Weit draußen auf dem Ozean

Das Fischerboot, das Alfonso organisiert hatte, war schnell. Ricardo, der am Steuer stand, war der Jüngste aus Alfonsos Crew. Er hatte sein rabenschwarzes Haar korallenrot gefärbt und sang leise vor sich hin, während er das Schiff über die Wellen lenkte – in einer Sprache, die für Guinever nicht nach Spanisch klang.

»Was war das für eine Sprache?«, fragte sie, als Ricardo verstummte und sie alle auf das mondbeschienene Meer blickten, das um sie her mit der Nacht verschmolz.

»Zapotek«, erwiderte Ricardo lächelnd, »was wörtlich übersetzt die Sprache der ›Bewohner des Ortes, wo Sapote wächst‹ bedeutet. Das ist einer unserer wichtigsten Obstbäume. Ich stamme aus Oaxaca, so wie Alfonso, aber dort spricht man viele Sprachen.«

Oaxaca … der Name klang nach Abenteuer, nach Bäumen und Tieren, die ganz anders waren als die, mit denen Guinever aufgewachsen war. Ein einziges Leben würde niemals ausreichen, um alles zu sehen, was sie sehen wollte. »Ich bin mir sicher, dass wir viele Leben leben, Guinever«, hatte ihre Mutter einmal gesagt. »Also, leb dieses nicht zu schnell, nur weil du glaubst, du musst alles schaffen, was du dir vorgenommen hast.«

Bald würde sie jedenfalls etwas tun, was sie sich schon immer gewünscht hatte, und sie war sehr froh, dass es in diesem Leben passierte. Seit Guinever Wiesengrund ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie davon geträumt, eine fischschwänzige Meerfrau zu sein – dem traurigen Märchen von der kleinen Meerjungfrau zum Trotz und ungeachtet der Gefahren, von denen die Meermenschen erzählten, die nach MÍMAMEIÐR kamen. Guinever war eine recht ordentliche Taucherin, nicht halb so gut wie ihre Mutter, aber dennoch … sie hatte die Welt gesehen, die unter der Oberfläche der Ozeane wartete. Allerdings nur durch eine Taucherbrille hindurch, mit einer Sauerstoffflasche auf dem Rücken und in einem Taucheranzug, der sie schützte und zugleich von der Unterwasserwelt trennte, die sie so gern erforschen wollte. Das Wasser auf der Haut zu spüren, mit Augen zu sehen, die keine Angst vor der Tiefe hatten, ohne Metallkanister zu atmen … Guinever hatte sich das in ihren Träumen so oft ausgemalt. Würde es sich genauso anfühlen, wenn sie in das Selkie-Fell schlüpfte?

Sie konnte im Gesicht ihrer Mutter erkennen, dass Vita sich dieselbe Frage stellte – und genauso wenig abwarten konnte, es herauszufinden. Doch bald ließen sie die Weite des Ozeans und der Nachthimmel über ihr die Zeit vergessen. Nach einer Weile schien es Guinever fast, als existierte die Zeit nicht mehr. Als gäbe es nichts mehr außer der Endlosigkeit von Wasser und Himmel. Wie nahm die Aurelia, die schon so lange lebte, Zeit wahr? Würde Guinever sie danach fragen können?

»Wir sind fast da.« Ricardos leise Stimme brachte die Zeit zurück, wie Guinever sie kannte – unerbittlich forschreitend, in Minuten, Stunden und Tagen gemessen. Nicht in Jahrhunderten oder Ewigkeiten. Über dem Wasser begann der Morgen zu dämmern, und sie waren noch immer nicht sicher, ob Lizzie ihre Nachrichten erhalten hatte. Der Selkie, den der Leprechaun losgeschickt hatte, war ebenso wenig zurückgekehrt wie die Delfine, die Elewese gebeten hatte, Lizzie anzukündigen, dass sie auf dem Weg waren. Also orientierten sie sich an der von Gilbert berechneten Route der Aurelia und Lizzies einziger Nachricht.

Guinever hatte erwartet, das Licht der Aurelia unter ihnen im Wasser zu sehen, als Ricardo das Schiff beidrehte. Doch die Aurelia war vielleicht vorsichtig und noch immer viel tiefer, als sie gedacht hatten. Das Wasser war dunkel, und es gab keinen Hinweis darauf, dass sie am richtigen Ort waren.

»Ich denke, wir müssen es einfach versuchen«, sagte ihre Mutter.

Ricardo blickte in das dunkle Wasser und schüttelte den Kopf. »Muy peligroso«, murmelte er. »Viel zu gefährlich!«

»Vielleicht spüren wir die Aurelia, wenn wir in die Häute schlüpfen!«, sagte Vita und entrollte ihr Selkie-Fell. »Wir kommen zum Boot zurück, falls wir sie nicht finden.«

Ricardo sah immer noch skeptisch aus. Doch Guinever stimmte ihrer Mutter zu. Sie mussten es versuchen.

»Lass uns hoffen, dass hawaiianische Meermenschen mit Selkies reden«, sagte Vita. »In nördlichen Gewässern bekämpfen sie sich.«

Guinever beschloss, darüber einfach nicht nachzudenken, während sie sich das Fell über den Arm zog.

Derog Shortsleeves hatte die Wahrheit gesagt.

Sobald sie ihre Hand in eine der Vorderflossen schob, geschah die Magie von ganz allein. Plötzlich lag sie auf dem Bauch, und die Welt sah so anders aus. Die Reling war plötzlich ein Hindernis, über das sie gar nicht nachgedacht hatte! Doch Selkies sind stark. Das war ihre erste Lektion. Es fiel ihr leicht, sich hochzuziehen. Ihre Mutter sprang bereits ins Meer, als Guinever über die Reling rutschte. Und dann … tauchte sie ins Wasser.

Was für ein Gefühl! Mit einem Mal einen Körper zu haben, der für die Wellen gemacht war und sich nach ihnen sehnte! Guinever schwamm Loopings und Kreise und sprang aus dem Wasser, nur um zu spüren, wie es sie aufs Neue wie eine lang vermisste Freundin in die Arme schloss. Vita musste sie schließlich daran erinnern, wofür sie gekommen waren. Ja! Sie konnte die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf hören! Sie spürte ihre Worte wie ein sachtes Kribbeln in ihrem Fell und las die Bewegungen ihrer Flossen, als würde sie mit einem Stift Worte ins Wasser schreiben. Oh, das war große Magie! Guinever hatte eine so starke Verzauberung zuletzt auf dem Rücken eines Pegasus verspürt – und als sie die jungen Drachen in den Armen gehalten hatte. Doch vielleicht war dies hier sogar noch besser, denn zum ersten Mal war sie selbst ein Fabelwesen. Sie war eine von ihnen!

Tiefer und tiefer und tiefer tauchten sie, bis von dem blassen Morgenlicht nichts mehr zu sehen war. Doch in der Dunkelheit, die sie umgab, waren die Umrisse von Fischen zu erkennen, gezogen von bunten Lichtern. Sie funkelten an Schuppen und Flossen und waren einfach überall. Manche Fische flüchteten hastig, als sie die beiden Selkies erblickten – eine lebhafte Erinnerung daran, dass Seehunde gefährliche Räuber sind –, und ein paarmal zeigte Vita auf den Schatten eines Hais oder Tintenfisches und winkte Guinever näher an ihre Seite.

Es war so ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte.

So viel besser.

Auf überwältigende, atemberaubende Weise besser.

Und dann …

… war unter ihnen Licht und Gesang und Schönheit, mit eintausend Armen.