Am Nachmittag fuhr Vita hinunter zum Strand, und Ben entschied sich, sie zu begleiten. Er hatte mit Lung gesprochen, bevor er und Schwefelfell vom Saum des Himmels aufgebrochen waren. Es würde noch mindestens zwei Tage dauern, bis sie eintreffen würden. Bis dahin gab es für einen Drachenreiter nicht viel zu tun. Umso mehr Zeit blieb ihm, über die Bedrohung nachzudenken, die die Aurelia neben dem Versprechen ihrer Kapseln mit sich brachte. Als sein Vater ihnen endlich alles über sie erzählt hatte, war er sehr bemüht gewesen, optimistisch zu klingen, doch Hothbrodd hatte sich die Mühe nicht gemacht. »Ich fass das mal im Klartext zusammen, Barnabas«, hatte er geknurrt. »Falls dieser Aalstrom die Riesenqualle verärgert, setzt sie das Meer in Brand und lässt sich nie wieder blicken. Und von uns allen fehlt von da an auch jede Spur: keine Trolle mehr, keine Drachen, Kobolde, Homunkuli oder sprechende Ratten wie Lola … Det var som pokker! Ich beneide euch Menschen wirklich nicht darum, in so einer langweiligen Welt zu bleiben.« Dann hatte er sich umgedreht und etwas an seinem Flugzeug repariert.
Keine Trolle mehr, keine Drachen, Kobolde, Homunkuli … Meerfrauen und Pegasi, Wichtel, Feen, Elfen … »Lasst uns einfach nicht darüber nachdenken. Wir müssen uns auf unsere Aufgabe konzentrieren.« Barnabas hatte das inzwischen ziemlich oft gesagt. Aber natürlich konnte keiner von ihnen aufhören, darüber nachzudenken, während sie alle so taten, als machten sie sich keine Sorgen. Fliegenbein hatte große Mühe, seine Furcht zu verbergen, und es brach Ben das Herz, dass er ihm nicht sagen konnte, dass das alles sicher nur eine alte Geschichte war, die nicht wahr werden würde. »Weiß Lung von der Gefahr?«, hatte er seinen Vater gefragt. »Ja«, hatte Barnabas geantwortet. »Das ist einer der Gründe, warum er darauf bestanden hat, der Kurier des Feuers zu sein. Wir werden auch die Zukunft seiner Kinder sichern, wenn wir es schaffen, die Aurelia zu beschützen.«
Lasst uns einfach nicht darüber nachdenken.
Also … Ja. Es gab genügend Gründe, zum Strand zu fahren. Zu erkunden, wie sie den Ort, an dem die Aurelia auftauchen würde, am besten schützen könnten, war ganz sicher besser, als aufs Meer hinaus zu starren und sich zu fragen, ob er jemals wieder glücklich sein würde, falls es in sieben Tagen keinen Lung mehr geben würde. Hothbrodd richtete gerade eine Kommunikationszentrale am Zeltplatz ein, damit sie mit MÍMAMEIÐR und all ihren Helfern in Kontakt bleiben konnten. Barnabas und Guinever waren ebenso wie Freddie geblieben, um ihn zu unterstützen. Fliegenbein jedoch hatte darauf bestanden, Ben zum Strand zu begleiten, trotz der Gefahr durch Möwen- und Pelikanschnäbel.
»Meister, bitte! Ich kann mich doch unter Eurer Jacke verstecken!«, hatte er gefleht und Ben so ängstlich wie traurig angesehen. Sieben Tage … Nein. Ben wollte definitiv nicht in einer Welt ohne Drachen und Homunkuli leben. Er würde einfach mit ihnen verschwinden. Nachdem er Cadoc Aalstrom ebenfalls aus der Welt geschafft hatte!
Natürlich hatte er Fliegenbeins flehendem Blick nachgegeben. Doch als er im Sand stand und Schwärme von Möwen über dem Wasser nach Beute Ausschau halten sah, bereute er es, den Homunkulus mitgenommen zu haben. Möwen, Kormorane, Pelikane … diese Küste hatte prächtige, aber auch sehr gefährliche gefiederte Bewohner. Zumindest für Homunkuli …
»Bleib in meiner Tasche!«, wies er Fliegenbein an. »Hier ist es wirklich nicht sicher für dich.«
Der Strand sah tagsüber ganz anders aus als bei Nacht. Zwei Hunde liefen ihren Besitzern voraus, und eine Schwadron Pelikane segelte über ihren Köpfen vorbei. Sie waren wirklich ein sehr beeindruckender Anblick, aber ihre Schnäbel waren ohne Zweifel groß genug für mehrere Homunkuli.
Seine Mutter und er hatten auf der Fahrt zum Strand geschwiegen. Normalerweise redeten sie im Auto sehr viel, doch Ben war sicher, dass Vita genau wie er im Kopf eine Liste all der Fabelwesen durchging, die sie liebte, und sich vorzustellen versuchte, wie sich das Leben ohne sie anfühlen würde. Ohne ihre Freundin Raskerwint zum Beispiel, die Zentaurin …
»Hast du ihn mal getroffen?«, fragte Ben schließlich, als sie Seite an Seite den Strand entlangstapften. Guinever hatte im Internet nach Aalstrom gesucht, doch sie hatte nichts gefunden. Keine Fotos. Nichts über seine Geschäfte, sein Privatleben, seine Vergangenheit … Es schien, als habe Cadoc Aalstrom seine Aktivitäten genauso wirkungsvoll vor den Augen der Welt verborgen, wie es die Wiesengrunds taten.
»Nein«, erwiderte Vita. »Ich habe zum ersten Mal von ihm gehört, nachdem er den Tod von Barnabas’ Freundin Lizzie Persimmons verschuldet hatte. Barnabas hat sie euch gegenüber nur kurz erwähnt, weil es ihm immer noch schwerfällt, über sie zu reden. Lizzie war eine sehr gute Freundin von ihm, und er kann es sich nicht verzeihen, dass er sie nicht retten konnte. Sie wollten damals eine Meerfrau vor Cadoc beschützen. Er hatte es auf die Schwimmhäute zwischen ihren Fingern abgesehen, weil sie Menschen angeblich unsichtbar machen. Lizzie geriet in den Sog von Cadocs Schiffsschraube, und plötzlich war sie fort. Es ist kein Trost für Barnabas, dass auch er fast ertrunken wäre. Er hat es unserem Freund Kahurangi zu verdanken, dass er noch am Leben ist.«
Ben wich einer Welle aus, die ans Ufer spülte. »Was ist mit der Meerfrau passiert?«
»Cadoc hat die Schwimmhäute nicht bekommen. Das hätte sonst ihren sicheren Tod bedeutet. Mehr wissen wir nicht.« Vita seufzte. »Ich hoffe, Lola findet heraus, wo Cadoc steckt. Falls er wirklich hier ist.«
Sie blickte zu den Häusern oberhalb des Strandes und dann auf die vielen Fußspuren im Sand. »Nachts schließen sie die Strände, aber ich bin sicher, dass einige der Leute, die hier wohnen, trotzdem noch bei Dunkelheit am Strand spazieren gehen. Wir können nur hoffen, dass die Aurelia sehr spät in der Nacht kommt. Dein Vater hat recht: Das ist der falsche Küstenabschnitt. Vielleicht weiß die Aurelia nicht, wie sehr sich die Welt in den letzten zweitausend Jahren verändert hat.«
Ein paar Felsen ragten aus dem Wasser, scharfkantig und aus dunklem Stein. Als sie sich ihnen näherten, sah Ben Gezeitentümpel in den Becken und Spalten, die sie formten, angefüllt mit Anemonen, Muscheln und Seesternen. War einer von ihnen Elewese?, fragte er sich. Falls ja, gab der Chumash sich nicht zu erkennen.
»Meister!« Fliegenbein kletterte aus Bens Tasche und zog an seinem Ärmel. »Da! Die Ohren des Ozeans!« Seine Neugier ließ Fliegenbein immer wieder seine Ängstlichkeit vergessen. Ben schloss die Hand schützend um ihn, während er näher an die Felsen herantrat, auf die der Homunkulus zeigte.
»Ja, du hast recht, Fliegenbein«, flüsterte Vita, während sie sich über die dicht gedrängten Muscheln beugte, die den nassen Stein bedeckten. »Ein paar von denen sind eindeutig nicht die gewöhnlichen Muscheln, die man hier sonst findet.«
Die Felsen, die die Ebbe freigelegt hatte, waren so scharfkantig, dass sie aufpassen mussten, sich beim Laufen nicht die Füße aufzuschneiden. Für Ben sahen die Muscheln alle gleich aus, doch Vita beugte sich über ein halbes Dutzend, das eine Handbreit über dem Wasser an den nassen Felsen haftete, und fing an, eine Melodie zu summen, die so schön und lebendig war wie der Tanz der Wellen. Die Muscheln regten sich schon nach wenigen Takten und öffneten sich wie Blumen, die sich nach der Sonne sehnten.
»Voilà!« Vita trat lächelnd zurück. »Jetzt hören sie zu. Fliegenbein, meinst du, du kannst mit ihnen reden?«
»Ich will es versuchen«, sagte der Homunkulus. »Fließend bin ich nur in zehn Muscheldialekten. Wollen wir hoffen, dass sie einen davon verstehen.«
Er räusperte sich, während Ben sich nach allen Seiten umsah, doch es war inzwischen recht kalt und windig, und sie waren, soweit er sehen konnte, die einzigen Menschen am Strand. Die Muscheln bedeckten die Felsen so dicht, dass es nicht einfach war, Fliegenbein zwischen ihnen abzustellen. Ihre dunklen Schalen reichten ihm bis zur Hüfte, und er schnitt sich beinahe die Finger an ihren scharfen Kanten auf, als er sich an einer festzuhalten versuchte.
»Keine Sorge, Meister!«, sagte er, als Ben sich besorgt zu ihm vorbeugte. »Ich bin unverletzt! Ich nehme an, die Bewohner dieser Schalen …«, er gab sich große Mühe, furchtlos und überhaupt nicht beunruhigt zu klingen, »… sind ebenso weich und wabblig wie normale Muschelschalenbewohner?«
»Ja«, erwiderte Vita. »Sie fressen nichts, was größer ist als ein Sandfloh.«
»Und ich behalte die Möwen im Auge«, fügte Ben hinzu, während sich Fliegenbein noch einmal räusperte.
»Seid gegrüßt, hochverehrte Ohren des Ozeans«, rief der Homunkulus mit seiner besten Singsang-Stimme. »Alle Muschelarten wissen eine poetische Ausdrucksweise zu schätzen«, setzte er mit gesenkter Stimme hinzu. »Würdet Ihr uns die Ehre erweisen, uns mitzuteilen,« fuhr er fort, »ob Ihr in letzter Zeit irgendetwas Ungewöhnliches in den salzigen Gestaden Eures Königreiches vernommen habt?«
Den Ohren des Ozeans gefiel dieser Einstieg sichtlich. Sie fingen an, so hektisch mit ihren Schalen zu schnattern, dass Fliegenbein aufpassen musste, keine Hand zu verlieren.
»Sie sagen …«, er lauschte konzentriert, »… dass es eine merkwürdige Nachricht gibt. Jemand sendet sie stündlich aus.«
»Eine Nachricht?« Ben tauschte einen Blick mit seiner Mutter aus. »Wie lautet die Nachricht?«
Wieder lauschte Fliegenbein dem schnellen Geschnatter der Muscheln. »Naia an Fufluns!«, gab er wieder. »Sie singt … wo … Momi schläft. Richtung hikina.«
Vita sah Fliegenbein ungläubig an. »Naia an Fufluns? Du musst dich irren.«
Der Homunkulus beugte sich über die Muscheln. »Dürfte ich um eine Wiederholung bitten?«
Die Muscheln begannen erneut zu schnattern, noch schneller als zuvor.
Der Homunkulus runzelte die Stirn und blickte zu Vita auf. »Ich glaube, ich habe die Nachricht korrekt wiedergegeben.«
Vita starrte auf den Ozean hinaus. »Unmöglich«, murmelte sie.
»Was ist unmöglich?«, fragte Ben. »Sagen dir diese Namen etwas?«
»Allerdings«, erwiderte Vita. »Dein Vater hat sich früher Fufluns genannt, als er noch zur Schule ging. Das ist der Name eines römischen Gottes, der die Pflanzen und Tiere beschützt. Und Naia … das war Lizzie Persimmons’ Spitzname.«
Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Fliegenbein. Kannst du den letzten Teil der Nachricht noch mal wiederholen?«
Der Homunkulus kam ihrem Wunsch nach – während die Ohren des Ozeans von anderen Dingen schnatterten, die an dieser Küste vor sich gingen: von Orcas, die sich in einem nahe gelegenen Meeresgraben versteckten, um Grauwalkälber zu jagen, über eine seltsame Krankheit unter Schwämmen und ein Schiff, das giftige Abfälle ins Meer kippte.
»Sie singt, wo Momi schläft! Richtung hikina.« Vita zog einen Zettel aus ihrer Jackentasche und notierte, was Fliegenbein gesagt hatte. Dann starrte sie eine Weile auf das Papier.
»Nein«, sagte sie schließlich. »Das ergibt auch geschrieben keinen Sinn. Ich habe keine Ahnung, was das heißt. Hoffentlich weiß Barnabas mehr.«
»Gut gemacht!«, sagte Ben, als er Fliegenbein zurück in seine Jackentasche setzte. »Auch wenn wir es noch nicht verstehen. Freddie ist vielleicht der bessere Tänzer, aber du kannst ganz sicher besser übersetzen. Deine Talente, was das betrifft, erstaunen mich immer wieder.«
Der Homunkulus strahlte ihn dankbar an. Ben wusste natürlich, wie schwer sich Fliegenbein damit tat, es mit Freddies Enthusiasmus aufzunehmen.
»Ihr solltet kein Wort von dem glauben, was sie erzählen. Nur Dummköpfe vertrauen dem Geschnatter von Ohrenmuscheln.« Das Geschöpf, das unter einer blassblauen Anemone hervortrat, war nur wenig größer als Fliegenbein. Es hatte Haare, die an Seegras erinnerten, schwarze Fischaugen und Finger, die in spitzen schwarzen Dornen endeten. Eine der Muscheln schnappte nach ihr, doch die Nixe – denn das war sie – sprang in einen Gezeitentümpel am Fuße des Felsens, bevor die Muschel ihren dünnen blauen Arm erwischen konnte.
Als sie wieder auftauchte, sah Ben zum ersten Mal ihren Schwanz. Er ähnelte einem Zopf, geflochten aus acht Strängen mit regenbogenfarbenen Schuppen. Der Zopf löste sich, sobald sie sich aus dem Wasser zog, und verwandelte sich in acht Beine, die sie flink wie die einer Spinne an den Felsen hinauftrugen. Als sie die Spitze erreichte, starrte sie so angriffslustig zu ihnen hinüber, dass Fliegenbein hastig in Bens Tasche schlüpfte.
»Ihr seid die Menschen, von denen der Seestern erzählt hat.« Ihre Stimme war eine seltsame Mischung aus dem Zischen einer Schlange und dem Raunen der Wellen. Vier weitere ihrer Art tauchten hinter ihr auf und blickten ebenso angriffslustig drein wie die erste.
Vita kniete sich in den Sand, um weniger bedrohlich zu wirken, und signalisierte Ben, es ihr nachzutun.
»Unglaublich!«, flüsterte er ihr zu. »Nixen mit Beinen! Ich wünschte, Guinever könnte sie sehen!« Er fühlte den schrecklichen Drang, ein Foto zu machen, doch eine der FREEFAB-Regeln besagte, dass man nie die Existenz eines Fabelwesens dokumentieren durfte, weil andere dann allzu leicht von ihnen erfahren konnten. Wie hatten die Notizbücher seines Vaters ausgesehen? Ben hätte zu gern darin geblättert, denn er hatte viele von ihnen gefüllt, als er in seinem Alter gewesen war. Aber Barnabas hatte all die verbrannt, die Cadoc ihm nicht gestohlen hatte.
»Was für ein Nix ist er?« Eine der Meerfrauen zeigte mit ihrem Dornenfinger auf Fliegenbein, als er aus Bens Tasche hervorlugte. »Hat er seine Schuppen verloren?«
»Meine Schuppen? Ich hatte noch nie Schuppen!«, rief Fliegenbein. »Ich bin ein Homunkulus!«
Die Nixen tuschelten miteinander, als wüssten sie nicht genau, was sie mit dieser Antwort anfangen sollten.
»Danke, dass ihr euch uns gezeigt habt«, sagte Vita. »Ich bin sicher, dass dieser Strand viele Gefahren für euch bereithält.«
Die Nixen sahen einander an und brachen dann in spöttisches Gelächter aus.
»Gefahren? WIR sind hier die Gefahr!«, fauchte die, die sie zuerst gesehen hatten. »Wir sind Zopfnixen! Die Hunde haben ebenso große Angst vor uns wie die Möwen. Wir haben gehört, dass ihr Helfer sucht, um eine Kreatur zu schützen, die aus der Tiefe kommt.«
»Ja, richtig.« Vita konnte den Blick nicht von ihnen abwenden. Sie liebte alle Fabelwesen, doch wenn Vita Wiesengrund sich hätte entscheiden müssen, welches ihr am liebsten war, wäre ihre Wahl – da war Ben ziemlich sicher – auf Nixen und Meerfrauen gefallen.
»Würdet ihr uns helfen?«, fragte er. »Wir wären euch sehr dankbar. Vielleicht werdet ihr euch selbst damit retten. Euch und viele andere.«
Doch die fünf Zopfnixen verschwanden plötzlich mit einem Platscher im offenen Meer – nachdem ihre Beine sich im Sprung erneut zu einem Nixenschwanz verflochten hatten.
»Ich nehme an, es ist Euch bekannt, dass Zopfnixen fast so gefährlich sind wie ein japanischer Kugelfisch?«, bemerkte eine tiefe Stimme hinter Ben. »Und sie sind weit weniger vertrauenswürdig als Ohrenmuscheln.«
Ben schob Fliegenbein tiefer in seine Tasche und richtete sich auf.
Der Mann, der nur wenige Schritte von ihm und Vita entfernt stand, war in Anbetracht seiner tiefen Stimme erstaunlich klein. Ben überragte ihn um mindestens zwei Köpfe, und das, obwohl er nicht besonders groß war für sein Alter. Doch die fehlende Körpergröße machte der Fremde durch seine äußerst kräftige Statur wett. Jeder Ringer hätte ihn um seine Schultern beneidet, und seine behandschuhten Hände hätten zu einem Mann von doppelter Größe gepasst. Die Augen, mit denen er sie musterte, erinnerten an die einer Katze und waren so grün wie die Blätter einer Birke im Frühling. Ben kannte diese Art von Augen sehr gut. Gryfydd Langzeh, der Leprechaun, der unter dem Bibliothekstisch in MÍMAMEIÐR wohnte und arbeitete, fixierte ihn mit genau diesem grünen Blick, wenn Ben ihm einen undichten Stiefel brachte oder ihn daran erinnerte, dass das Töten von Kaninchen, um aus ihrer Haut Schuhleder zu machen, auf dem Gelände von MÍMAMEIÐR verboten war.
Ja, der Fremde, der die Zopfnixen verscheucht hatte, war zweifelsfrei ein Leprechaun, auch wenn er sein drahtiges grünes Haar schwarz gefärbt hatte und seine krallenbewehrten Finger in Handschuhen verbarg. Der Hund an seiner Seite ähnelte einer Bulldogge, doch irgendetwas an ihm war merkwürdig. Die Zähne, die er fletschte, als Ben ihn musterte, waren spitze Elfenbeinnadeln und standen in drei dichten Reihen hintereinander.
Sein Herr verbeugte sich erst vor Vita und dann vor Ben. »Was für ein unerwartetes Vergnügen, jemandem zu begegnen, der weiß, wie man eine Unterhaltung mit den Ohren des Ozeans beginnt. Darf ich mich vorstellen? Derog Shortsleeves. Ich weiß, diesen Muscheln sagt man nach, sie seien dumm. In Wirklichkeit sind sie nur sehr geschwätzig, so wie Hausgänse, die den ganzen Tag damit verbringen können, über die Qualität getrockneter Würmer zu reden. Nur aus diesem Grund beziehe ich meine Informationen zumeist von weniger schwatzhaften Quellen, wie Selkies oder Meermenschen. Beide können gefährlich sein, aber für wen gilt das nicht? Man muss nur wissen, wie man sie besticht.« Er zwinkerte Ben zu, als wären solche Strategien normalerweise Männersache. »Was für ein Wesen – wenn ich fragen darf – versteckt sich da in Eurer Tasche? Ist es ein Finstergnom? Ich war mir ziemlich sicher, dass es die auf diesem sogenannten neuen Kontinent nicht gibt.«
»Ihr habt recht. Er ist kein Finstergnom«, antwortete Ben. »Aber er kommt nicht von hier. Wir sind nur … Touristen.«
Ein Leprechaun. An der kalifornischen Küste. Seine Mutter versuchte es zu verbergen, doch Ben sah, wie sehr Derog Shortsleeves’ Anwesenheit an diesem Ort und zu dieser Zeit sie irritierte. Gryfydd Langzeh hatte ihnen allen oft gezeigt, wie sehr seine Art böse Streiche liebte, und Bens Eltern hatten ihm schon wiederholt mit dem Exil gedroht. Einmal hatte er Tallemaja, ihre Köchin, mit einem Trick beinahe dazu gebracht, ein paar schlafende Pilzlinge zu Eintopf zu verarbeiten, und Gryfydd war bloß ein Zwergleprechaun. Derog Shortsleeves dagegen gehörte ohne Zweifel zu den hochgewachseneren Leprechauns, denen man große Verschlagenheit nachsagte, eine unersättliche Gier nach Gold und eine Vorliebe für wirklich schlimme Streiche.
»Ich meine, einen südirischen Akzent zu hören, Mr. Shortsleeves?« Es gelang Vita, dem Leprechaun ein freundliches Lächeln zu schenken. »Cork, würde ich sagen? Verbringt Ihr ebenfalls Eure Ferien in Malibu?«
Der Leprechaun zeigte nadelspitze Zähne, als er ihr Lächeln erwiderte. »Nicht wirklich. Ich bin geschäftlich hier. Meine Unterkunft ist ganz in der Nähe, weil ich die Gesellschaft von Robben und Seelöwen schätze. Vor allem von denen, die manchmal ihr Fell ablegen. Sie lieben diesen Felsen dort drüben.«
Er zeigte auf eine Felsformation, die sich etwa hundert Meter vom Strand entfernt aus dem Wasser erhob. Ben entdeckte ein halbes Dutzend Seehunde darauf, die ihr nasses Fell in der Sonne trockneten. Aus der Ferne sahen sie wie ganz gewöhnliche Seehunde aus, doch Ben bezweifelte, dass Derog Shortsleeves gelogen hatte, was ihre wahre Natur betraf. Manchmal schwamm eine Selkie den Fjord hinauf, der bis nach MÍMAMEIÐR führte. Guinever und Vita unterhielten sich gerne mit ihnen, doch Ben blieb auf Distanz, seit eine von ihnen ihm beinahe die Hand abgebissen hatte, als er versucht hatte, eine Schlammnixe vor ihr zu beschützen.
»Nun«, Derog Shortsleeves stellte seinen Kragen auf, um sich vor dem kalten Wind zu schützen, »ich bin sicher, wir werden uns wiedersehen.« Er zog eine kleine goldene Schatulle aus der Tasche und reichte Vita eine Visitenkarte. »Ich glaube, ich habe noch nicht nach Eurem Namen gefragt.«
»Tönnesen«, antwortete Vita. »Vita Tönnesen, und das ist mein Sohn Ben.«
Ben liebte es, dass Vita und Barnabas den Nachnamen, mit dem er geboren worden war, als Decknamen verwendeten, wenn sie reisten. Und es wärmte ihm noch immer das Herz, ihr Sohn genannt zu werden.
»Tönnesen.« Der Leprechaun schmunzelte, als wüsste er genau, dass das nicht Vitas wirklicher Name war. »Passt auf Euren kleinen Freund auf«, sagte er zu Ben, bevor er sich umwandte. »Er ist eine äußerst seltene Kreatur. Oder wie nennt Euresgleichen es? Bedroht?«
»Manannan!«, rief er seinem Hund zu, der eine Möwe aufscheuchte. »Komm, wir gehen.«
Einer der Seehunde bellte, als er über den feuchten Sand davonschritt. Es klang fast menschlich. Bei zweien glaubte Ben tatsächlich das Muster auf dem Rücken zu erkennen, das er von den Selkies in Schottland kannte.
»Selkies und ein Leprechaun in Kalifornien? Dieser Ort steckt wirklich voller Überraschungen.« Vita ließ Derog Shortsleeves nicht aus den Augen, bis er schließlich hinter ein paar Felsen verschwunden war.
»Glaubst du, er ist wegen der Aurelia hier?« Ein Leprechaun würde nur an eines denken, falls er tatsächlich deshalb hergekommen war: wie viel Gold sich mit ihren Samenkapseln erzielen ließ.
»Ich hoffe nicht.« Vita starrte noch immer auf die Felsen, hinter denen der Leprechaun mit seinem Hund verschwunden war. »Das wäre auch sein Ende, wenn es stimmt, was die Geschichten über den Zorn der Aurelia sagen.« Sie legte Ben den Arm um die Schultern. »Komm. Wir müssen langsam zu den anderen zurück. Wir haben einiges zu berichten!«
Nicht zuletzt von der mysteriösen Nachricht, von der die Ohrenmuscheln geschnattert hatten. Die von jemandem stammte, den sein Vater für tot gehalten hatte.