Wassermagie

Wovon ernährte sich die Aurelia? Lizzie folgte ihr in- zwischen schon so lange, doch sie hatte nicht ein Mal gesehen, dass ihre glänzenden Arme Beute fingen. Es schien fast so, als filtere sie das Leben selbst aus dem Wasser. Lizzie bewahrte dennoch vorsichtshalber sicheren Abstand zu ihren Armen. Die Einzigen, die furchtlos zwischen ihnen umherschwammen, waren kleine Fische, die große Ähnlichkeit mit den Seifenblasen hatten, die Lizzie früher so gern in den grauen englischen Himmel hatte schweben lassen – als sie noch auf Menschenfüßen gelaufen war, Luft geatmet und Schokoriegel gegessen hatte. Die Riegel vermisste sie, das musste sie zugeben. Laimomi hatte ihr zwar einen Unterwasserpilz gezeigt, der fast genauso schmeckte. Aber nur fast.

Laimomi.

Lizzie strich über die Muschelkette, die sie um den Hals trug. Laimomi hatte sie für sie gemacht. Sie fühlte sich seltsam ohne sie. In all den Jahren, seit Lizzie die Menschenwelt hinter sich gelassen hatte, hatten sie fast alles gemeinsam getan. Sie wäre vermutlich schon nach ein paar Stunden tot gewesen, wenn Laimomi ihr nicht gezeigt hätte, was man unter Wasser essen durfte und was nicht, von wem man sich fernhalten musste und wessen Gesellschaft man suchen sollte. Sie hatte mit ihr trainiert, bis sie schneller schwimmen, tiefer tauchen und, was am wichtigsten war, unter Wasser kommunizieren konnte, mit ihren Händen und ihren Lichtern, mit einem Schlag ihrer Schwanzflosse.

Hör auf, Lizzie!, ermahnte sie sich, Laimomi kann nicht hier sein. Jemand muss sich um die Meerlinge kümmern!

Unter ihr breitete die Aurelia die Arme aus und zog sie wieder ein, so sanft und anmutig, als würde sie tanzen. Manchmal sah ihr durchscheinender Körper wie ein Ballkleid aus, das im Wasser trieb, ohne Ziel und ohne Grund, doch sie bewegte sich in östlicher Richtung. In nordöstlicher Richtung, um genau zu sein.

Wieso reagierte Barnabas nicht auf ihre Nachricht?

Hatte Cadoc ihn vielleicht inzwischen umgebracht? Schließlich hatte er nicht gezögert, ihr Leben zu gefährden, um zu bekommen, was er wollte. Ach, warum hatte sie nur nicht schon vor Jahren versucht, Kontakt zu Barnabas aufzunehmen?

Weil du die Welt da oben vergessen hattest, Lizzie!

Koo schwamm an ihre Seite und stieß seine Flosse sacht gegen ihren grün geschuppten Arm. Lizzie war sicher, dass er ihre Gedanken lesen konnte. Und ihre Stimmungen. Sie hatte gelernt, dass Fische sehr zärtlich miteinander umgingen. Sie liebten es, einander zu berühren, und ihre Sinne waren viel schärfer und besser als die der Menschen. Natürlich hatte sie die Welt da oben vergessen! Alles hier unten fühlte sich üppiger an: die Farben, die Lichter, die Gerüche – ja, Fische und Meermenschen verfügten über einen Geruchssinn! Das hatte sie damals sehr überrascht. Menschen wussten so wenig über das Leben unter Wasser.

Lizzie blickte zu der Aurelia hinab und ließ ihr Herz von ihrem Lied erfüllen. Doch ihre Sorgen konnte es nicht vertreiben. Lebte Barnabas noch? Und wenn ja, hatte er vielleicht noch immer nicht von der Aurelia erfahren? Würde sie sie ganz allein beschützen müssen?

Koo musterte sie mit gerunzelter Stirn. Und was ist mit mir?, fragte sein Blick.

»Natürlich, Koo!«, signalisierte Lizzie. »Du hast recht, ich bin nicht allein! Und du bist ein sehr starker und gefährlicher Laternenfisch. Trotzdem – du und ich … das wird nicht reichen! Kannst du die Nachricht noch mal losschicken?«

Koo blickte immer noch etwas beleidigt drein. Doch er stellte seine Schuppen auf und schickte seine Funken erneut auf den Weg.

Da war noch etwas. Selbst wenn Barnabas an dem Strand warten sollte, auf den die Aurelia zusteuerte … würde es ihm gelingen, die vier Kuriere zu finden? Es gab nur noch so wenige Fabelwesen, und diese vier mussten groß und stark sein, um die kostbaren Kapseln, die die Aurelia brachte, tragen und schützen zu können.

Lizzie sah sie auf vieren der Arme leuchten. Sie waren allesamt rund wie Perlen und, soweit man das aus der Ferne sagen konnte, kaum größer als ein prall aufgeblasener Ballon. Jede Samenkapsel hatte eine andere Farbe. Sie waren blau, rot, violettbraun und grün, und sahen rau aus wie Pflanzensamen, die an jeder Oberfläche haften blieben. Lizzie wäre zu gern weiter zu der Aurelia hinabgeschwommen und in das Labyrinth ihrer schwebenden Arme getaucht. Doch sie hatte schon ein paar schmerzhafte Begegnungen mit Quallen gehabt und erinnerte sich allzu gut daran, wie lange eine Berührung ihrer Arme brennen konnte. Nein, Lizzie, halte Abstand! Sei ausnahmsweise mal vorsichtig! Das hätte Laimomi ihr gesagt.

Vielleicht konnte sie ein kleines Stückchen näher schwimmen? Nur ein kleines Stückchen tiefer …

Etwas packte sie von hinten.

Sie ließ all ihre Lichter aufblitzen, doch die Arme, die sie hielten, waren stark. Und jetzt kitzelten sie sie!

Als es ihr endlich gelang, sich zu befreien, blickte sie in Laimomis Gesicht.

»Hallo!«, sagte die Meerfrau. »Wir haben entschieden, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt ist, dich allein herumschwimmen zu lassen.«

Hinter ihr schwebten acht weitere Meermenschen im Wasser. Die meisten waren Nachbarn von ihnen. Sie waren alle gekommen!

»Aber was ist mit den Meerlingen?«, signalisierte Lizzie besorgt.

»Was soll mit ihnen sein? Hast du vergessen, wie viele gute Freunde wir in Momi haben? Sie sind in Sicherheit. Vermutlich benehmen sie sich sehr viel besser, wenn wir zurückkommen.«

Vermutlich. Lizzie ließ ihnen viel zu viel durchgehen, und Laimomi ebenso.

Alle lachten, als Koo sie begrüßte, indem er ihnen seinen Kopf nicht allzu sanft in Rücken und Flossen rammte. Gelächter unter Wasser ist gelb und orange. Es hüllte Lizzie in Licht. Sie hatte in ihrem Menschenleben nie eine echte Familie gehabt. Sie war ohne Geschwister aufgewachsen, und ihre Eltern hatten sie mit acht Jahren aufs Internat geschickt. Sie war immer einsam gewesen – bis sie Barnabas und Kahurangi getroffen hatte.

»Du bist inzwischen eine ziemlich schnelle Schwimmerin!«, sagte Laimomi. »Wir haben eine Weile gebraucht, dich einzuholen!«

Die anderen hatten Lizzie jahrelang damit aufgezogen, wie langsam sie schwamm. Schließlich hatte nur Laimomi gewusst, dass sie sich an einen neuen Körper gewöhnte.

»Sie ist so schön!« Laimomis Lichter waren ein Flüstern in der Dunkelheit, als sie zur Aurelia hinabblickte. »Sie ist ganz anders, als ich sie mir vorgestellt habe. Und ihr Gesang!«

Ja. Der Gesang der Aurelia erfüllte sie alle mit so viel Freude und Schönheit. Sie schien das Leben selbst zu verkörpern, wie sie dahinschwebte, sich öffnend und schließend wie eine riesige Blüte. Lizzie war sicher, dass die Kapseln, die sie trug, dieselbe Freude und Schönheit enthalten würden. Sie mussten dafür sorgen, dass sie ihr Ziel erreichten! Und sie war so froh, dass sie das nicht allein versuchen musste. So, so froh! Sie blickte die anderen dankbar an und lächelte. Sie waren alle ihre Freunde geworden, obwohl sie so anders war und noch immer nicht alles über die Meermenschen und das Leben unter Wasser wusste. Freundschaft … gab es einen mächtigeren Zauber in der Welt? Lizzie blickte zur Aurelia hinab. Vielleicht. Doch nach ihrer Erfahrung konnte es Freundschaft sogar mit der Magie des schillernden Wesens aufnehmen, das aus der Tiefe aufgestiegen war, um Hoffnung und neues Leben zu bringen.

Sie hoffte so sehr, dass Barnabas am Strand auf sie warten würde. Und dass sie ihm ihre neuen Freunde vorstellen konnte.