Die Sonne ging bereits unter, als Vita und Ben in ihr Lager in den Bergen zurückkehrten. Hothbrodd und Barnabas standen auf einem hohen Felsen, der in den dunkler werdenden Himmel ragte wie der Kopf eines Gorillas, der die steinige Landschaft seit Jahrtausenden bewachte. Hothbrodd war dabei, heftig zu gestikulieren, während Barnabas den grauen Stein zu seinen Füßen inspizierte.
»Ich hätte mit euch kommen sollen!«, seufzte Guinever, als sie auf sie zukam. »Die zwei klettern seit einer Stunde auf diesen Felsen herum, und ich musste mir schon die wildesten Theorien anhören: Vielleicht gab es mal Drachen in Amerika. Vielleicht sind das versteinerte Seeungeheuer … Wenigstens haben wir den Sender und die Antennen aufgestellt, aber der Empfang ist noch ziemlich wacklig.«
»Warte, bis wir dir erzählen, wen wir getroffen haben. Dann wirst du dir noch mehr wünschen, mitgekommen zu sein«, neckte Ben sie.
Am Horizont, weit draußen über dem Meer, verwandelte die untergehende Sonne die Wolken in eine Herde pinkfarbener Schafe, die über den glitzernden Wellen grasten. Wie sehr er sich danach sehnte, jetzt auf Lungs Rücken zu steigen und dorthin zu fliegen! Ben konnte es kaum erwarten, dass er endlich eintraf, auch wenn ein Teil von Ben immer ein wenig besorgt war, wenn Lung die Sicherheit des Saums verließ. »Drachenreiter«, hatte Lung ihn unterbrochen, als er ihm das zuletzt gebeichtet hatte. »Ich werde nie wieder Gefangener eines Ortes sein. Ich bin nicht bereit, mit meiner Freiheit für meine Sicherheit zu bezahlen. Und auch meine Kinder werden sich nicht im Himalaja verstecken. Was für ein elendes Leben wäre das? Ich will ihnen die Welt zeigen! Ja, wir werden vorsichtig sein, aber vielleicht kommt einmal eine Zeit, in der die Drachen frei am Himmel fliegen können und die Menschen sie als Boten des Glücks begrüßen. Wer weiß?« Ben blickte zum inzwischen fast dunklen Himmel hinauf und stellte sich vor, wie Schuppe, Mondtanz und Stachel dort oben kreisten, so wie die Habichte, die er am Morgen gesehen hatte. Er hoffte wirklich, dass Schwefelfell weniger schlecht gelaunt sein würde, wenn sie eintraf, damit er nicht umsonst mit Hothbrodds Flugzeug geflogen war statt auf Lungs Rücken. Nein, erinnerte er sich selbst mit einem Lächeln, Schwefelfell ohne schlechte Laune ist nicht Schwefelfell. Trotzdem war er froh, dass er ihr Lungs Rücken überlassen hatte. Die nörgelnde, fluchende, scharfzüngige Schwefelfell … auf eine Art war sie genauso seine Schwester wie Guinever, auch wenn er der Koboldin das ganz sicher niemals sagen würde. Wenn es doch nur einen stillen Teich oder irgendein anderes Gewässer gäbe, durch das er sich mit ihnen unterhalten könnte! Doch Wasser war knapp in diesen sonnenverbrannten Bergen, sogar zu dieser Jahreszeit, und der Ozean in der Ferne war viel zu wild.
»Barnabas!«, rief Vita. »Komm runter! Wir haben Neuigkeiten!«
Sie betrachtete die sie umgebenden Felsen mit besorgter Miene, während ihr Mann und der Troll mit dem Abstieg begannen.
»Habt ihr beiden auch das merkwürdige Gefühl, dass sich hier etwas versteckt hält?«, fragte sie. »Und ich rede nicht von uralten Drachen. Ich glaube, wir sollten unser Lager woanders aufschlagen.«
Ben wusste, was Vita meinte. Er fühlte sich ebenfalls nicht ganz wohl. Als regte sich etwas unter seinen Füßen. Gut, sie befanden sich auf Erdbebengebiet, und dennoch …
»Vielleicht ist es nur die einbrechende Nacht«, sagte Guinever. »Diese Felsen werfen seltsame Schatten. Sie sehen fast lebendig aus.«
Das stimmte.
»Ich gucke mal nach Fliegenbein und Freddie«, sagte Ben und ging zu dem Puppenhaus, wo die beiden Homunkuli sich gerade zum Abendessen an den Tisch gesetzt hatten. Hothbrodd hatte bei diesem Haus wirklich großartige Arbeit geleistet. Es besaß eine funktionierende Küche, weil Freddie gerne kochte, ein Bad mit echter Badewanne und sogar eine kleine Bibliothek. Die geflochtenen Untersetzer unter den Wassergläsern, die Freddie gerade füllte, waren das Geschenk einer Graswichtelin, die Freddie vor einer Ratte gerettet hatte. Er war ein furchtloser Kämpfer, im Gegensatz zu seinem Bruder. Manchmal konnte Ben es Fliegenbeins Gesicht ansehen, dass er sich insgeheim wünschte, ein wenig mehr wie Freddie zu sein.
»Wo sind die Bläulinge?«, fragte Ben, als er sich vor das kleine Haus kniete. Ihr Holzkoffer war leer.
»Schon wieder auf einer ihrer Expeditionen!« Fliegenbein verbarg sein Missfallen nicht. »Ich habe ihnen gesagt, dass sie als Kojotenmahlzeit enden werden, aber sie haben mich nur ausgelacht.«
»Sie sind sehr mutig«, sagte Freddie, während er seine Puppengabel in die Pasta bohrte. »Ich glaube, beim nächsten Mal gehe ich mit ihnen.«
»Das wirst du nicht!«, fuhr Fliegenbein ihn an.
Freddie lächelte Ben zu. O doch, sagte dieses Lächeln.
Barnabas und Hothbrodd hatten inzwischen den Fuß des Felsens erreicht. Würde sein Vater die geheimnisvolle Nachricht entziffern können? Ben hoffte es sehr. Vita und Guinever gingen gerade auf ihn zu, als Fliegenbein von seinem Stuhl aufsprang. Die winzigen blauen Porzellanteller, die Guinever in einem Spielwarengeschäft gekauft hatte, tanzten quer über den Tisch, als wären sie lebendig. Der Boden unter Bens Füßen bebte, und er sah, wie Vita Guinever schützend an sich zog.
»Weg von den Felsen, Vita!«, schrie Barnabas. »Das ist kein Erdbeben!«
Dann rannte er los, um ihnen allen zu Hilfe zu kommen, während Hothbrodd alarmiert zu seinem Flugzeug starrte. Der Boden um sie herum erwachte zum Leben. Es fühlte sich an, als begänne er zu atmen.
»Bleibt, wo ihr seid!«, rief Ben den Homunkuli zu, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrten. Dann schloss er hastig die beiden Türen, die das Haus wie eine Kiste verschlossen, und schob den Riegel vor, den Hothbrodd daraufgeschraubt hatte.
Hinter ihm brach ein geschuppter Rücken durch das Gras, und gewaltige Krallen gruben sich aus der Erde.
»Lauft!«, brüllte Hothbrodd. »Alle! Zum Flugzeug!«
Doch es war zu spät.
Das Monster, das sich die trockene Erde von den riesigen Gliedern schüttelte, verstellte ihnen den Weg. Sein Schwanz war mit Stacheln bespickt, und als es sein Maul aufriss, war darin eine Reihe steingrauer Zähne zu sehen. Trübe Augen starrten auf sie herab, als wäre das Ungeheuer noch nicht ganz wach. Doch dann schüttelte es seinen mächtigen Kopf und stieß ein so tiefes Knurren aus, dass es aus dem Inneren der Erde zu kommen schien.
Ben trat schützend vor das Puppenhaus. Er versuchte es aufzuheben, doch das Monster holte tief Luft und hüllte sie alle in eine Wolke seines staubig-heißen Atems. Ben fiel auf die Knie und spürte, wie seine Glieder versteiften. Er warf sich schützend vor das kleine Haus, als das Monster erneut Atem holte. Einige Schritte entfernt versuchte seine Mutter, Guinever mit ihrem Körper zu schützen, doch ihre Gesichter wurden beide grau wie Stein, als das Ungeheuer sie alle erneut in seinen Atem einhüllte.
Ben sah, wie auch seine eigenen Hände grau wurden. Er sah seinen Vater und Hothbrodd auf die Knie sinken, und dann … bestand die ganze Welt aus Stein.