Der Himmel war immer noch so blau. Es wollte einfach nicht dunkel werden! Würde Lung sein Versprechen halten? Was, wenn Schwefelfell ihn überzeugt hatte, dass es zu gefährlich war, am Tag zu fliegen? Fliegenbein blickte zu Mary, die Freddie und Lola gerade beibrachte, wie man mit Klapperschlangen sprach. Und wie man Pfannkuchen aus dem wilden Buchweizen machte, der auf ihrem Land wuchs. Alles sehr nützlich, ganz sicher, aber Fliegenbein konnte an nichts anderes denken als an seinen Meister, der so kalt und leblos war, nur noch ein Stein, auf den die Sonne herabbrannte. Inzwischen kochte der Hass, den der Homunkulus für Cadoc Aalstrom und dessen kupferhäutigen Gehilfen empfand, wie ein Fieber in ihm.
Mary trat auf die Bank zu, auf der er saß, und blickte ihn mitfühlend an.
»Wie wär’s mit einem kleinen Ausflug, Fliegenbein?«, fragte sie. »Alfonso ist in die Berge gefahren, um jemanden zu treffen, der seiner Meinung nach sehr geeignet ist, die Kapsel für die Erde zu empfangen, und seine Männer bewachen unsere versteinerten Freunde. Warum machen wir uns nicht ein bisschen nützlich und statten dem Haus, in dem dieser Aalstrom wohnt, einen Besuch ab?«
»Einen Besuch?« Fliegenbein sah sie verzweifelt und hoffnungsvoll zugleich an. »Und dann?«
Mary lächelte. »Freddie und ich haben da eine Idee. Aalstrom und der Kupfermann kennen Lola, also schlage ich vor, dass du mit ihr im Auto bleibst, während Freddie und ich unsere kleine Mission ausführen.« Sie blickte zu Freddie hinüber. »Bist du bereit, mein kleiner Freund?«
»Bereit!«, bestätigte Freddie, während seine Füße voll Vorfreude zu steppen begannen.
»Gut«, sagte Mary. »Dann ins Auto mit euch allen!«
Freddie wollte nicht verraten, was Mary und er geplant hatten, als sie zum Meer hinunterfuhren. Lola lotste Mary zu einer schmalen Straße, in der die Häuser auf der linken Seite allesamt freie Sicht auf den Ozean hatten. Das Haus, auf das sie zeigte, war ein riesiger, moderner Klotz, dessen Fenster mit Jalousien verschlossen waren. Mary parkte nur wenige Meter entfernt, und Fliegenbein und Lola sahen von der Rückbank aus zu, wie sie aus dem Auto stieg und mit einem Korb in der Hand auf die massive Eingangstür zuging.
Fliegenbein hatte irrtümlicherweise gedacht, dass der Kupfermann die Tür öffnen würde. Aber natürlich zeigte er sich nicht. Schließlich wussten die meisten Menschen nichts von seiner Existenz. Ein junges Dienstmädchen öffnete Mary die Tür. Sie wusste ganz offensichtlich nicht, was sie von der älteren Dame mit den langen grauen Zöpfen halten sollte, die unversehens vor der Tür ihres Arbeitgebers stand. Fliegenbein hörte Mary sagen, dass sie Spenden für die Wildtierschutzstation sammle (was Mary tatsächlich oft tat). Das Mädchen schüttelte bedauernd den Kopf. Nein, Cadoc Aalstrom spendete ganz sicher nicht für die Pflege verletzter Wildtiere! Doch Mary brachte das Mädchen dazu, die Tür noch nicht zu schließen, indem sie ihr von verwundeten Robben erzählte und von Eulen, die es krank machte, dass ihre Beute oft an Rattengift gestorben war.
Was hatte sie vor?
Als Mary zum Himmel zeigte, um das Dienstmädchen von dem abzulenken, was zu ihren Füßen geschah, kletterte Freddie zu Fliegenbeins Schreck aus dem Korb, den Mary auf die Türmatte gestellt hatte. Er huschte so dicht an den Beinen des Mädchens vorbei, dass seinem Bruder fast das Herz stehen blieb, und im nächsten Augenblick war er im Haus verschwunden.
Nein, nein! Das alles war zu riskant! Aber natürlich war Freddie sofort dabei gewesen! Was, wenn das Dienstmädchen die Tür zumachte, bevor er zurück war? Was, wenn der Kupfermann ihn fing und zerquetschte? Kein Wunder, dass er Fliegenbein nichts von ihrem Plan verraten hatte! Er hätte sich vehement gegen einen solchen Leichtsinn ausgesprochen! Schließlich hing er sehr an Freddie, mehr, als er sich einzugestehen wagte, und er wollte wirklich nicht noch einmal ohne Bruder sein!
Das Dienstmädchen lachte, als Mary etwas über Stinktierbabys sagte. Gut. Mach nur die Tür nicht zu!
Freddie war schon schrecklich lange fort, oder nicht?
Weil sie ihn erwischt hatten! Ja! Natürlich! Und jetzt würde er ohne seinen Meister UND ohne seinen Bruder leben müssen. Verflucht sei dieser Ort! Verflucht sei die Neue Welt und ihre Wildnis! Sogar der indonesische Dschungel war im Vergleich dazu friedlich gewesen!
Fliegenbein spürte Lolas Pfote auf seiner Schulter. Sie merkte natürlich, wie nah er einem Herzinfarkt war.
Das Mädchen lachte noch einmal, und da! Etwas wuselte an ihren Beinen vorbei und verschwand in Marys Korb.
Gerade noch rechtzeitig.
Das Gesicht des Mädchens erstarrte, und sie blickte über ihre Schulter ins Haus. Ein dunkler Schatten war in den Flur getreten. Das Mädchen schloss hastig die Tür, und Mary nahm den Korb und ging zum Auto zurück.
Lächelnd.
»Das war furchtbar leichtsinnig!«, flüsterte Fliegenbein, als sie die Autotür öffnete und den Korb auf die Rückbank stellte. »Was, wenn sie die Tür zugemacht hätte?«
»Hat sie aber nicht«, erwiderte Mary mit einem sehr zufriedenen Lächeln und setzte sich ans Steuer, während Freddie aus dem Korb kletterte.
»Auftrag ausgeführt?«, fragte Mary ihn mit einem Blick in den Rückspiegel.
»Auftrag ausgeführt!«, strahlte Freddie. »Zwölf von Lolas Lauschkäfern krabbeln durch Aalstroms Haus. Aber Lola! Wusstest du, dass Aalstrom sich einen Mantikor hält? Zum Glück hat er mich nicht gesehen! Ich konnte fast seine Schnurrhaare spüren, als er an mir vorbeigeschlichen ist.«
Er lächelte breit.
»Gut zu wissen«, sagte Lola. »Ich war mir nicht sicher, ob Aalstrom ihn mitgebracht hat. Gute Arbeit, Freddie. Du würdest einen exzellenten Spion abgeben!«
»Du warst dir nicht sicher?«, rief Fliegenbein. »Ein Mantikor ist so gefährlich wie ein Basilisk! Und du hast Freddie nicht einmal gewarnt!«
»Entspann dich, Humklipus«, schnurrte Lola und zwinkerte Freddie zu. »Dein Bruder hatte alles im Griff.«
Sie kletterte auf die Rücklehne des Beifahrersitzes und winkte dem riesigen Haus zu, als Mary davonfuhr.
»Na warte, Cadoc Aalstrom!«, zischte Lola grimmig. »Du wirst den Tag bereuen, an dem du dir Lola Grauschwanz und ihre Freunde zu Feinden gemacht hast!«