Lizzie war noch nie so tief in die Schlucht hinabgeschwommen. Sie hatte die Ruinen längst hinter sich gelassen, doch der Gesang ließ sie immer tiefer tauchen, der Gesang, der von unten heraufdrang. Er erfüllte sie vom Kopf bis zur Spitze ihrer Schwanzflosse mit so viel Freude und Licht, dass Lizzie nicht überrascht gewesen wäre, wenn sie sich darin aufgelöst hätte wie ein Kieselfisch im giftigen Speichel eines Schlangenaals.
Der Gesang war so schön! Fast unerträglich schön. All der Glanz und die Traurigkeit der Welt waren darin enthalten, all ihre Geschichten, vom Anfang bis zum heutigen Tag. Doch genau das war sie ja auch: die Große Aurelia, die Sängerin aus der Tiefe. Sie war das Gedächtnis der Welt, ihre Hoffnung und ihre Seele. Und sie war zu Lizzies Lebzeiten gekommen! Sie konnte es immer noch nicht recht glauben.
Wie sehr sie sich wünschte, mit Barnabas darüber zu sprechen!
In all den Jahren, seit sie sich zuletzt gesehen hatten – durch Schichten salzigen Meerwassers hindurch –, hatte sie Barnabas so oft vermisst, aber noch nie so sehr wie jetzt. Sie hatten so viele Male über das magische Wesen gesprochen, das jetzt unter ihr sang. Wie würden die Fabelwesen aussehen, die ihre Samen in diese Welt bringen würden? Mit dieser Frage hatten sie zahllose Nächte verbracht. Würden sie die Einhörner zurückbringen? Die dreiköpfigen Drachen? Die Wolkenvögel?
Unter ihr bewegte sich die riesige Silhouette im Licht, das sie selbst ausstrahlte – ein majestätischer, durchscheinender Schatten. Die Aurelia bewegte sich nur langsam, aber wenn die Geschichten der Wahrheit entsprachen, würde sie die Küste erreichen und die vier Kapseln überbringen, wenn der Mond voll war.
Lizzy hoffte so sehr, dass Barnabas ihre Nachricht erhalten hatte! Aber lebte er überhaupt noch? Hier unten bekam man nur wenig von der Welt da oben mit. Hatte er inzwischen Kinder? Falls ja, sahen sie aus wie ihr Vater? Schlaksig und fast immer mit einem Lächeln auf den Lippen, mit Schlammgnomen in der Jackentasche und Moosfeen auf den Schultern?
Sie ließ Koo die Nachricht an ihn stündlich wiederholen. Der Laternenfisch war sehr aufgebracht über ihren Starrsinn, immer tiefer zu tauchen. Doch auch wenn er Lizzie immer wieder in den Weg schwamm, seine Warnlichter aufblitzen ließ und sogar nach ihrer Schwanzflosse schnappte – er konnte sie nicht zur Umkehr bewegen.
Nein.
Selbst wenn dies ihr Ende bedeuten würde und obwohl sie den Wasserdruck inzwischen wie eine Faust spürte – sie konnte nicht umkehren.
Sie musste für die Sicherheit der Aurelia sorgen. Sie musste irgendwie auf sie aufpassen. Denn auch er würde vielleicht von ihr erfahren. Nein. Sie wollte seinen Namen nicht einmal denken! Der bloße Gedanke an ihn bewirkte, dass das kalte Wasser um sie herum sich noch kälter anfühlte.
Sie kam an den Ruinen eines Palastes vorbei, der noch älter und prächtiger schien als der, dessen Ruinen sie den Meerlingen hatten zeigen wollen, doch die leuchtende Silhouette war immer noch tief unter ihr. Würde das Wasser ihren Körper irgendwann zerdrücken? Lizzie wusste es nicht. Schließlich war sie nicht als Meerfrau geboren worden, und soweit ihr bekannt war, tauchten die Meermenschen niemals so tief.
Sie konnte jetzt die tausend Arme erkennen, die den Körper der Aurelia wie ein Netz aus sämtlichen Farben des Regenbogens umgaben.
Schwimm, Lizzie!
Aber ihre Arme waren inzwischen so schwer, und ihre Schuppenhaut schmerzte von der Kälte und dem Druck des Wassers.
Koo stieß seine Schnauze gegen ihre Schulter. Versuchte er schon wieder, sie zum Umdrehen zu bewegen? Nein. Er schnappte eine schwebende Alge aus dem Wasser, die mit winzigen roten Blüten überzogen war, kaute darauf und gab ihr zu verstehen, es ihm nachzutun. Lizzie versuchte es. Die Alge schmeckte schrecklich süß, doch sie spürte die Kälte und den Druck sofort weniger stark und tätschelte Koo dankbar die gelben Schuppen. Er liebte es, getätschelt zu werden. Manchmal war er wie ein riesiger Hund, auch wenn er sehr beleidigt gewesen wäre, wenn man ihn mit einem Haustier verglichen hätte. Laternenfische waren stolz auf ihre Verwegenheit. Wenn es sein musste, legten sie sich sogar mit Haien an, und Lizzie war Koo sehr dankbar, dass er ihr in die Schlucht hinab gefolgt war.
Inzwischen konnten sie die Aurelia ganz deutlich sehen. Und ja, sie war riesig, sogar noch riesiger, als sie und Barnabas sich vorgestellt hatten. Wie oft hatten sie überlegt, ob sie größer als ein Grauwal sein würde. Sie war mindestens zehn Mal so groß. Ohne die Arme. Jeder einzelne von ihnen zog sich bis zu hundert Meter weit durchs Wasser. Und da! Lizzie spürte ihr Herz wie eine Trommel in der Brust. Da leuchtete etwas. Das musste eine der Kapseln sein.
»Was glaubst du, Lizzie, wie sehen sie aus?«, meinte sie Barnabas’ Stimme zu hören. »Wie eine Frucht? Wie ein Schwamm? Oder ein Ei?«
»Vielleicht wie ein Schildkrötenei?«, hörte sie sich selbst sagen.
Sie hatten beide danebengelegen. Die Kapsel, die Lizzie an einem der Arme der Aurelia schimmern sah, war hellblau und sah eher wie ein Pflanzensamen aus.
»Ich werde dich beschützen!«, flüsterte Lizzie, mit sämtlichen Lichtern an ihrem Schwanz. »Vor Cadoc Aalstrom und wer immer sonst deine Samen stehlen will. Heiliges Meerfrauen-Ehrenwort.«
Unter ihr summte die Dunkelheit vor Schönheit, Freude und Leben, und hundert Augen öffneten sich wie Blüten auf der Haut der Aurelia.
Bitte, Barnabas!, dachte Lizzie, als sie spürte, wie ihr Gesang und ihr Licht sie umschlossen. Bitte antworte auf meine Nachricht. Wir müssen sie schützen.
Sonst würde es bald keine Meermenschen in den Schiffswracks von Momi mehr geben. Und sie würde mit ihnen verschwinden.