Wer hat Angst vor der Dunkelheit?

Noch vier Tage bis zum Vollmond. Vier Tage und Nächte, bis die Aurelia hier sein und die Ewigkeit mitbringen würde. Was würde er damit anstellen? Cadoc wusste es nicht. Aber ihm gefiel der Gedanke, wie einer dieser Götter zu sein, mit denen sie ihn in der Schule gelangweilt hatten. Die hatten sich meist damit amüsiert, Kriege zu führen. Vielleicht sollte er das auch mal versuchen? Nun, er würde alle Zeit der Welt haben, um herauszufinden, was die Ewigkeit am kurzweiligsten machte. Würde er weiterhin unter der Erde wohnen, obwohl er den Feenstaub nicht mehr brauchen und die Sonne wieder besser vertragen würde? Ja. Er mochte die Dunkelheit und seine unterirdische Festung.

Es war seltsam. Er vermisste Barnabas. Cadoc war sehr überrascht über dieses Gefühl, doch es war zweifellos da. Nichts war so herausfordernd und unterhaltsam wie ein tugendhafter Gutmensch-Feind. Vielleicht würde er Kupfer beauftragen, einen zu erschaffen. Ja! Er würde ihm befehlen, ihn so zu machen, dass er genau wie Barnabas aussah, damit er ihn immer und immer wieder besiegen konnte.

Spaß. So viel Spaß.

Dieser Junge … Barnabas’ Sohn … er hatte letzte Nacht von seiner versteinerten Gestalt geträumt. Der Traum hatte ihm nicht gefallen. Es war einer dieser Träume, die man nicht wieder loswurde. Der versteinerte Körper hatte sich in dem Augenblick geregt, als er sich über ihn beugte. Dann war der Junge aufgestanden – und war exakt so groß wie er selbst gewesen. Und während sie einander angestarrt hatten, waren Barnabas’ Sohn Flügel aus den Schultern gewachsen und silberne Schuppen auf der Haut. Und dann – war Cadoc aufgewacht, mit Herzrasen, das Bett nass geschwitzt.

Seitdem hatte er sich hundert Mal gesagt, wie lächerlich der Traum war und dass der Junge genauso wie sein Vater aus dem Weg geräumt war, für die nächsten hundert Jahre. Doch das Gefühl blieb. Der Traum hatte es wie Ruß in Cadocs Kopf und Herzen hinterlassen: das Gefühl, dass Barnabas’ Sohn eine viel größere Gefahr darstellte als sein Vater. Idiotisch. Der Traum war sicher von seiner Schulzeit ausgelöst, als er so oft von Barnabas überstrahlt worden war. Der Junge verfügte über denselben Glanz. Nicht einmal sein versteinertes Gesicht hatte es verbergen können. Der Glanz der Selbstlosigkeit, der Hingabe an einen guten Zweck, dieses ganzen edlen Unsinns.

Verdammt! Man musste Unkraut herausreißen, bevor es zu groß wurde. Wie alt mochte er sein? Vierzehn vielleicht?

Cadoc verabscheute Kinder und Jugendliche und überhaupt alles, was jung aussah. Sie gaben ihm das Gefühl, innerlich alt zu sein – trotz seines faltenlosen Gesichts.

Eigentlich hatte er sich innerlich nie wirklich jung gefühlt. Seine Eltern hatte er, selbst als er noch sehr klein war, selten zu Gesicht bekommen. Ein Familienfoto für die Weihnachtskarte, in maßgeschneiderten Kleidern. Zweimal monatlich ein Stirnrunzeln oder ein Lächeln, ein Gähnen hinter perfekt gepflegten Händen versteckt, wenn er von der Schule berichten musste. Sein Vater hatte zu Wutanfällen geneigt, doch die richteten sich meist gegen seine Mutter. Cadoc erinnerte sich an die Erleichterung, als er endlich so groß gewesen war, dass er ihm in die Augen blicken konnte. Er wusste nicht einmal, ob seine Eltern noch lebten. Es war ihm aufrichtig egal. Seinen Großvater hatte er gemocht … sofern er andere Menschen überhaupt mögen konnte. Doch der war längst gestorben. Die meisten Menschen akzeptierten dieses Schicksal. Aber die meisten Menschen glaubten auch, dass es Meerfrauen und Einhörner nur im Märchen gab.

Cadoc nahm einen weiteren Schluck Feentrank. »Ihr schüttelt sie zu oft«, hatte Kupfer ihn am Morgen wieder einmal gewarnt. Sein metallener Sklave wurde langsam unverschämt. Höchste Zeit, die Sprühflaschen neu aufzufüllen. Er hatte Kupfer in die Berge geschickt, um Fotos von den grauen Steingesichtern der Wiesengrunds zu machen. Vor allem von dem Jungen. Nein, dieser Traum war eindeutig kein guter gewesen. Äußerst ärgerlich. Er freute sich darauf, die Fotos seiner versteinerten Feinde an den Wänden seiner Festung hängen zu sehen. Sie würden auch eine perfekte Weihnachtskarte abgeben – Fröhliche Weihnachten, und machen Sie sich Cadoc Aalstrom nie zum Feind.

»Ich habe Neuigkeiten, Herr.« Kupfer war zurück.

Zum Teufel, er sah sogar noch missmutiger aus als sonst.

»Was ist? Sag nicht, es gibt Probleme mit den Tintenfischen!«

Kupfer schüttelte den metallenen Kopf. »Sie müssten die Aurelia heute erreichen, spätestens morgen.«

»Was ist es dann? Du blickst drein, als hätte ich dich in den Ozean geworfen.«

»Die Wiesengrunds sind verschwunden.«

Cadoc stellte die leere Tasse ab. »Du hast gesagt, der Fluch hält mindestens hundert Jahre.«

»Jemand hat ihn gebrochen.«

»Welcher jemand?«

Kupfer sah ihn mit einer Miene an, die er nicht recht deuten konnte. »Ich weiß es nicht, Herr.«

Da war etwas in seinem Gesicht. Nein, er würde es nicht wagen, ihn anzulügen – oder doch?

»Finde sie!«, brüllte Cadoc. »Und den, der den Fluch gebrochen hat!!«

Kupfermenschen haben ein sehr empfindliches Gehör. Ihn anzuschreien war eine simple Methode, ihn zu bestrafen. Man konnte sehen, wie der Schmerz Kupfers gemustertes Gesicht verzerrte. Er sah aus, als hätte ein wahnsinniger Goldschmied seine Haut mit Punkten und Strichen verziert.

»Ja, Herr.« Der Hass ließ Kupfers Stimme heiser klingen. Der Hass und die Hilflosigkeit.

»Die Aurelia trifft in vier Tagen ein! Ich will keine Überraschungen. Es sei denn, du willst, dass ich dich in Ketten in den Ozean da unten werfe und zusehe, wie das Salzwasser deine Haut zerfrisst.«

Kupfer starrte zu Boden. »Nein, Herr.«

Als er gegangen war, holte Cadoc seinen Spiegel hervor. Er strich sich mit der flachen Hand über die Stirn, doch die Runzeln, die Kupfers Nachricht verursacht hatte, wollten nicht verschwinden, und er entdeckte dünne Falten zwischen seinen Augenbrauen und um seinen Mund herum. Jemand hat ihn gebrochen? Wer konnte einen Versteinerungsfluch brechen? Wahrscheinlich einer von Barnabas’ dreckigen, pelzigen Freunden.

Noch vier Tage.

Nein. Sein alter Feind würde ihm nicht in die Quere kommen! Vier Jahre war es nun her, seit ihre Wege sich zuletzt gekreuzt hatten, an jenem scheußlichen Tag, an dem sein alter Schulkamerad die verfluchte, giftige Himmelsschlange vor ihm beschützt hatte. Cadoc sah sie immer noch auf sich zugleiten, nachdem Barnabas sie aus der Falle befreit hatte, die Cadoc für sie aufgestellt hatte. Vier Jahre, und ihr Gift kreiste weiter in seinen Adern. Barnabas hatte ihr natürlich in seiner engelsgleichen Friedfertigkeit nicht erlaubt, ihn zu töten. Er hatte sie beim Schwanz gepackt, und sie hatte ihre Beute losgelassen – gerade lange genug, um Cadoc die Gelegenheit zur Flucht zu geben. Jede Wette, dass Barnabas es seitdem sehr oft bereut hatte, ihn so entkommen zu lassen. Aber er konnte einfach nicht anders. Cadoc spürte ein grimmiges Lächeln auf den Lippen. Jedes Mal, wenn er ein Fabelwesen fing oder tötete, stieß er das Messer auch Barnabas ins Herz. Denn er hätte der Schlange einfach erlauben können, ihn zu töten, und sie so alle gerettet.

Ja. Die Kapseln der Aurelia gehörten ihm. Und falls der selbst ernannte Retter der Fabelwesen erneut versuchen sollte, sich ihm in den Weg zu stellen, würde er Kupfer befehlen, ihn zu töten. Und seinen Sohn gleich mit.

Cadoc entdeckte Angst in seinem Gesicht, als die Erinnerung an diesen Traum zurückkam. Er schob den Spiegel ärgerlich zurück in die Tasche.

Er musste zugeben, dass er Angst vor dem Tod hatte. Er rechnete damit, dass sämtliche Wesen, denen er Leid zugefügt hatte, dort auf ihn warten würden (wo auch immer das war) – um ihm all das anzutun, was er ihnen angetan hatte.

Ja, er wollte diese Kapseln. Er brauchte diese Kapseln.

Und er bekam immer, was er wollte. Es sei denn, ein Wiesengrund stellt sich dir in den Weg, flüsterte eine Stimme in ihm. Und wieder stand in seinem Kopf der Junge auf, und wieder wuchsen ihm Flügel aus den Schultern.