Das Lied der Aurelia hatte inzwischen eine ganze Heerschar von Meeresbewohnern angelockt. Große und kleine, von jeder Art und Farbe. Die meisten folgten ihr nur eine Weile, doch mehr und mehr blieben – so wie Lizzie und ihre Freunde. Vielleicht lag es nur an der Größe der Aurelia, doch Lizzie hatte den Eindruck, dass auch ihr Gesang die Jäger fernhielt. Die, die sich ihr näherten, machten keine Anstalten, sie anzugreifen. Schulen von Haien folgten ihr und verschwanden wieder, als wäre das Lied Geschenk genug, und sogar die Riesentintenfische, die sich sonst gerne Kämpfe mit den anderen Riesen der Unterwasserwelt lieferten, verbeugten sich ehrfürchtig vor der gewaltigen Qualle – und hielten Abstand.
Ja, bisher lief alles gut!
Oder nicht?
Laimomi sandte plötzlich ein Alarmsignal aus. Sie zeigte auf einen Schatten, der direkt auf Lizzie zuhielt.
War das etwa …?
Ja, es war ein männlicher Selkie! Das Muster auf seinem Rücken verriet ihn. Außerdem war kein gewöhnlicher Seehund in der Lage, so tief zu tauchen und so schnell zu schwimmen. Aber was hatte ein Selkie hier zu suchen? Sie bevorzugten kalte Ozeane. Lizzie hatte noch nie einen in diesem Teil des Pazifiks gesehen. Laimomi eilte ihr zur Seite, und Koo ebenso. Er war ein gefährlicher Beschützer, auch wenn er aussah wie ein schwimmender Kürbis, und der Selkie wurde langsamer, als der Laternenfisch seine drei Reihen messerscharfer Zähne fletschte. Sonderlich eingeschüchtert sah er allerdings nicht aus. Selkies sind sehr selbstbewusst. In ihrer Zeit als Mensch hatte Lizzie sich mit ihrer Geschichte beschäftigt. Und mit dem Zauber ihrer Häute.
»Ich habe eine Nachricht für Lizzie Persimmons«, signalisierte der Selkie mit seinen Flossen. Meist kommunizierten sie auf diese Weise, doch sie waren angeblich auch begabte Telepathen.
Lizzie spürte eine so heftige Freude, dass sie ihr das Herz verbrannte.
»Ich bin Lizzie Persimmons!«, signalisierte sie zurück. »Kommt die Nachricht von Barnabas Wiesengrund?«
»Ja«, erwiderte der Selkie, ohne den Blick von der Aurelia zu wenden. »Sie lautet: Bereiten Ankunft vor. Drei Kuriere auf dem Weg. CA ist auch hier …«
Laimomi und Lizzie tauschten einen langen Blick. Oh, das waren schlechte Nachrichten. Sehr schlechte.
»Danke sehr«, sagte Lizzie, während Angst und Freude in ihrem Innern um die Oberhand rangen. »Hat Barnabas dir die Nachricht persönlich übergeben? Ich weiß, das hier sind nicht deine heimischen Gewässer, und Selkies und Meermenschen …«
»… kämpfen in der Regel gegeneinander?« Der Selkie zuckte die Schultern. »Der Leprechaun, der mich gebeten hat, den Boten zu spielen, ist ein alter Freund. Ich hab es für ihn getan, nicht für dich, Meerfrau.«
Ein Leprechaun? Barnabas mochte keine Leprechauns. Doch Lizzie beschloss, das nicht zu erwähnen.
»Vielen Dank!«, signalisierte sie ein weiteres Mal. »Die Nachricht, die du überbracht hast, ist sehr wichtig. Für uns alle.«
Doch der Selkie hatte sie bereits vergessen. Er blickte mit großen schwarzen Augen auf die Aurelia. Alle Meermenschen beobachteten ihn misstrauisch. Es stimmte, sie und die Selkies hatten an vielen Orten der Welt Kriege ausgefochten. Doch von Zeit zu Zeit gab es auch legendäre Freundschaften zwischen ihnen. Es gab sogar eine Stadt, die sie gemeinsam erbaut hatten und die berühmt war für ihre Schönheit, nicht weit von der Nordküste Frankreichs entfernt.
CA ist auch hier.
Lizzie spürte noch immer die Angst, die sie erfasst hatte, als die Flossen des Selkie diese Worte ins Wasser gezeichnet hatten. Sollten sie den anderen erklären, welche Gefahr der Aurelia drohte? Lizzie sah dieselbe Frage in Laimomis Gesicht. Musste sie ihnen wirklich die Freude nehmen, die die Aurelia in allen auslöste?
»Was bringt es, es ihnen zu sagen?«, signalisierte Laimomi ihr, während die anderen auf die Aurelia starrten. »Sie werden alles dafür geben, die Aurelia zu schützen, ob sie von der Gefahr wissen oder nicht! Warum sollen sie es in Furcht tun? Und falls wir scheitern … nun ja, dann …«
Sie blickten einander an.
Sag es!, dachte Lizzie. Wenn wir scheitern, werden die Schiffe der Momi nur noch fauliges Holz sein. Es wird dort keine lachenden Meerlinge mehr geben, keine Wachen im Ausguck, keine Herden von Seepferden … Wer würde noch sterben? War Koo ein Fabelwesen? Vermutlich. Und die Wale, die in der Tiefe sangen? Würde überhaupt jemand übrig bleiben außer den Menschen? Über wen würden sie Geschichten erzählen, wenn Cadoc alles andere mit seiner Gier auslöschte? Lizzie blickte zur Aurelia hinüber. Inzwischen schwammen sie auf derselben Höhe. All die Magie – wie konnte es sein, dass Cadoc all das nur stehlen und zerstören wollte?
»Die Kapseln sind nutzlos, bis die Aurelia die Küste erreicht.« Laimomi schlang den Arm um Lizzie. »Uns bleibt noch Zeit.«
Ja. Aber Cadoc blieb genauso viel Zeit.
Der Selkie machte keine Anstalten, zurückzuschwimmen. Er hatte sich zu denen gesellt, die der Aurelia folgten, verzaubert von ihrem Gesang, eingehüllt in ihre Lichter und Farben. Lizzie dagegen war immer noch wie betäubt von der Nachricht, die der Selkie überbracht hatte. Was würde Barnabas tun? In seiner Nachricht war keine Rede davon. Weil er es noch nicht weiß, Lizzie.
»Hör auf, dir Sorgen zu machen!« Laimomi zog sie mit sich, den anderen nach. »Wir haben Cadoc schon einmal besiegt. Und wir werden ihn auch diesmal besiegen.« Sie hatte zahllose Narben von dem Netz, in dem er sie gefangen hatte. Sie hatte so verzweifelt versucht, sich daraus zu befreien, bis Lizzie ihr zu Hilfe gekommen war. Und es gab Tage, an denen sie das Schiff, in dem sie lebten, kaum verlassen konnte, weil sie die Wunde an der Schwanzflosse immer noch spürte, die die Bootsschraube ihr damals zugefügt hatte. Aber … Cadoc hatte Laimomi nicht bekommen.
Und wir werden ihn auch diesmal besiegen. Sie mussten ihn besiegen. Ihrer aller Leben hing davon ab.
Koo stieß sie mit der Flosse an. Er leuchtete dunkelorange – ein Zeichen dafür, dass er besorgt oder aufgeregt war.
Er deutete auf einen Schwarm Perlenfresser. Hinter ihnen erkannte Lizzie eine Gruppe ungewöhnlich gefärbter Tintenfische. Sie schienen darauf zu achten, dass das Licht der Aurelia sie nicht erreichte, doch ein Schwarm schillernder Zitterfische verriet sie.
»Habt ihr beiden schon mal solche Tintenfische gesehen?«, fragte Lizzie.
Koo und Laimomi schüttelten den Kopf. »Du meinst …?«
»Ich weiß es nicht. Lasst sie uns im Auge behalten.«
Koo fletschte zustimmend die beeindruckenden Zähne.