Hothbrodd war nicht nur ein auffallend großer und starker Tagtroll. Er konnte auch jeden Baum dazu überreden, genau die Stücke Holz wachsen zu lassen, die er gerade benötigte. Sei es, um daraus ein Haus zu bauen, ein Flugzeug oder einen Koffer für Bläulinge. Hothbrodd hatte in seinem langen Leben schon viele Dinge gebaut. Doch ganz besonders stolz war er auf das Flugzeug, dessen Tank er gerade mit Meereswasser füllte, als die Wiesengrunds von ihrer Expedition zurückkehrten. Der Troll hatte es ganz allein gebaut – mit Unterstützung von zehn Holzbohrerwichteln, deren Starrsinn, wie Hothbrodd behauptete, eine beträchtliche Anzahl seiner grünen Haare grau gefärbt hatte. Hothbrodd betrachtete die meisten Lebewesen als anstrengend, andere Trolle eingeschlossen, und Guinever fand es sehr schmeichelhaft, dass er ihre Familie ausnahm. Sie mochte den schlecht gelaunten Troll sehr.
»Ah, dann geht’s jetzt endlich dahin, wo wir hinwollten?«, knurrte Hothbrodd. »Oder hat noch ein alter Freund angerufen? Bei Thors Hammer, Barnabas! Wie viele alte Freunde kann ein Mann haben? Such dir einen anderen Piloten, falls du noch weitere Abstecher planst. Ich will diese jungen Drachen sehen, bevor sie größer sind als Guinever!«
»Ja, ja. Nächster Halt ist der Saum des Himmels!«, versprach Barnabas. »Heiliges Wiesengrund-Ehrenwort.«
Er war recht schweigsam in den nächsten Stunden, während Hothbrodd das Flugzeug durch die Wolken steuerte. Guinever konnte ihn nicht einmal dazu bewegen, ihr mehr über die Himmelsschlange oder die Māori-Sage zu verraten. »Kahurangi und ich haben uns nur in Erinnerungen verloren, mein Herz.« Das war alles, was er sagte. »Kahurangi und ich kennen uns seit der Schule, und wir waren damals beide besessen von den Fabelwesen des Meeres. Deine Mutter kannte ich damals kaum.«
Guinever konnte sich ihren Vater nicht ohne ihre Mutter vorstellen, auch wenn sie natürlich wusste, dass es einst einen Barnabas gegeben hatte, der weder Ehemann noch Vater gewesen war. Aber Fabelwesen des Meeres?
»Du gehst ja nicht mal schwimmen!«, rief sie, während Hothbrodd das Flugzeug durch Wolken flog, die sie wie schaumige Wellen umgaben. »Ich dachte, du magst das Meer nicht.«
»Oh, ich habe es mal sehr gemocht«, erwiderte ihr Vater. »Ich war sogar ein recht guter Taucher. Wusstest du, dass wir bislang nur etwa fünfzehn Prozent der Arten kennen, die in unseren Ozeanen leben? Die Fabelwesen nicht mit eingerechnet?«
Guinever starrte ihren Vater so ungläubig an, als hätte er ihr enthüllt, dass er Schwimmhäute zwischen den Fingern hatte. »Und wie hat sich das geändert?«
Barnabas schwieg und blickte in die Wolken.
»Ich wäre bei dem Versuch, eine Freundin zu retten, fast ertrunken«, sagte er schließlich, »und was noch schlimmer ist: Ich habe es nicht geschafft. Seit diesem Tag kann ich nicht mehr unter Wasser sein. Das ist vor allem schade, weil deine Mutter das Wasser so liebt.«
Mehr wollte er nicht verraten, und weil Guinever ihren Vater sehr liebte, respektierte sie sein Schweigen. Sie war sicher, dass ihr Bruder mehr über diese alten Geschichten herausfinden würde. Ben war sehr gut darin, ihre Eltern dazu zu bringen, von früher zu erzählen, vielleicht, weil er erst so viel später zur Familie dazugestoßen war. Sie fühlten sich verpflichtet, ihm das Gefühl zu geben, dazuzugehören, indem sie Erinnerungen mit ihm teilten.
Ihr Vater führte während des Fluges mehrere Telefonate mit MÍMAMEIÐR. Zuerst rief er Gilbert Grauschwanz an, FREEFABs genialen Ratten-Kartografen. (FREEFAB war die von ihren Eltern gegründete Geheimorganisation zur Erforschung und zum Schutz sämtlicher Fabelwesen dieser Welt.) Es ging um irgendeine Karte, die Gilbert erstellen sollte. Und darum, alle FREEFAB-Mitglieder (zu denen natürlich auch Guinever und Ben gehörten) nach Vogelformationen wie jener Ausschau halten zu lassen, die sie beobachtet hatten. Danach sprach ihr Vater noch lange und mit leiser Stimme mit Lola Grauschwanz, die nicht nur Gilberts Cousine, sondern auch die einzige fliegende Rättin der Welt und FREEFABs beste Kundschafterin war. Lola hatte wie immer viel zu erzählen, und Barnabas hörte hauptsächlich zu oder murmelte so rätselhafte Einwürfe wie: »Nein, das ist zu riskant, Lola!«, oder: »Achte einfach darauf, ob es Reisevorbereitungen gibt.«
Schließlich gab Guinever den Versuch auf, aus dem Gemurmel schlau zu werden, und setzte sich ins Cockpit zu Hothbrodd.
»Ich weiß, du willst es mir nicht verraten«, sagte sie, während sie den Koffer mit den zwei Bläulingen vom Sitz nahm. »Aber Dad sieht wirklich besorgt aus. Findest du nicht, dass seine Tochter wissen sollte, was los ist? Vor wem hat er eine Himmelsschlange gerettet? Und was hat das alles mit den Vögeln zu tun? Bitte, Hothbrodd!«
Sie lächelte ihm so aufmunternd zu, wie sie nur konnte.
»Komm mir nicht mit diesem Lächeln, Guinever Wiesengrund!«, knurrte Hothbrodd. »Der Dreckskerl, vor dem er die Schlange gerettet hat, heißt Cadoc Aalstrom … und ich verstehe, dass Barnabas euch nichts von ihm erzählt hat. Er kennt Cadoc seit der Schule, und die zwei haben im Laufe der Jahre viele Kämpfe ausgetragen.«
»Kämpfe?« Das war kein Wort, das Guinever mit ihrem Vater in Verbindung brachte.
»O ja!«, grollte Hothbrodd. »Dein Vater mag keine Schwerter oder Schusswaffen, aber Barnabas Wiesengrund ist ein entschlossener Verteidiger von allem, was er liebt und schätzt. Cadoc dagegen ist all das, was dein Vater nicht ist: gierig, grausam, selbstsüchtig und skrupellos. Ganz sicher niemand, den man seinen Kindern vorstellen will. Also vergiss ihn und lass mich dieses Flugzeug fliegen, oder du wirst die jungen Drachen niemals sehen!«
»Aber was hat dieser Cadoc Aalstrom mit den Vögeln zu tun?«
»Tu einfach so, als hättest du die Vögel nie gesehen!«, brummte Hothbrodd. »Je weniger du über sie weißt, desto besser. Und jetzt mach die Augen zu und träum von jungen Drachen. In neun Stunden sollten wir da sein. Ich hoffe wirklich, dass die Kleinen noch nicht fliegen können. Fy faen! Wenn wir diesen Teil verpasst haben, verfüttere ich deinen Vater an die Nachttrolle.«
Das klang nach keinem angenehmen Schicksal. Doch Guinever war mit den Drohungen des Trolls aufgewachsen, und sie brauchte nicht die Augen zu schließen, um von jungen Drachen zu träumen. Sie sah sie sogar in den Wolken, die vorbeizogen. Ihre Mutter Vita hatte ihr oft Geschichten von Himmelsschafen und Wolkendrachen erzählt, und Guinever hatte sich schon mit fünf geschworen, dass sie eines Tages auf einem Pegasus durch die Wolken reiten und nach ihnen suchen würde. Eines Morgens hatte ihre Mutter einen winzigen Drachen aus weißem Wollfilz auf ihren Frühstücksteller gelegt. »Damit du deinen Wunsch nicht vergisst«, hatte sie ihr zugeflüstert. »Dein Vater hat lieber festen Boden unter den Füßen, und mich hat schon immer das Wasser angezogen. Vielleicht bist du die Wiesengrund, die eines Tages den Himmel und die Luft erforscht.«
Der Filzdrache war längst nicht mehr weiß. Guinever hatte ihn zu oft in der Hand gehalten. Doch sie nahm ihn noch immer überallhin mit. Er steckte auch jetzt in ihrer Tasche. Luft … war das ihr Element? Hatte das nicht ihr drachenreitender Bruder für sich beansprucht? Oder war Feuer das passendere Element für Ben?
Vier, um sie anzukündigen, vier, um sie zu empfangen.
Wer war sie? »Ich sage es dir, sobald wir uns sicher sind. Versprochen!«, hatte ihr Vater auf diese Frage geantwortet. Der Dreckskerl, vor dem er die Schlange gerettet hat, heißt Cadoc Aalstrom … und ich verstehe, dass Barnabas euch nichts von ihm erzählt hat. Hothbrodds Worte folgten Guinever bis in den Traum, und als sie ihre Arme um einen jungen Drachen schlang, beugte sich ein Schatten über sie und entriss ihn ihr.