in den Zeitschriften von diesen ganzen Billiggruppen mit den schwachsinnigen Namen, die überall eingeladen wurden, während Bands aus dem Nordosten gar nicht beachtet wurden. Ich gab dann 1975 auf, weil es nicht das Richtige für mich war. Ich wollte nie wieder versuchen, mit Musik mein Geld zu verdienen.“

Im März 1980 arbeitete Brian in Newcastle in seiner eigenen Auto­werkstatt und sang abends bei den neugegründeten Geordie auf klei­nen Konzerten. Er erzählt: „Da rief dieser Typ an und sagte: ,Ich habe da eine Band, die braucht einen Sänger, aber ich kann dir nicht sagen, wer es ist.‘ ‒ ,Ob du das kannst oder nicht, ist mir egal‘, gab ich zurück. ,Okay, ich verrate dir die Anfangsbuchstaben.‘ Also sagte er es mir. Ich wunderte mich, weil ihr Sänger erst zwei Wochen tot war, aber der Typ meinte nur: ,Diese Jungs sind echte Arbeitstiere. Die lassen sich durch nichts aufhalten.‘ Ich sagte: ,Ich bin ziemlich aus der Übung. Ich habe schon vier oder fünf Jahre nicht mehr in einer richtigen Band gesun­gen.‘ Ich hatte die nächsten zwei Wochen überhaupt keine Zeit, denn ich hatte Auftritte mit meiner Gruppe, und ich wollte nicht, dass die Jungs Einbußen hätten, nur weil ich bei einer anderen Band vorsingen ginge.“

Brian konnte sich dann aber doch freimachen und kam nach Lon­don, um dort eine Kostprobe seiner Fähigkeiten zu geben. Er erzählt: „Ich war wirklich aufgeregt, denn ich hatte noch nie irgendwo vorge­sungen. Ich wusste gar nicht, was ich machen sollte. Sie fragten mich: ,Okay, was willst du singen?‘ Ich sagte: ,Am besten eins, das wir alle kennen.‘ So haben wir es dann auch gemacht.“ Brian fuhr noch am selben Tag nach Newcastle zurück, um am Abend einen Termin mit Geordie wahrnehmen zu können.

Angus hat die Begegnung folgendermaßen erlebt: „Wir wussten, dass es sehr schwer werden würde, jemanden zu finden, aber als Brian durch die Tür kam, waren alle erleichtert. Er passte zu uns, das war uns sofort klar. Wir wollten jemanden mit Charakter, und genau das ist Brian.“

Ein paar Tage später wurde Brian wieder nach London gerufen. Er glaubte, er solle noch einmal vorsingen, doch als er da war, sagte man ihm, dass er der neue Sänger von AC/DC sei und genau zwei Wochen für die Texte der Lieder zur neuen Platte habe. Das war Ende März, und Bons Beerdigung lag noch keine vier Wochen zurück. Brian erzählt: „Als Erstes fragten Angus und Malcolm mich: ,Macht es dir etwas aus, wenn dir wehgetan wird?‘ ‒ ,Wieso?‘ ‒ ,In dieser Band wirst du ganz schön was einstecken müssen. Seit wir Australien verlassen haben, werden wir von der gesamten Presse niedergemacht.‘ Ich sagte nur: ,Ich werde sowieso einiges einstecken müssen, wenn ich den Platz von Bon einnehme.‘“

Für Brian war es trotz des hohen Gebots nicht einfach, Geordie zu verlassen. „Sie machten es mir aber leichter, indem sie zu mir sagten: ,Nutze deine Chance, Brian, wir werden schon irgendwie ohne dich klarkommen.‘ Es soll von AC/DC sogar eine Ablösesumme an die Gruppe gezahlt worden sein.

Das Wort „Geordie“ bezeichnet den Typus des raubeinigen, aber gutmütigen Kerls aus der Arbeiterklasse, wie er in Newcastle und Umgebung anzutreffen ist. Der redselige Brian, der immer für ein Späßchen und für eine Flasche Newcastle Brown zu haben ist, stellt mit Jeans und Schlägermütze genau diesen Typ dar. „Ich bin ein Geordie durch und durch, und ich will, dass Newcastle meine Heimat bleibt“, sagte er kurz nach seinem Einstieg bei AC/DC.

Als seine musikalischen Einflüsse nannte Brian Ray Charles, Joe Cocker, Tina Turner Jerry Lee Lewis, Howlin’ Wolf und Eric Burdon, der mit den Animals Musikgeschichte geschrieben hatte, wobei ihnen ihre Herkunft nicht im Weg gewesen war. Dabei interessierte ihn, wie auch die Young-Brüder, die aktuelle Musik herzlich wenig: „Ich habe genug damit zu tun, an mir selbst zu arbeiten, da habe ich keine Zeit, mir andere anzuhören.“ Er teilte Malcolms und Angus’ Verachtung des Punkrock: „Der Hardrock ist wieder da, weil das ehrliche Musik ist, die Spaß macht. Mit dem Punk sind die Leute doch nur reingelegt worden. Johnny Rotten ist ein Wichser, mehr kann ich dazu nicht sagen.“

Geordie hatten in ihren Glanzzeiten, genauer im April 1973, für ein paar Konzerte Bon Scotts damalige Gruppe Fraternity ins Vorprogramm genommen. Angus hat behauptet, Bon habe sich seinen Bandkamera­den gegenüber später lobend über Brians Gesang und Bühnenshow geäußert, und Brian erinnerte sich: Ja, sie heizten für Geordie an, das war ’73 oder ’74. Ich weiß auch, dass ich mit dem Sänger einen trinken gegangen bin, aber ich kann mich wirklich nicht mehr daran erinnern, was wir gesprochen haben. Er sah später ganz anders aus. Ich wusste nicht, dass das bei AC/DC er war.“

Brian war nie bei einem Konzert von AC/DC gewesen, doch er kann­te ihre Platten und wusste, dass er als Nachfolger von Bon Scott einen schweren Stand haben würde: „Bon Scott war irgendwie genial. Er hat großartige Texte geschrieben und gesungen, seine Lieder haben das gewisse Etwas, er war intelligent und seine Stimme einzigartig. Aber das hat seinerzeit niemand erkannt, und das ärgert mich. Jetzt sagen sie alle: ,Er war wirklich ein Genie.‘ Das kommt spät, zu spät; es ist einfach unge­recht.“

Brians Ausgeglichenheit, Freundschaftlichkeit und Gelassenheit halfen seiner Eingliederung in die Band auf rein menschlicher Ebene, und auf der Bühne und im Studio machten ihn seine Energie und sein praktisches Können zu einem echten Gewinn für AC/DC. Es gab in der Band keinen Zweifel daran, dass man die richtige Wahl getroffen hatte, wie Angus damals versicherte: „Natürlich gab es Leute, die Bon nach­machen konnten, aber so etwas wollten wir nicht. Wir wollten einen, der genauso fähig ist wie Bon, aber wir wollten keine Kopie von Bon. ... Natürlich ist er in einer schwierigen Lage. Jeden Abend werden die Leute sagen: ,Das ist also der Neue‘ und ihn ganz genau beobachten, so lange, bis wir überall gespielt haben, wo wir früher schon mal waren. Er ist in einer Verlegenheit, und er muss sich da raushelfen. Aber Brian ist einer, der sich wirklich Mühe gibt, und wenn er singt, glaubt er auch an das, was er singt.“

Brians Anliegen war, sich den Anhängern von AC/DC zu beweisen, doch er hatte auch noch eine andere Rechnung offen: „Zehn Jahre lang musste ich nicht nur meine Familie ernähren, sondern mir auch ständig von den Leuten anhören, ich hätte mit der Musik aufs falsche Pferd gesetzt. Es ist schön, wenn ich am Ende antworten kann: ,Ich bin vielleicht ein bisschen spät dran, aber ...‘“

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Verstärkung für AC/DC aus Geordi3-Land: „Jetzt geht’s ans Eingemachte.“