Ein Schatten aus der Vergangenheit

Fliegenbein hatte von Cadoc Aalstrom gehört, lange bevor Barnabas seinen Kindern auf einem Berg mit Blick auf den größten Ozean der Welt von ihm erzählte. Der Homunkulus hatte den Namen zum ersten Mal an einem nebligen Wintertag vor etwas mehr als zwei Jahren gehört. Barnabas war mit sehr blassem Gesicht vom Fjord zurückgekehrt, die Fäuste in hilflosem Zorn geballt. Fliegenbein hatte ihn nie zuvor so gesehen.

Er ging wortlos an ihm vorbei, derselbe Mann, der sonst immer für jeden ein paar freundliche Worte hatte. Fliegenbein war ihm gefolgt, auch wenn ihm seine Neugier peinlich war. Aber er hatte sich solche Sorgen gemacht! Barnabas verschwand in seinem Arbeitszimmer, und dann – Fliegenbein traute seinen Ohren nicht! – hörte er ihn darin Dinge zerbrechen, während er wieder und wieder schrie: »Sei verflucht, Cadoc! Sei verflucht!«

Barnabas verließ sein Zimmer nicht einmal, als es Zeit fürs Abendessen war. Obwohl er diese Mahlzeit nie verpasste, weil er es liebte, sich am Tisch all die Geschichten anzuhören, die die so verschiedenen Gäste aus MÍMAMEIÐR erzählten. Doch dann kam Vita mit einem Teller voller Blaubeerpfannkuchen zu seiner Tür (Barnabas’ Leibgericht). Sie musste drei Mal klopfen, bevor ihr Ehemann ihr schließlich öffnete, noch immer zitternd vor Wut. Und ja, er hatte geweint.

»Er hat zwei Flusspferde getötet, Vita! Was soll ihm das bringen? Mehr Kraft? Reichtum? Wann werde ich es endlich schaffen, ihn aufzuhalten?«

Vita betrat das Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich. Doch Homunkulusohren sind scharf, und Barnabas’ Worte hatten Fliegenbein nur noch neugieriger und besorgter gemacht. Also kroch er zur Tür und presste sein Ohr dagegen. Und hörte zum ersten Mal von Cadoc Aalstrom.

Er erfuhr, dass Aalstrom und Barnabas schon seit Schulzeiten Feinde waren, und hörte noch einen weiteren Namen zum ersten Mal durch die geschlossene Tür: den von Lizzie Persimmons. Anscheinend war ihr etwas Schreckliches zugestoßen, als sie versucht hatte, eine Meerfrau vor Aalstrom zu beschützen. Und Barnabas hatte vergebens versucht, sie zu retten. Fliegenbein erfuhr von so vielen schrecklichen Taten an jenem Abend: von Fabelwesen, die Aalstrom getötet oder wegen ihrer Magie zerstückelt oder zu Tode gehetzt hatte, deren Nachwuchs er gestohlen und deren Herzen er herausgerissen hatte …

»Ach, Vita, all die Sagen und Mythen, die ich als junger Mann gesammelt habe!«, hatte Barnabas mit verzweifelter Stimme gerufen. »Wieso habe ich sie alle aufgeschrieben? Was für ein Dummkopf ich war, ihre Geheimnisse zu verraten, anstatt sie zu schützen! Ich bin sicher, dass Cadoc die Notizbücher, die er mir gestohlen hat, noch immer besitzt. Was er daraus alles erfahren hat! Das Herz einer Himmelsschlange macht reich. Das Herz eines Drachen macht unverwundbar. Der Staub der Moosfeen hält für hundert Jahre jung …«

»… und die Schwimmhäute von Meerfrauen machen unsichtbar«, schob Vita leise hinterher. »Ich weiß. Aber es ist nicht deine Schuld. Du hast all das aufgeschrieben, weil du mehr über die Geschöpfe erfahren wolltest, die du verehrtest und liebtest. Du wolltest sie besser verstehen, um sie besser schützen zu können …«

»Aber das hab ich nicht!«, hatte Barnabas mit bebender Stimme erwidert. »Meine Notizen haben sie verraten! Was sind wir für eine schreckliche Spezies. Ich wünschte, ich wäre kein Mensch.«

»Barnabas!«, fiel Vita ihm ins Wort. »Nicht nur Menschen sind grausam. Die Wespe, die ihre Eier in eine lebendige Raupe legt, spürt kein Mitleid, wenn ihre Kinder ihren Wirt von innen auffressen. Ich fürchte, Mitleid ist in dieser Welt eine ziemlich seltene Empfindung.«

»Aber Cadoc tut das alles nicht für seinen Nachwuchs! Er tut es nur, weil er immer mehr will, Vita! Dürfen wir aus Gier andere Lebewesen verletzen? Dürfen wir den Schmerz und die Verzweiflung anderer Geschöpfe in Kauf nehmen, damit wir uns bereichern können oder ein bequemeres Leben haben? Nein! Nicht einmal für mehr Wissen!«

Das war das Letzte, was Fliegenbein hörte. Hothbrodd war den Flur hinuntergekommen und hatte nach Barnabas gerufen, mit zwei Krabbenwichteln unterm Arm, die mit ihren Zangen nacheinander schnappten. Und Fliegenbein war in die Bibliothek zurückgehastet, wo die Bücher ihn Aalstrom bald hatten vergessen lassen. Er hatte schon immer Zuflucht vor dem Bösen in Büchern gesucht und gefunden.

Aber nun hatte Lola die Nachricht, dass das Böse ausgerechnet an dem Ort eingetroffen war, an dem sie die Aurelia beschützen mussten, in die Berge hoch über dem Meer gebracht.