Zu spät?

Ja. Lung würde kommen, und alles würde wieder gut werden. Während sie auf Marys Veranda saßen und warteten, wiederholte Fliegenbein dieses Mantra so oft, dass es inzwischen zu einem dauerhaften Murmeln in seinem Kopf geworden war. Die Bläulinge waren unbeschadet von ihrer Expedition zurückgekehrt, und Fliegenbein musste zugeben, dass es sehr beeindruckend war, wie mühelos sie ihrer Spur von dem Zeltplatz zu Mary gefolgt waren. Sie waren zähe Burschen – und so arrogant wie Pfauen! Freddie hatte ihnen einen lebhaften Bericht der nächtlichen Geschehnisse gegeben, aber sie hatten mit unbewegten Gesichtern gelauscht. »Na ja, es ist eine wilde Welt!«, hatte der eine gemurmelt. »Ärgerlich, dass ihr unseren Koffer nicht mitgebracht habt.« Und dann hatten sie Mary gefragt, ob sie sich eine Hütte unter ihrer Veranda bauen durften. Fliegenbein konnte sie seit Stunden da unten hämmern hören.

Ärgerlich, dass ihr unseren Koffer nicht mitgebracht habt! Er und Freddie hatten nicht mal ihr eigenes Haus hergeschafft! Warum hatten die Bläulinge denn das Monster nicht geschrumpft, wie sie es angeblich mit Waschbären und Oppossums taten? »Wir waren gerade unterwegs, als es aufgewacht ist. Schon vergessen?«, hatte der kleinere ihn angeschnauzt, als Fliegenbein ihn danach fragte.

Nein. Fliegenbein konnte sie nicht leiden. Es hätte ihn überhaupt nicht gestört, wenn sie auch zu Stein geworden wären!

Alfonso war aufgebrochen, um nach seinen Männern zu sehen, und Mary bereitete im Haus das Frühstück vor – nachdem sie sie gefragt hatte, was Homunkuli gern aßen. Fliegenbein, mach dich nützlich!, ermahnte er sich, sonst denkst du immer nur an … Nein! Er wollte wirklich nicht daran denken!

Freddie hatte Vitas Notiz neben dem Teller mit Pfannkuchen liegen lassen, den Mary ihnen schon mal hingestellt hatte. Fliegenbein kletterte auf den Tisch und glättete den Zettel mit den Händen. Vielleicht konnte er sich nützlich machen, indem er die mysteriöse Botschaft entzifferte!

Naia an Fufluns! Sie singt, wo Momi schläft! Richtung hikina.

Fufluns war Barnabas, wie Vita ihnen am Strand erklärt hatte, und Naia war Lizzie Persimmons, die Freundin, die Barnabas für tot gehalten hatte. Nun, sie war vermutlich am Leben – es sei denn, jemand hatte ihren Spitznamen gestohlen. Sie singt … das bezog sich wahrscheinlich auf die Aurelia. Aber wer war Momi? Und hikina?!

Freddie tanzte zwischen Marys Geranientöpfen. Natürlich. Er tanzte schon seit Sonnenaufgang. »Das hilft mir beim Denken, Bruder!«, hatte er freundlich geantwortet, als Fliegenbein ihn gereizt gefragt hatte, wie er in einer solchen Situation noch tanzen könne. Fliegenbein sehnte sich nach seinen Ohr-Korken. Doch plötzlich übertönte ein vertrautes Geräusch Freddies unermüdliches Steppen: der Klang eines kleinen Flugzeugs.

Es landete, der Motor setzte aus, und eine Stimme, die fast so viel Trost brachte wie das Wissen, dass Lung unterwegs zu ihnen war, schrillte:

»Huuuuuumklupusse! Tigerkatze und jaulender Köter, wo steckt ihr?«

Freddie schoss schnell wie eine Eidechse zwischen den Blumentöpfen hervor.

»Lola! Du lebst!«, rief er. »Wo warst du? Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht!«

Wie schaffte er es, all das zu rufen, während er die Stufen von Marys Veranda hinuntersprang? Mit einem Holzbein!

»Nun ja, ich bin selbst überrascht, dass ich noch lebe, Humklopus-Bruder!«, erklärte Lola, während sie aus ihrem Flugzeug kletterte.

Es sah … irgendwie anders aus. Es hatte etliche Metallflicken und einen glänzenden neuen Propeller.

»Ich wurde zu einer ziemlich unappetitlichen Notlandung gezwungen!«, sagte sie, nachdem sie sich aus Freddies Umarmung befreit hatte. »Von einem Schwarm Wespen. Und dann hat mich ein chumashierter Seesternmann vor dem Ertrinken gerettet und eine Möwe losgeschickt, um Alfonso zu sagen, dass ich ein paar Teile brauchte, um mein Flugzeug zu reparieren.«

Sie kletterte Marys Stufen hinauf und setzte sich mit einem erschöpften Seufzer auf die Kante der Veranda.

»Ich muss schon sagen, ich war froh, als ich diesen Strand und den Palazzo Prozzo nicht mehr sehen musste, in dem Aalstrom und der Kupfermann sich verstecken. Verdammte Rattenmörder!«

»Du hast das Haus also gefunden, in dem Aalstrom wohnt?«, fragte Fliegenbein mit zitternder Stimme.

»Aber sicher! Falls man den Riesenklotz ein Haus nennen kann! Alfonso hat mir gesagt, was diese schleimigen Schurken gestern Abend getan haben! Deshalb sah Aalstrom so abscheulich zufrieden aus, als er zu seinem Strandpalast zurückkam!«

Mary trat mit einem Frühstückstablett aus dem Haus.

Lola lächelte ihr zu. »Hallo. Kann eine Ratte, die nur ganz knapp einem nassen Grab entkommen ist, um einen Kaffee bitten? Viel Zucker, keine Milch?«

»Natürlich«, sagte Mary. »Ich nehme an, du bist Lola Grauschwanz, die Ratte, über die meine Gäste sich solche Sorgen gemacht haben? Ich bin froh, dass du in Sicherheit bist.«

»O ja, ich auch!« Lola lehnte sich mit einem Seufzer zurück und schloss die Augen, während Mary ins Haus zurückkehrte, um ihr einen Kaffee zu holen. »Himmel, ich steh wirklich neben mir«, sagte die Ratte leise. »Diese Wespen hätten mich fast versenkt. Eine hat mir mit ihrem verfluchten Stachel einen Kratzer an der Schulter beigebracht. Vielleicht kann ich deshalb kaum die Augen offen halten.«

»Lola …« Freddie setzte sich neben sie. »Was ist ein Kupfermann?«

»Das weiß keiner so genau«, murmelte Lola. »Sie sind sehr gut darin, sich verborgen zu halten. Aber dieser ist auf jeden Fall eine teuflisch erfindungsreiche Kreatur. Keine Ahnung, wie er diese Wespen erschaffen hat.«

Mary kam mit einem Schnapsglas voll Kaffee zurück und stellte es neben Lola ab. Die Ratte öffnete die Augen und lächelte sie dankbar an.

»Und er hat es geschafft, ein uraltes versteinerndes Monster zu wecken!« Fliegenbein nahm eins der winzigen Toaststücke mit selbst gemachter Marmelade, die Mary ihnen hingestellt hatte, doch er bekam es nicht herunter. Es war einfach schon zu viel Traurigkeit in seinem Bauch.

»Lung ist auf dem Weg hierher, und Lola ist entkommen!« Freddie drehte sich mit ausgestreckten Armen und schob gleich noch eine Pirouette hinterher. »Wir haben keinen Grund, die Hoffnung aufzugeben, Bruder!«

Das war zu viel – Fliegenbein hielt diesen unerschütterlichen Optimismus einfach nicht mehr aus.

»Und was, wenn Lung genauso zu Stein verwandelt wird?«, rief er. »Und wenn wir uns nicht mal selbst vor Aalstrom schützen können, wie sollen wir dann die Aurelia beschützen? Wir haben es nicht mal geschafft, diese ominöse Nachricht zu entschlüsseln und …«

Lola setzte sich auf und nahm einen Schluck aus dem Schnapsglas. »Welche Nachricht?«

Freddie kletterte auf den Tisch und kam mit Vitas Mitschrift zurück.

Lola las zunächst mit einem Stirnrunzeln, dann mit einem Lächeln. »Freddie, tanz weiter! Das sind alles gute Neuigkeiten! Sehr gute Neuigkeiten und komplett unerwartet!«

Freddie blickte Fliegenbein so triumphierend an, als hätte Lola gerade den endgültigen Beweis geliefert, dass seine optimistische Einstellung zum Leben die richtige war.

»Und?« Fliegenbein konnte seine Verärgerung nicht verbergen, während sein Bruder Marys Veranda entlangsteppte. »Würdest du uns freundlicherweise aufklären, Lola? Was bedeutet diese Nachricht?«

Lola nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Also, zunächst mal haben wir nun den Beweis, dass Lizzie Persimmons am Leben ist. Das sind sehr erfreuliche Neuigkeiten. Auch wenn ich keine Ahnung habe, was sie so tief unter Wasser treibt, dass sie die Aurelia sehen kann.«

Die Ratte stopfte zwei Stücke Toast zwischen ihre Zähne und leckte sich die Marmelade von der Nase. »Barnabas hat nie aufgehört, sich die Schuld für ihren Tod zu geben. Er wird sehr froh sein, dass er das scheußliche Gefühl nicht mehr mit sich rumtragen muss! Nun ja, zurzeit fühlt er wohl eh weder Schuld noch sonst was, schließlich ist er aus Stein, stimmt’s?«

Sie kicherte. Fliegenbein fiel es manchmal sehr schwer, Lolas Humor wertzuschätzen.

»Egal … der Rest der Nachricht ist glasklar«, fuhr sie fort. »Die Aurelia ist auf dem Weg! Sie hat Momi hinter sich gelassen, das ist die Meermenschensiedlung nicht weit von Molokai, eine der hawaiianischen Inseln. Und hikina bedeutet natürlich Osten. Auf Hawaiianisch.«

Natürlich. Fliegenbein errötete vor Scham. Sein Hawaiianisch war schon immer sehr lückenhaft gewesen.

»Dein Bruder hat recht, Humklukipus!« Lola stieß ihm aufmunternd die graue Pfote gegen die Schulter. »Ich lebe noch. Lizzie lebt! Und die Aurelia kommt in unsere Richtung, wie vorhergesagt. Das sind alles hervorragende Nachrichten! Jetzt müssen wir nur noch unsere Freunde entsteinern.«

Mary lehnte hinter ihnen in der Tür. Sie hatte Lolas letzten Worten mit ungewöhnlich ernster Miene gelauscht. »Wann kommt euer Drachenfreund noch mal?«, fragte sie leise.

Fliegenbein sah sie besorgt an. »In etwa zwei Tagen. Warum?«

»Ach, nichts«, sagte Mary und wandte sich um. Sie wusste, dass sie eine schlechte Lügnerin war.

»Mary! Was ist? Bitte!«

Sie stieß einen Seufzer aus und blickte in die Platanen hinauf, die um ihr Haus herum wuchsen, als erhoffte sie sich von ihnen Rat.

»Die Chumash«, sagte sie schließlich, »glaubten, dass der Fluch dieses Ungeheuers nur innerhalb von achtundvierzig Stunden gebrochen werden kann. Dann erreicht er das Herz und hält, wie du gesagt hast, für einhundert Jahre an. Ich hoffe einfach, dass euer Drache rechtzeitig kommt.«

Sie lächelte Fliegenbein traurig zu.

Dann erreicht er das Herz … Fliegenbein stand auf und sprang die Stufen der Veranda hinab.

»Wo willst du hin?«, rief Freddie ihm nach.

Doch Fliegenbein rannte bereits an Kojotenbüschen und Erdhörnchenlöchern vorbei, durch das trockene Gras und über die von der Sonne gebackene Erde, dorthin, wo Marys Teich unter dem blauen Himmel schimmerte. Die Habichte kreisten wie immer dort oben, aber was spielte es noch für eine Rolle, wenn sie oder Klapperschlangen ihn fraßen? Sein Meister war aus Stein! Nun ja, schoss es ihm durch den Kopf, als er über den Schwanz einer Eidechse sprang, die ihm verblüfft nachsah, eine Eule, die ihm den Kopf abriss, war ihm vermutlich lieber als eine Schlange.

»Hey, Humklumpulus!«, schrillte Lolas Stimme hinter ihm. »Was soll das werden? Nutz es nicht aus, dass diese Ratte müde vom Kampf mit Mörderwespen ist! Das hier ist kein Ort, an dem kleine Männer wie du allein herumlaufen sollten!«

Klein? Sie war kleiner als er! Aber ja, Fliegenbein musste zugeben, dass Lola die weit bessere Kämpferin war. Genau genommen konnte er überhaupt nicht kämpfen.

»Bruder! Warte!«

Natürlich. Freddie war auch gekommen. Und er machte sich vermutlich überhaupt keine Sorgen, gefressen zu werden.

»Habt ihr nicht gehört, was Mary gesagt hat?«, rief Fliegenbein ihnen über die Schulter zu. »Nein, ihr wart vermutlich zu sehr mit Tanzen und Kaffeetrinken beschäftigt.«

»Ich habe es laut und deutlich gehört.« Lola hatte ihn fast eingeholt. Wie konnte sie so schnell sein, obwohl sie doch eine ziemlich beleibte Ratte war? Fliegenbein sprang über den Eingang einer Erdhörnchenhöhle. Jemand musste Mary den Tipp geben, Pfefferminzöl in diese Löcher zu schütten. Die waren ja überall! Es mussten Tausende sein!

Marys Teich sah bei Tag noch größer aus, und Fliegenbein erstarrte, als er die schlanke weiße Gestalt eines Reihers im Wasser stehen sah. Sein Schnabel war fast so lang wie Fliegenbein von Kopf bis Fuß. Doch Lola wedelte mit den Armen und ließ ein so schrilles Pfeifen hören, dass der riesige Vogel die Flügel ausbreitete und davonflog.

»Lung!« Fliegenbein war schrecklich außer Atem, als er sich über das Wasser beugte. »Lung!«, keuchte er. »Schwefelfell! Irgendwer! Hallooooo! Bitte! Bitte! Kann mich jemand hören?«

Aus dem Schilf links von ihm flog eine rote Libelle auf.

»So funktioniert es nicht, Bruder.« Freddie legte die Hand auf seine Schulter. »Hast du das vergessen? Wasser-Kommunikation ist nur mit MÍMAMEIÐR möglich, weil dort das Gerät steht, das ihr gebaut habt! Aber einfach nur von Gewässer zu Ge…«

»Nesselbrand konnte es! Wieso nicht wir?«, rief Fliegenbein. »Vielleicht braucht man nur ein bisschen Übung! Und …«

Ein Bild nahm auf dem Wasser Gestalt an. Mit Fell und spitzen Ohren.

»Fliegenbein?« Schwefelfell kniff überrascht die Augen zusammen. »Knollenblätterpilz und Flaschen-Stäubling!? Kann eine Koboldin sich nicht mal in Ruhe das Gesicht waschen, ohne dass du reinplatzt?«

»Schwefelfell!« Fliegenbein war noch nie so glücklich gewesen, die Koboldin zu sehen. Normalerweise war er alles andere als froh, wenn er sie sah, weil sie einander nicht besonders mochten. »Es funktioniert! Ich hab’s geschafft! Du kannst mich sehen, ja? Und mich hören?«

»Laut und deutlich. Leider.« Schwefelfell schnäuzte sich in ein Blatt. »Was willst du? Lung schläft. Es ist ein scheußlich langer Flug, und ich muss dafür sorgen, dass er seine Pausen bekommt. Also vergiss …«

»Mit wem redest du?« Lungs Kopf erschien hinter Schwefelfell auf der Wasseroberfläche. »Fliegenbein! Ist was passiert?«

»Ja!«, rief Freddie über Fliegenbeins Schulter. »Jemand hat die Wiesengrunds versteinert. Ein schrecklicher Mensch! Sein Name ist Ca…«

Lung schob Schwefelfell zur Seite und fiel ihm ins Wort. »Wo ist Ben?«

»Er ist ganz grau und kalt!«, schluchzte Fliegenbein. »Und bald schon wird der Stein sein Herz erreichen, und dann ist alles zu spät, für hundert Jahre!«

Er bekam kein weiteres Wort mehr heraus. Lola schob ihn sanft zur Seite. »Sie hoffen, dass dein Feuer helfen wird. Wann werdet ihr hier sein, Lung?«

»Übermorgen«, sagte Schwefelfell. »Er sollte tagsüber nicht fliegen, und er braucht seine Pausen, also …«

»Heute Nacht«, korrigierte Lung sie. »Ich werde heute Nacht bei euch sein.«

Schwefelfell blickte Fliegenbein finster an. Du bist schuld!, sagten ihre Katzenaugen. Du bist schuld, wenn ihn Menschen sehen oder der Flug ihn zu sehr erschöpft.

»Heute Nacht«, wiederholte Lung. »Steig auf, Schwefelfell!«