Nachtwache

Der Kupfermann kommt zurück.« Lolas Stimme brach von Zeit zu Zeit ab, doch die Verbindung, die Hothbrodd zwischen ihrem Headset und Bens Computer aufgebaut hatte, stellte sich als verlässlicher heraus, als sogar der Troll selbst gehofft hatte. »Der hat bestimmt irgendwas Schlimmes angestellt!«

»Hothbrodd ist auf dem Weg zum Strand. Er überprüft das.« Ben sprach leise, obwohl Aalstrom ihn ganz sicher nicht hören konnte. Sie alle hatten das Gefühl, mit ihr im Flugzeug zu sitzen und das Haus ihres Feindes zu beobachten, während sie über dem Haus und dem Strand kreiste. Wenigstens waren bisher keine Wespen aufgetaucht.

Barnabas schlief. Es ging ihm noch immer nicht besser, und inzwischen machten sich alle große Sorgen um ihn. Mary hatte schon Tränke aus jedem Kraut bereitet, das sie kannte. Schwefelfell hatte ihm sogar ein paar von ihren Pilzen gebracht. Doch sein Vater konnte kaum etwas essen, und es fiel ihm zunehmend schwerer, die Augen offen zu halten. »Vielleicht hat der Stein doch das Herz erreicht«, hatte Mary erst eine Stunde zuvor gesagt. »Es tut mir so leid, Ben.«

Es war schwer, an Aalstrom oder die Aurelia zu denken, wenn es seinem Vater so schlecht ging. Doch Ben wusste genau: Barnabas wollte, dass er seinen Platz einnahm – und so gab er sein Bestes. Er hatte sogar Lung überzeugen können, sich ein wenig auszuruhen. Mit Schwefelfells Hilfe. »Was soll das heißen, du brauchst keine Erholung?«, hatte sie den Drachen angefahren. »Muss ich dich daran erinnern, dass du schon bald den Köder für einen Verrückten und seinen Metallsklaven spielen musst?« Und so schlief Lung im Mondschein unter Marys Bäumen, mit Schwefelfell an seiner Seite. Es war ein schöner Anblick.

Weder Alfonso noch Hothbrodd waren bereit gewesen, an einem dunklen Strand auf zwei Homunkuli aufzupassen, und so waren Freddie und Fliegenbein bei Ben geblieben. Freddie tanzte ein melancholisches Tänzchen zwischen Marys Blumentöpfen, doch Fliegenbein schien dankbar zu sein, einen ereignisarmen Abend auf ihrer Veranda zu verbringen. Schließlich wartete eine furchterregende Aufgabe auf ihn, sobald der Morgen kam: den Verräter zu spielen von allen und allem, was er liebte, damit Aalstrom den Köder schluckte und nach Anacapa aufbrach. Ben streckte die Hand aus, und der Homunkulus nahm den Trost gerne an. Er kletterte Bens Arm hinauf und setzte sich auf seine Schulter, während sein Meister weiter Lolas Bericht lauschte.

»Der Mantikor könnte den Humklupussen natürlich gefährlich werden«, flüsterte sie. »Aalstrom hält ihn wie ein verhätscheltes Haustier, was heißt, zu der Insel wird er ihn vermutlich nicht mitnehmen. Aber er sieht äußerst wohlgenährt aus – auch wenn er leider gern meine Käfer frisst. Aalstrom lässt ihn meist nur im vorderen Teil des Hauses herumschleichen, wo er ein Auge auf die Straße haben kann. Also sollten wir dafür sorgen, dass die Huplikusse von der Meerseite kommen.«

Ben sah, wie Fliegenbein schluckte. Der Mantikor. Nein, es gefiel ihm wirklich nicht, Fliegenbein und Freddie in Aalstroms Haus zu schicken.

»Keine weiteren Wachen«, fuhr Lola fort, »bloß das Dienstmädchen, das tagsüber kommt. Auf der Insel wird der Kupfermann definitiv unsere größte Sorge sein! Nicht mal Hothbrodd könnte ihn so ohne Weiteres außer Gefecht setzen. Und wir wissen gefährlich wenig über die Magie, zu der er fähig ist.«

Vielleicht würde Aalstrom ihn nicht mit zu der Insel nehmen? Keine Chance. Natürlich würde er das. Ben starrte auf seinen Computerbildschirm. Wenn er doch nur mehr über Kupfermenschen und ihre Fähigkeiten wüsste!

Er hatte mit Alfonso und einer Freundin von Mary, die Anacapa gut kannte, Karten der Insel studiert. Gemeinsam hatten sie die Stelle ausgewählt, an der Lung landen würde, und den Strandabschnitt, an den seine Spur Aalstrom führen sollte. Sie planten, kurz vor Sonnenaufgang aufzubrechen, er, Schwefelfell und Lung … das alte Team. Bis auf Fliegenbein, der seine eigene Aufgabe zu erfüllen hatte. Es kam Ben wie ein anderes Leben vor, die Tage, als sie gemeinsam den Saum des Himmels gefunden hatten. Wenigstens würde ihr Feind diesmal nicht wie Nesselbrand unerwartet auftauchen. Andererseits war Aalstrom eindeutig die Art Gegner, die immer für eine böse Überraschung gut war. Die Kupferwespen waren ein guter Beweis dafür. Dennoch … Ben hätte seine Aufgabe niemals gegen Guinevers eingetauscht. Sich in einen Seehund zu verwandeln und in die nassen Tiefen des Ozeans hinabzutauchen … nein. Es klang wesentlich verlockender, endlich wieder der Drachenreiter zu sein.

»Gilbert hat mir gerade geschrieben«, hörte Ben Lola flüstern. »Es wird berichtet, dass ein großer Krake im Pazifik gesichtet wurde. Hoffen wir mal, dass es Acht war, der auf dem Weg hierher ist.«

Acht … seine Bekanntschaft war eins der vielen guten Dinge, die sie von ihrem letzten großen Abenteuer in Indonesien mitgebracht hatten. Der Große Krake war ohne Zweifel der perfekte Kurier des Wassers, so wie Shrii, als neuer Anführer der Greife, der perfekte Kurier der Luft sein würde. Ben konnte es kaum erwarten, die zwei wiederzusehen. Würde dieses neue Abenteuer ihnen ebenso wunderbare neue Freunde einbringen? Ganz sicher. Alfonso hatte ihnen noch immer nicht verraten, wen er gebeten hatte, Kurier der Erde zu sein. »Sie wird rechtzeitig hier sein«, mehr hatte er nicht gesagt. Und sie wussten inzwischen alle, dass Alfonso Fuentes seine Versprechen hielt.

»Hier tut sich nichts«, hörte Ben Lola sagen. »Alles ruhig, am Haus und am Strand. Verdammt!«, fluchte sie plötzlich.

»Lola?« Ben warf Fliegenbein einen besorgten Blick zu, und Freddie hörte auf zu tanzen.

Sie hörten ein Summen, ähnlich dem einer Hummel. Und dann wieder Lolas Stimme.

»Alles gut, das war eine echte Wespe«, flüsterte sie. »Katzen und Stinktiere, ich werde langsam paranoid!« Sie hörten sie gähnen. »Ich bleibe dran, bis Hothbrodd vom Strand zurückkehrt. Dann mache ich ein kleines Nickerchen. Aber ich sorge dafür, dass Fliegenbein ein vollständiger Bericht vorliegt, bevor er da reingeht. Over!«

»Over.«

Ben blickte Fliegenbein besorgt an.

»Falls der Mantikor euch doch über den Weg schleicht, brecht die Mission ab!«

Aber der Homunkulus schüttelte nur den Kopf. »Keine Sorge, Meister! Aalstrom wird nicht wollen, dass sein Hausmonster uns frisst. Schließlich verraten wir ihm, wo er einen Drachen findet.« Aus seiner Stimme war nur ein leichter Anflug von Zweifel an dem zu hören, was er sagte.

»Ganz deiner Meinung!«, rief Freddie unter dem Tisch, wo er gerade ein paar neue Schritte ausprobierte, die die Bläulinge ihm beigebracht hatten.

Keine Sorge … Ben blickte zu seinem schlafenden Drachen hinüber, als Mary auf die Veranda trat und sich zu ihm an den Tisch setzte.

»Wie geht’s meinem Vater?«

Mary schüttelte den Kopf.

»Er isst nichts und trinkt kaum etwas. Er sagt, seine Augenlider sind aus Stein. Ich hoffe, Alfonso erfährt etwas von den Chumash.«

Fliegenbein tätschelte Bens Schulter tröstend mit seiner kleinen Hand. »Er wird wieder gesund, Meister«, sagte er. Doch die Sorge in seiner Stimme konnte er nicht verbergen.

Sie hatten noch nicht versucht, Vita und Guinever von Barnabas’ Zustand zu unterrichten. Und Ben würde schon bald nach Anacapa aufbrechen!

»Ich kümmere mich um deinen Vater«, sagte Mary. »Und Alfonso und ich werden weiter nach einem Heilmittel suchen.«

»Hallo! Halloooooo!«, schrillte Lolas Stimme aus dem Lautsprecher.

»Eine Möwe hat mich gerade informiert, dass Elewese einen Transport für die Humpelklumpusse organisiert hat!«, zischte Lola. »Ein Pelikan wird die beiden zu Aalstroms Balkon bringen, auf die Art kommen sie auf der Meeresseite an, und ich kann sie ja schlecht absetzen, ohne Misstrauen zu erregen. Der Vogel hat natürlich versprochen, sie nicht zu fressen.«

Ben hörte Lola kichern.

»Wie bitte? Ein Pelikan?« Fliegenbein regte sich so abrupt, dass er von Bens Schulter rutschte. Ben fing ihn gerade noch auf, bevor er auf dem Tisch aufschlug.

»Elewese hat bestimmt einen Vogel ausgewählt, dem er vertrauen kann, Bruder.« Freddie sah überhaupt nicht besorgt aus. Ganz im Gegenteil. Er strahlte vor Vorfreude. »Wie cool ist das denn?«, rief er. »Wir landen mit Stil in Aalstroms Versteck, Bruder!«

Fliegenbeins Gesicht verriet, dass er – nicht zum ersten Mal – am geistigen Gesundheitszustand seines Bruders zweifelte. »Mit Stil?«, wiederholte er. »Ich frage mich, an welchen Stil du da denkst. Den Stil einer Pelikan-Mahlzeit?«