Der Köder

Es war still auf Marys Veranda. Bis auf das Hämmern unter den Dielen, wo die Bläulinge einige von Marys Balken verstärkten. Sie hatten schon viel für sie repariert, denn sie mochten Mary sehr – obwohl sie sie gebeten hatte, nicht alle Schwarzen Witwen zu schrumpfen.

Barnabas saß an dem großen Tisch, an dem sie inzwischen so oft gemeinsam gegessen hatten, und machte sich Sorgen um Guinever und Vita. Ben las es ihm vom Gesicht ab. Alle konnten es sehen, auch wenn sein Vater natürlich ebenfalls der Meinung war, dass Lizzie vor den Tintenfischen gewarnt werden musste. Es ging ihm noch immer nicht gut. Es machte Ben Angst, wie kurzatmig er schon nach wenigen Schritten war. »Dein Vater hat deine Mutter und deine Schwester vor der vollen Wucht des Steinzaubers beschützt. Ich bin sicher, dass Barnabas den Preis dafür gern bezahlt«, hatte Alfonso geantwortet, als Ben ihm seine Sorge gestand. »Ein Drachenreiter«, hatte er mit einem wissenden Lächeln hinzugefügt, »fühlt finsteren Zauber wie den, der deinem Vater den Stein ins Fleisch gesät hat, natürlich weit weniger.«

Drachenreiter … Ja, Ben spürte es mit jedem Tag deutlicher. Er wurde stärker. Und Alfonso hatte recht: Der Steinfluch hatte bei ihm keine Nachwirkungen hinterlassen. Ganz im Gegenteil. Seit der Nacht, in der Lung ihn in sein Feuer gehüllt hatte, kam es ihm vor, als würde es in ihm brennen.

»Hast du noch etwas über die Tintenfische erfahren, Lola?« Sogar Barnabas’ Stimme klang erschöpft. Wenn er sich doch bloß ausruhen würde! »Keine Zeit«, sagte er nur, wenn ihm jemand diesen Ratschlag gab.

Lola schüttelte den Kopf. »Die Lauschkäfer sind eine ziemliche Enttäuschung. Ich fürchte, der Mantikor hat ein paar von ihnen gefressen, sehr bedauerlich! Die anderen sind ziemlich aufgebracht und verstecken sich oder suchen nur noch in der Küche nach Futter, anstatt Aalstrom oder unseren metallenen Freund zu belauschen. Es wurde irgendwas über Würmer gesagt, die wohl zum Einsatz kommen sollen, falls der Tintenfisch-Plan nicht aufgeht. Ich denke, wir alle können uns inzwischen ausmalen, wie der aussieht. Fragt sich nur, wann die Tintenfische sich die Kapseln der Aurelia greifen wollen. Und ob unsere Unterwasserfreunde sie aufhalten können.«

Das ließ sie alle schweigen. Und sich grässlich nutzlos fühlen. Es musste doch irgendetwas geben, das sie tun konnten!

»Der Kupfermann hasst Aalstrom«, murmelte Fliegenbein. »Ich hab es in seiner Stimme gehört.«

»Welcher Sklave hasst seinen Herrn nicht?«, sagte Barnabas. »Aber dieser Fluch, von dem der Leprechaun Vita erzählt hat, bedeutet leider auch, dass der Kupfermann alles tun wird, was Cadoc ihm befiehlt.«

»Wie zum Beispiel Moosfeen fangen«, sagte Lola. »Aalstrom scheint einen ziemlichen Verschleiß an den kleinen Dingern zu haben. Zopfnixen, Moosfeen … ich werde einen fliegenden Bus brauchen, um sie alle zu befreien. Das steht ganz oben auf meiner Liste, aber jetzt würde es zu viel Aufmerksamkeit erregen.«

»Die armen Feen und Elfen!«, rief Freddie. »Was, wenn sie sterben, bevor wir sie retten?«

»Wir haben mehr als dreihundert Jahre Sklaverei überlebt, Bruder«, merkte Fliegenbein an. »Sie werden es schon schaffen. Lola hat recht. Wir dürfen die Aurelia-Mission nicht gefährden.«

Freddie überzeugte das offenbar nicht. Doch Ben musste Lola und Fliegenbein schweren Herzens zustimmen. Genauso wie die anderen.

»Mach dir keine Sorgen, Freddie!«, versuchte Mary ihn zu trösten. »Es sind nur noch drei Tage. Wir versuchen sie zu befreien, sobald die Kapseln der Aurelia in Sicherheit sind.«

Sobald die Kapseln der Aurelia in Sicherheit sind … Sie alle blickten auf den Horizont, wo der Ozean schimmernd auf den blauen Himmel traf.

»Gibt es Neues von Acht?«, fragte Hothbrodd.

Lola schüttelte auch dazu den Kopf. »Gilbert hat immer noch nichts von ihm gehört.«

Es breitete sich erneut sorgenvolles Schweigen auf Marys Veranda aus. Wenn der Große Blaue Krake nicht kam – wer sollte dann der Kurier des Wassers sein? Die Meermenschen? Nein, die Kapsel würde ein weit stärkeres Fabelwesen als Beschützer brauchen.

»Alfonso sagt, das Fabelwesen, das er für den besten Kurier der Erde hält, wird spätestens morgen hierherkommen«, berichtete Ben.

»Dann wird es ganz sicher so sein«, sagte Barnabas. »Was ist mit den Greifen? Irgendwas Neues von Shrii?«

»Ja!« Lola war sichtlich erleichtert, dass sie kein weiteres Nein präsentieren musste. »Er ist auf dem Weg! Einer der wilden Papageien, die hier in Scharen herumflattern, hat es mir erzählt. Kann mir jemand erklären, warum die Natur sich Papageien ausgedacht hat? Dieser war so grün, dass mir die Augen wehtaten … und gekrächzt hat er! Höchstens Eselsgeschrei ist noch unerträglicher. Er hat jeden Vogel aufgezählt, der Teil der Nachrichtenkette war, von Indonesien bis hierher. Ich werde euch nicht mit den Namen langweilen. Aber es klang so, als ob Shrii in spätestens zwei Tagen hier sein wird.«

Das war zur Abwechslung mal eine gute Nachricht. Sie hatten Shrii vor zwei Monaten gerettet, als Kraa, ein anderer Greif, ihn töten wollte. Ben war sicher, dass Shrii froh war, sich zu revanchieren – ganz zu schweigen von der Gefahr, dass die Greife ebenfalls verschwinden würden, wenn Aalstrom die Aurelia zornig machte. Wusste Shrii das? Vermutlich … Die Sonne ging unter, und Ben hatte das Gefühl, als würde sie einen weiteren kostbaren Tag mit sich nehmen. Noch drei weitere bis zur Ankunft der Aurelia, und Aalstrom bereitete einen Angriff unter Wasser und einen weiteren am Strand vor. Während sie nichts anderes tun konnten, als zu hoffen, dass sie die Aurelia irgendwie verteidigen konnten … Das war kein gutes Gefühl. Ganz im Gegenteil.

»Können wir Aalstroms Aufmerksamkeit vielleicht in diesen letzten wichtigen Tagen von der Aurelia ablenken?«, sagte Ben. »Ich weiß nicht, ob das die Tintenfische aufhalten wird, aber irgendwas müssen wir doch tun! Was würde ihn dazu bringen, die Kapseln zu vergessen?«

»Ein Köder!« Freddie machte ein paar aufgeregte Steppschritte. »Wir geben ihm etwas, das er genauso heiß begehrt wie die Kapseln! Und wenn er versucht, es sich zu greifen … Baam!«, er stampfte mit seinem Silberfuß auf den Tisch. »Fangen wir ihn! Und halten ihn gefangen, bis die Kapseln der Aurelia mit den vier Kurieren unterwegs sind! Und natürlich bis wir die Moosfeen und Zopfnixen befreit haben!«

»Und was für ein Köder soll das sein, Bruder?«, spottete Fliegenbein. »Hast du nicht gehört, dass Aalstrom glaubt, dass die Kapseln ihn unsterblich machen?«

»Nun, zum Beispiel das Herz eines Drachen!«, rief Freddie.

»Zum Beispiel.« Lung stand plötzlich zwischen den Bäumen. Er hatte am Teich mit seiner Familie gesprochen. »Das ist eine sehr gute Idee, Freddie.«

Ben starrte seinen Drachen entgeistert an.

»Danke!«, strahlte Freddie. »Ich bin sicher, Aalstrom wird nicht widerstehen können.«

»Wenn das ein Witz sein soll, dann ist es ein sehr schlechter. Hört sofort auf, ihr beiden!«, rief Fliegenbein.

Lung schritt auf die Veranda zu.

»Es könnte funktionieren.«

»Was könnte funktionieren?« Schwefelfell trat aus Marys Haus, eine Kette aus getrockneten Pilzen um den Hals. Mary hatte ihr gezeigt, wie man sie im Ofen trocknete.

»Lung spielt den Köder für Aalstrom! Damit wir ihn fangen können!« Freddie gefiel seine Idee noch besser, seit Lung seine Zustimmung gezeigt hatte. Er tanzte aufgeregte Kreise auf dem Tisch.

»Hast du komplett den Verstand verloren, du kleiner Idiot?«, fuhr Schwefelfell ihn an. »Aber natürlich! Dein Gehirn ist so groß wie eine Erbse, und du interessierst dich bloß für deine Füße!«

»Schwefelfell!« Mary legte tröstend die Hand um Freddie, der die Koboldin bestürzt ansah.

»Ich muss Schwefelfell recht geben«, sagte Barnabas. »Lung hat schon mehr als genug getan, als er uns gerettet hat.« Er wandte sich dem Drachen zu. »Du bist nur aus einem Grund hier: um eine der Kapseln der Aurelia in Empfang zu nehmen und zu schützen.«

»Es gibt Dinge, die wir tun wollen, und Dinge, die wir tun müssen, Barnabas«, erwiderte Lung mit ruhiger Stimme. »Uns läuft die Zeit davon. Stellen wir ihm eine Falle, statt nur abzuwarten, in der Hoffnung, dass wir Aalstroms Angriff abwehren können.«

Ben hatte das Gefühl, in einem schlechten Traum gefangen zu sein. Sein Drache als Köder für den Mann, der nur ein einziges Ziel verfolgen würde: ihm das Herz herauszuschneiden?

»Es ist entschieden.« Da war ein Knurren in Lungs Stimme. »Ich bin ein Drache, kein zerbrechliches Kind, über das ihr euch Sorgen machen müsst. Und wenn ich mit Aalstrom kämpfen muss, um zu erreichen, dass er nicht unser aller Existenz aufs Spiel setzt – dann sei es so. Ich verspreche …«, fügte er mit einem Blick auf Ben hinzu, »… ich habe nicht vor, ihm mein Herz zu überlassen.«

Es gibt Dinge, die wir tun wollen, und Dinge, die wir tun müssen … Ben erwiderte den Blick seines Drachen. Lung hatte recht. Sie durften sich nicht von der Furcht leiten lassen. Sie würden Aalstrom bekämpfen müssen.

Schwefelfell war anderer Meinung. Ihr Fell sträubte sich vor Empörung.

»Habt ihr vergessen, dass Lung jetzt Vater ist?«, rief sie. »Ja, seine Kinder treiben mich in den Wahnsinn, aber ich werde nicht zulassen, dass sie zu Halbwaisen werden. Nein! Nein, nein, nein!«

Lung schob den Kopf über das Verandagelände, bis er ihr in die Augen sah. »Ist es besser, dass sie einfach verschwinden, wenn Aalstrom die Aurelia bedroht und sie uns alle mit sich nimmt, weil wir ihr Geschenk an diese Welt sind? Findest du nicht, dass dieser Planet ohne uns ziemlich trostlos wäre? Keine Drachen oder Kobolde mehr, weder junge noch alte. Nur Aalstroms vielleicht bald unsterbliche Gier. Lasst uns ihn aufhalten, und zwar jetzt.«

Schwefelfell drehte ihm den Rücken zu.

»Mach doch, was du willst«, knurrte sie. »Das machst du ja eh immer.«

Dann sprang sie von der Veranda und verschwand zwischen den Bäumen.

»Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll«, murmelte Barnabas. »Ich beschütze Fabelwesen. Ich benutze sie nicht als Köder.«

»Unsinn, Barnabas.« Hothbrodd hatte die ganze Zeit nur schweigend an einem Baum gelehnt. »Lung und Freddie haben recht. Es könnte klappen. Und mir gefällt die Idee wirklich gut, dass Aalstrom zur Abwechslung mal die Beute ist.«

»Und wo wollen wir den Köder auslegen?«, fragte Lola.

Freddie war auf Marys Schulter geklettert. »Wie wär’s mit Anacapa?«

Er zeigte auf den Horizont. »Man kann die Insel von hier aus sehen. Es ist die kleinste der nördlichen Kanalinseln. Wir lassen Aalstrom wissen, dass er dort einen Drachen finden kann, und sobald er auftaucht, fangen wir ihn und sperren ihn ein! Vielleicht muss Lung nicht mal selbst dort sein.«

»Doch, das muss ich«, sagte Lung.

»Dann werde ich auch da sein!«, sagte Ben.

Das ließ seinen Vater noch blasser werden, doch Barnabas war klug genug, nicht mit ihm zu diskutieren.

»Hervorragend! Alles gut! Ja!« Lola leckte sich etwas Tomatensoße von den Pfoten. Mary hatte ihnen großartige Pasta serviert. »Dann müssen wir jetzt nur noch klären, wie wir Aalstrom wissen lassen, dass Lung auf dieser Insel ist. Und was wir mit dem Kupfermann machen. Ich hoffe, er bringt nicht seine Wespen mit.«

Fliegenbein trat in die Mitte des Tisches. »Wenn ihr geht, gehe ich mit Euch, Meister«, sagte er mit zitternder, aber sehr entschlossener Stimme.

»Nein.« Ben schüttelte den Kopf. »Nein, Fliegenbein.«

»Ich war bei Euch, als wir gegen Nesselbrand gekämpft haben!«

Ben schüttelte erneut den Kopf, auch wenn ihm Fliegenbeins flehender Blick das Herz brach. »Nein! Ich hätte zu viel Angst um dich. Tut mir leid.«

Fliegenbein blickte auf seine spitzen Schuhe hinab und runzelte die Stirn. Dann hob er den Kopf und schob sein Kinn vor (das ebenfalls recht spitz war).

»In diesem Fall werde ich derjenige sein, der Aalstrom informiert, dass sich ein Drache auf Anacapa befindet. Niemand ist qualifizierter dafür als ich. Ich habe mehr als dreihundert Jahre Erfahrung in der Kunst der Täuschung. Wir alle müssen unseren Part übernehmen, Meister«, fuhr er fort, als Ben den Mund öffnete, um zu widersprechen. »Vergiss nicht. Freddie und ich werden ebenfalls verschwinden, wenn Aalstrom nicht aufgehalten wird.«

Ben sah ihn bloß an. Er verspürte so viel Liebe für den Homunkulus. Und Stolz. Und so viel Angst davor, ihn zu Aalstrom zu schicken.

»Es muss eine andere Möglichkeit geben«, sagte er heiser. »Das könnte die gefährlichste Aufgabe sein, Fliegenbein.«

»Aber ich geh doch mit ihm!«, rief Freddie und eilte an die Seite seines Bruders.

»Na«, sagte Lola, »dann ist die ganze Mission ja das reinste Kinderspiel.«