Das Mondlicht schimmerte auf Lungs Schuppen, als er in Marys Garten landete. Sein Anblick verschlug selbst den Bläulingen den Atem, und Alfonso und Mary lächelten den Drachen an, als hätte er den Beweis geliefert, dass es immer Magie und Licht in der Welt geben würde. Lung begrüßte sie alle – Mary und Alfonso, Fliegenbein und Freddie, Lola und die Bläulinge –, während Schwefelfell von seinem Rücken kletterte. Doch die Gedanken des Drachen waren nur bei einer einzigen Person. Lungs Flügel schmerzten, so heftig hatte er gegen den Wind angekämpft. Er hatte keine Pausen eingelegt, Schwefelfells Bedenken zum Trotz. Sein Drachenreiter … er war nicht an Bens Seite gewesen, um ihn zu beschützen! Nie wieder! Das war alles, woran er denken konnte, als er schneller als der Wind geflogen war. Nie wieder würde er es erlauben, dass der Junge eine Mission wie diese ohne ihn anging. Ja, es war wunderbar gewesen, Zeit mit Schwefelfell zu verbringen, sich an die Jahre zu erinnern, in denen es nur sie beide gegeben hatte. Aber zu welch schrecklichem Preis!
»Warum ist der Trottel nicht mit uns geflogen?«, hatte Schwefelfell geschimpft. Lung hatte ihr natürlich nicht den wirklichen Grund gesagt. Sie wäre am Boden zerstört gewesen, denn obwohl sie Ben ständig ärgerte und neckte, liebte sie ihn inzwischen fast so sehr, wie er selbst es tat.
»Wo ist er?« Lung blickte auf die Berge, die Marys bescheidenes Haus umgaben. Sie waren kaum mehr als Hügel im Vergleich zu den Bergen, aus denen er kam, und doch fühlten sie sich fast ebenso wild an.
»Ja, wo ist er? Der dumme Junge!« Schwefelfell streckte ihre müden Glieder. »Ich bin mir sicher, dass wir den Geschwindigkeitsrekord für Drachen gebrochen haben. Fliegenbein!« Sie winkte den Homunkulus ungeduldig zu sich. »Ich denke mal, du willst mitkommen?«
Fliegenbein nickte und lief zu ihr.
»Braucht ihr beiden nicht eine Pause?«, fragte Lola. »Ihr seid gerade um die halbe Welt geflogen!«
»Das Einzige, was ich brauche, ist mein Drachenreiter, Lola«, erwiderte Lung.
Der Homunkulus wusste, was er fühlte. Lung konnte es in Fliegenbeins Augen sehen. Sein kleines Herz schmerzte vor Sehnsucht genauso wie das seine. Und vor Zorn.
»Wie du meinst!« Lola musterte ihn immer noch besorgt. »Wer widerspricht schon einem Drachen? Und ihr braucht sicher nicht die Hilfe einer müden Ratte, nehm ich mal an. Wir haben dem Feind, dem wir all den Ärger verdanken, ein paar Lauschkäfer ins Haus geschmuggelt. Freddie und ich werden uns ihre Berichte anhören, während ihr die anderen entsteinert. Bis ihr mit ihnen zurückkommt, wissen wir hoffentlich, was Aalstrom noch an Hinterhältigkeiten plant.«
Bis ihr mit ihnen zurückkommt …
Mary konnte den Blick immer noch nicht von Lung abwenden, als Alfonso zu seinem Pick-up ging, um ihnen den Weg zu zeigen. Drachen haben diese Wirkung. Vielleicht, weil sie so viel Licht in sich tragen. Und so viel Sanftmut, verbunden mit großer Kraft.
Lung flog, während er dem Wagen folgte, gerade so hoch, dass die Nacht ihn verbarg. Es tröstete Fliegenbein, den sachten Flügelschlag des Drachen zu hören, während er sich an Schwefelfell klammerte. Lungs Gedanken jedoch rasten. Was, wenn sein Feuer nicht wirkte? Es hatte die Drachen nicht befreien können, die sie am Saum des Himmels gefunden hatten, in Stein gefangen, weil ihnen der Mondschein fehlte. Das war etwas anderes, Lung!, ermahnte er sich selbst. Sie waren schon seit Jahrhunderten aus Stein! Und doch … die Frage ließ ihm keine Ruhe. Was, wenn sein Feuer nicht wirkte?
Alfonso stieg noch den steilen Pfad hinab, als Lung bereits zwischen den Felsen landete, die einmal seine Freunde gewesen waren. Alfonsos Männer wichen ehrfürchtig vor ihm zurück, und ihre Gesichter ließen dieselbe Verzauberung erkennen wie Marys, als Lung an ihnen vorbeischritt, um seinen Drachenreiter zu finden.
Das Monster, das Ben in Stein verwandelt hatte, war nur noch ein lebloser Klumpen Fels. Lung konnte riechen, dass es wieder in einen Schlaf gefallen war, der so tief und alt war wie die Berge um ihn her. Was, wenn Bens Schlaf genauso tief war?
Lung wagte es kaum, sich über seine gekrümmte Gestalt zu beugen. Der Anblick war schrecklich. Doch sein Herz schmolz vor Erleichterung, als er in dem versteinerten Körper Leben spürte.
»Er wollte mich und Freddie beschützen!« Fliegenbein war an Lungs Hals hinaufgeklettert. »Er hat sich zwischen uns und das Monster geworfen. Bitte! Du musst ihn zurückbringen!«
Der Homunkulus sank zwischen Lungs Hörnern auf die Knie und begann zu schluchzen.
»Ich werde mein Bestes geben, Fliegenbein!«, sagte der Drache, während er den Kopf hob und die anderen betrachtete. Auch sie waren noch am Leben. Bei Guinever spürte Lung das besonders stark. Auch Vita und Hothbrodd schien es ebenfalls gut zu gehen. Der Atem des Monsters hatte Barnabas am heftigsten getroffen.
Lung wandte sich erneut Bens gekrümmter Gestalt zu. Es schien so lange her, dass er ihm am Saum des Himmels erklärt hatte, dass sein Körper dabei war, sich zu verändern. Würde das helfen, oder würde es verhindern, dass sein Feuer wirkte? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Lungs mächtiger Schatten fiel auf seinen versteinerten Reiter und wischte den Mondschein von Bens grauen Gesichtszügen.
»Ich hätte an deiner Seite sein sollen«, flüsterte er. »Sehen wir es als Beweis dafür an, dass ein Drachenreiter und sein Drache sich niemals trennen dürfen.«
Er ließ Fliegenbein auf Schwefelfells Schulter klettern. Dann trat er einen Schritt zurück und reckte seinen Hals. Er blies sein Feuer sehr behutsam auf den Körper des Jungen, der ihm so teuer war. Es war nur der bläuliche Schatten einer Flamme, die aus seinem Maul drang und Ben in tanzende Funken tauchte. Sie färbten die Nacht blau und blieben am Körper des Jungen haften, während Lungs Schuppen das Licht des Mondes fingen, als wären sie tausend Sterne, die die Form eines Drachen angenommen hatten.
An Bens Nacken zeigte sich zuerst ein Hauch von Farbe. Dann sahen seine Finger plötzlich wieder aus wie menschliche Finger. Lung spreizte die Flügel, um seiner Flamme mehr Luft und Kraft zu verleihen, und sein Licht erfüllte die Nacht.
»Siehst du?«, flüsterte Schwefelfell Fliegenbein zu. »Kein Grund, sich zu sorgen, wenn man einen Drachen an seiner Seite hat!«
Lung seufzte erleichtert auf, als Ben die rechte Hand bewegte und sich ächzend auf die Knie kämpfte. Es war noch immer ein wenig Grau in seinem Gesicht zu sehen, aber es verschwand, noch während er die Arme um Lungs Kopf schlang und sein Gesicht gegen das des Drachen drückte.
»Schwefelfell meint, du bist ein Dummkopf, weil du nicht mit uns geflogen bist«, flüsterte Lung ihm zu. »Also, keine dummen Ideen wie diese mehr. Auch wenn sie noch so nett gemeint war. Und jetzt steh auf, Drachenreiter. Wir müssen uns um die anderen kümmern.«
Lung stupste Ben sanft, bis er auf den Füßen stand und das Haus anstarrte, das er mit seinem Körper geschützt hatte. »Die anderen. Natürlich!«, stieß er heiser hervor. »Fliegenbein! Freddie!«
»Uns geht es gut, Meister!« Fliegenbein kletterte hastig von Schwefelfells Schulter und rannte auf Ben zu. Er schlang seine Arme um eins seiner Beine und sah mit dem breitesten und erleichtertsten Lächeln zu ihm auf, das er je gelächelt hatte. »Wie geht es Euch?«
Ben hob ihn hoch und nickte so abwesend wie jemand, der gerade aus einem sehr schlimmen Traum erwacht war. »Ich glaube, ich bin okay.« Er sah sich um – und erstarrte erneut, als er seine Schwester und die anderen sah.
»Guinever! Meine Eltern! Hothbrodd! Was ist passiert?«
Lungs Feuer erweckte Guinever und Vita schnell wieder zum Leben. Hothbrodd regte sich, sobald die ersten Flammen seine versteinerte Haut berührten. Doch Barnabas hatte sich direkt vor das Monster gestellt, um Vita und Guinever zu schützen, und obwohl das Drachenfeuer das Grau Schicht für Schicht durchbrach, bewegte er sich noch immer nicht.
»Was bedeutet das, Schwefelfell?«, fragte Ben, während Lung seinen Vater weiter in blaues Feuer tauchte. »Warum dauert das bei ihm so lange?«
Schwefelfell legte ihm tröstend die Pfote auf den Arm. »Er hat einen Teil des Versteinerungsfluchs abbekommen, der für Vita und Guinever gedacht war. So wie du den für Fliegenbein und Freddie. Aber du hast jetzt die Kraft eines Drachenreiters. Dein Vater nicht. Er hat einfach nur ein gutes Herz. Was leider nicht viel Schutz in dieser Welt gewährt. Ganz im Gegenteil.«
Lung hüllte Barnabas erneut in Flammen.
»Ich bring ihn um!«, knurrte Hothbrodd, während er sich die Haut rieb, als müsste er die letzten Reste Stein herauskneten. »Ich zerpflück ihn wie einen giftigen Käfer. O ja! Merkt euch das: Cadoc Aalstrom ist ein toter Mann.«
»Ich helf dir!«, sagte Ben. Seine Stimme klang so kalt, dass Lung sich zu ihm umsah. Den Zorn, den er in seinem Gesicht entdeckte, hatte er dort nie zuvor gesehen.
»Da!«, rief Fliegenbein. »Da! Sein Gesicht!«
»Ja!« Guinever, die sich noch immer an ihrer Mutter anlehnte, stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Und dann lachte sie. »Natürlich! Dad hat gehört, dass wir vom Töten reden! Das gefällt ihm nicht!«
Barnabas ächzte, als er die Hände hob. Er starrte sie an, als hätte er sie noch nie gesehen. »Wen töten?«, fragte er heiser. »Was ist passiert?«
Dann sah er den Drachen. »Lung? Ihr seid schon hier?«
Guinever, Ben und Vita bewegten sich noch immer langsam, doch es dauerte nicht lange, bis Barnabas fast in Küssen und Umarmungen erstickte.
»Was passiert ist? Das ist eine lange Geschichte, Barnabas«, sagte Alfonso, der mit seinen Männern schweigend zugesehen hatte, wie das Drachenfeuer den uralten Zauber durchbrach. »Aber die sollten wir nicht hier erzählen. Ich vertraue diesem Ort nicht mehr.«