Anacapa

Ben hatte mit Lung gegen den Schnabel eines Greifs gekämpft und gegen Nesselbrands Krallen und Zähne. Doch bisher hatten er und sein Drache es noch nie mit Menschenwaffen zu tun gehabt. Würde Aalstrom sie benutzen? Lolas Bericht klang nicht danach, schließlich wusste er bestimmt auch, woran Barnabas Ben vor seinem Abflug erinnert hatte. »Drachenschuppen sind fast undurchdringbar«, hatte er gesagt. »Sogar für moderne Munition. Sie werden sogar immer fester, je älter Lung wird. Du kennst doch die alten Geschichten darüber, wie schwer es ist, einen Drachen zu töten.«

»Trotzdem haben die Menschen sie beinahe ausgelöscht«, hatte Ben dagegengehalten.

»Weil es so wenige von uns und so viele von deiner Art gab«, hatte Lung das kommentiert. »Hör auf, dich um mich zu sorgen, Drachenreiter.«

Das war leichter gesagt als getan. Ben fürchtete natürlich, genau wie Lola, dass Aalstrom auf die Magie des Kupfermannes setzen würde, weil er um die Festigkeit von Lungs Schuppen wusste. Doch während Lungs Pfoten eine Spur auf dem steinigen Boden von Anacapa hinterließen, spürte Ben endlich die Ruhe und Entschlossenheit, die er bisher immer empfunden hatte, wenn er mit seinem Drachen dem Bösen entgegengetreten war. Es schien so ein altmodisches Wort, aber Ben fiel kein anderes ein, wenn er an Aalstrom dachte. Doch. Er ist auch ein Idiot, dachte er, während er seinem unsichtbaren Drachen folgte. Denn was würde Aalstrom mit seiner Unsterblichkeit anfangen, wenn es ihm tatsächlich gelang, die Kapseln zu stehlen, und die Aurelia all den Zauber mit sich nahm, den sie in diese Welt gebracht hatte? Sogar der Kupfermann würde verschwinden. Na ja … das wäre vielleicht nicht das Schlechteste daran.

Marys Freundin hatte einen schmalen Strandabschnitt auf der westlichen Seite der Insel als den Ort empfohlen, an dem der Drache Aalstrom erwarten würde. Der Strand war von steilen, felsigen Klippen gesäumt, in denen sich eine tiefe Höhle verbarg. Hothbrodd und Alfonso versteckten sich bereits dort. Ben verwischte ihre Spuren, während Lung sich in den Sand legte. Er war noch immer unsichtbar, ebenso wie Ben – Marys Trank würde noch etwa eine Stunde wirken. Ben hoffte, dass Aalstrom vorher eintraf und Lung wenigstens zunächst nicht sehen würde. »Warum hoffst du das, Drachenreiter?«, hatte Lung gefragt. »Falls ich mit ihm kämpfen muss, will ich, dass er mich sieht!« Ja, Ben konnte das verstehen. Wenn er ehrlich war, wünschte er sich dasselbe.

Dennoch … Lungs Spur führte zwar gut sichtbar zum Strand hinunter, doch Ben hatte die Abdrücke in ihrer Nähe verwischt. Sollte Aalstrom ruhig raten, wo genau der Drache war.

Ben hob den Kopf. Da. War das ein Helikopter?

Er ging hinter Lung in die Hocke und tastete mit den Händen nach dem unsichtbaren Körper.

»Ja. Ich glaube, sie kommen.« Der Drache klang so gelassen, dass Ben seine Ruhe im eigenen Herzen spürte. Und ja, er hörte sie auch. Sein Gehör war tatsächlich so viel schärfer geworden. Und nicht nur sein Gehör. Seine Sinne begannen, viele Dinge auf ganz neue Art wahrzunehmen. Nicht nur Geräusche und Gerüche … sogar der Wind hatte nun einen Geschmack und sein Körper eine Kraft, die sich anfühlte, als würde Lungs Atem ihn durchströmen.

Drachenreiter.

Ja, er war bereit, Cadoc Aalstrom entgegenzutreten. Er konnte es sogar kaum erwarten.

Doch der Erste, der sich zeigte, war der Kupfermann. Ben entdeckte ihn hoch oben auf der Klippe. Er sah sogar aus der Entfernung riesig aus und starrte auf die Spur von Pfotenabdrücken herab. Er schien nicht recht zu glauben, was er da sah.

Ben spürte, dass Lung sich erhob, auch wenn er nur den Sand sehen konnte, der vom Körper des Drachen rieselte. »Ich habe noch nie ein Geschöpf wie ihn gesehen«, raunte Lung. »Er sieht aus wie die in Eisen gehüllten Ritter, die uns früher verfolgt haben.«

»Ja«, flüsterte Ben. »Ich wünschte nur, er hätte genauso sichtbare Waffen dabei.«

Es fühlte sich zu einfach an.

Er warf einen Stein in die Höhle – das Signal für Hothbrodd und Alfonso, dass ihre Feinde eingetroffen waren.

Der Kupfermann begann, die Klippe herabzuklettern – und da kam sein Herr.

Cadoc Aalstrom stand ein paar Augenblicke lang bewegungslos da und starrte auf die Spuren am Strand, bevor er dem Kupfermann folgte.

Ja, er sah tatsächlich kaum älter aus als Ben. Ein schlaksiger Junge mit kurzem blonden Haar und einer teuren Sonnenbrille. Es schien absolut undenkbar, dass er mit Barnabas zur Schule gegangen war! Er kletterte die steile Klippe mit der Leichtfüßigkeit eines Vierzehnjährigen herunter. Nur seine Kleidung deutete auf die Wahrheit hin – sie hätte einem alten Film über Elefanten- und Löwenjäger entstammen können. Das und das jungenhafte Gesicht sandten eine unheimliche Warnung aus. Ja, Cadoc Aalstrom sah wie ein missmutiger Teenager aus, doch sie würden gegen Magie kämpfen müssen. Magie, die er Fabelwesen gestohlen hatte. So wie er Lung die seine stehlen wollte. Und sein Herz.

Die zwei hatten den Strand erreicht. Der Kupfermann blieb stehen, und Aalstrom trat an seine Seite und starrte auf die Stelle, an der die Spur endete. Ganz sicher fiel ihm die Höhle auf. Vermutlich ging er davon aus, dass Lung sich darin verbarg.

Lung hatte sich aufgerichtet. Ben tat es ihm nach.

Aalstrom wandte lauschend den Kopf.

Komm näher, dachte Ben, komm näher, Cadoc! Mein Vater ist immer noch krank und schwach von dem, was du ihm angetan hast. Bringen wir es hinter uns!

Ben war immer noch überrascht, dass ihr Feind nur einen Helfer mitgebracht hatte, um einen Drachen zu jagen. Doch inzwischen spürte er die Bedrohung, die von dem gewaltigen Körper ausging. Ein Dutzend Männer hätte sich nicht halb so bedrohlich angefühlt. Der Kupfermann sah nach links und nach rechts und warf einen aufmerksamen Blick auf den Ozean, bevor er seinem Herrn voran- und auf den Drachen zuschritt, den er nicht sehen konnte.

Er nahm Lung eindeutig wahr. Selbst Ben spürte die Präsenz des Drachen so stark, dass es ihm fast den Atem nahm. So viel Kraft, so viel Leben, Fleisch, das Feuer enthielt. Es war leicht, Aalstroms Miene zu deuten, während er dem Metallmann folgte. Sein blasses Gesicht war angespannt vor Verlangen, und jeder Schritt war eine seltsame Mischung aus Eile und Zögerlichkeit.

Der Kupfermann dagegen schritt durch den Sand, als näherte er sich etwas Heiligem.

Sie blieben beide vor Lungs letztem Pfotenabdruck stehen, und erst jetzt bemerkte Ben die Tasche, die der Kupfermann über der Schulter trug. Sie war das Einzige, was er mitgebracht hatte, und Ben gefiel ihr Anblick nicht.

»Es ist mir neu, dass Drachen sich unsichtbar machen!«, rief Aalstrom dem zu, was er nicht sehen konnte. »Hat Barnabas dir das beigebracht? Oder eine der Kreaturen, mit denen er sich umgibt? Er ist so ein gutgläubiger Idiot. Zwei seiner fabelhaften Freunde haben mich besucht und mir verraten, dass du hier bist.«

Lung schüttelte sich erneut. Der Sand umgab seine unsichtbare Gestalt wie ein goldener Nebel.

»Barnabas Wiesengrund ein gutgläubiger Idiot? Du bist selbst ein Narr, wenn du das glaubst.«

Die Stimme eines Drachen hat eine ganz eigene Kraft. Ben sah, wie der Kupfermann erschauderte, als hätte seine metallene Haut plötzlich den Wind gespürt. Selbst Cadoc Aalstrom verging das arrogante Grinsen, und er machte einen Schritt zurück. Doch er fing sich schnell.

»Der Stimme hört sicher jeder zu«, sagte er. »Zu schade, dass man sie dir vermutlich nicht herausschneiden kann.«

Er gab sich große Mühe, die Begierde zu verbergen, die ihn hergebracht hatte – und die Tatsache, dass Lungs Gegenwart durchaus eine Wirkung auf ihn hatte. Er versuchte es mit einem nervösen Lachen zu überspielen und beugte sich vor, um sich den Sand von den dunklen Lederstiefeln zu wischen. Dann richtete er sich wieder auf und starrte dorthin, wo Lung im Sand stand.

»Ich nehme an, du bist einer von den Silberschuppen? Ich habe Gerüchte gehört, dass ein paar die Drachenjagden überlebt haben. Ich gebe zu, ich habe sie nicht geglaubt. Die Ritter waren vermutlich auch auf eure Herzen aus. Unbesiegbarkeit … die war damals genauso erstrebenswert wie heute. Wer weiß, vielleicht kannst du ja auch ohne Herz leben! Manche sagen, ich hätte kein Herz, und sieh mich an! Ich finde, ich sehe genauso jung aus wie dein Drachenreiter. Ist er auch hier?«

Ben spürte, dass Lung sich neben ihm regte. Und dass er zornig war.

»Du hörst dich gerne reden, Cadoc.« Ben trat aus Lungs Schatten, bevor er ihn daran hindern konnte. »Natürlich bin ich hier. Ein Drache und sein Reiter sind eine Einheit.«

Aalstrom starrte dorthin, wo er seine Stimme hörte, mit einer Mischung aus Neugier und … Ben war sich nicht sicher. Eifersucht? Furcht? »Ich nehme an, du bist nicht mehr grau und versteinert? Zu schade. Ich hätte dich in Stücke schlagen sollen!«

Lung stieß ein tiefes Knurren aus. Er wurde bereits wieder sichtbar, ganz langsam nur, aber genug, um Cadoc einen weiteren Schritt zurückweichen zu lassen. Der Kupfermann jedoch rührte sich nicht. Er starrte bloß auf die silbernen Schuppen, die nach und nach erschienen, den langen Hals, den kraftvollen Schwanz, die gefalteten Flügel.

Ben wurde auch wieder sichtbar. Es war ein seltsames Gefühl. Aber er war froh, dass Aalstrom ihn nun sehen konnte.

»Die beiden Homunkuli haben dir verraten, wo Lung ist, weil mein Vater sie darum gebeten hat«, sagte Ben. »Wir können unseren Freunden vertrauen. Kannst du das auch? Nein. Vermutlich hast du gar keine.«

»Wozu? Freunde sind maßlos überbewertet«, erwiderte Cadoc, ohne den Blick von dem Drachen zu wenden, der inzwischen vollständig sichtbar war. »Mich überrascht, dass dein Vater nicht selbst gekommen ist, um mich aufzuhalten. Überlässt er dir die Geschäfte inzwischen komplett?«

»Er wäre hier, wenn du ihn nicht fast getötet hättest.«

Cadoc lächelte das böseste Lächeln, das Ben je gesehen hatte. »Es freut mich außerordentlich, das zu hören.«

Er trat zu dem Kupfermann und legte die Hand auf die Tasche, die er trug. »Geh aus dem Weg, Drachenreiter.«

Ben antwortete ihm nur mit einem Lächeln.

Links von ihnen war Elewese aus dem Meer gestiegen. Die Delfine, die ihn begleiteten, verwandelten sich in Chumash-Männer, sobald sie an den Strand traten.

»Das ist er?« Elewese wies mit all seinen Armen auf Aalstrom. »Das ist bloß ein Junge. Holen wir ihn uns.«

Cadoc war herumgefahren, während die anderen Chumash den Kupfermann umringten.

»Das wird ja immer besser«, fauchte er. »Ein Seestern und ein paar Delfin-Männer. Ich wüsste gerne, was eure Herzen bewirken, wenn man sie zu Hackfleisch verarbeitet.«

»Dein Herz würde selbst ein Nachttroll für ungenießbar halten.« Hothbrodd war gemeinsam mit Alfonso und dreien seiner Männer aus der Höhle getreten. »Das war leichter als erwartet. Fesseln wir sie.«

»Trolle, Fischmenschen, Drachen …« Cadoc musterte sie mit spöttischer Miene. »Das ist eine Wiesengrund-Aktion, so viel steht fest.« Er sah den Kupfermann aufmunternd an. »Worauf wartest du? Dass noch mehr seltsame Wesen hier auftauchen?«

Doch der Kupfermann schien ihn überhaupt nicht zu hören. Er hatte nur Augen für Lung.

»Befreit mich, Herr der Drachen!«, rief er und ließ sich auf die Knie fallen. »Befreit mich mit Eurem Feuer!«

»Schnapp dir seine Tasche, Elewese!«, rief Ben, doch Cadoc war schneller.

»Verräterisches Stück Blech!«, schrie er und riss dem Kupfermann die Tasche von der Schulter.

Hothbrodd und Elewese versuchten, ihn festzuhalten, als er hineingriff, doch es war zu spät. Das, was Aalstrom gegen die Klippe warf, sah aus wie ein rostiges Ei. Es platzte auf, sobald es gegen den Fels prallte. Das Geschöpf, das es freisetzte, war zunächst nicht größer als ein Spatz, doch es wurde mit atemraubender Geschwindigkeit zu einem riesigen Reptil. Die kupferfarbenen Flügel waren mit Krallen besetzt, und der Schnabel war lang und spitz wie ein Degen.

Der Kupfermann verbarg sein Gesicht in den Händen, während aus dem Wesen, das er zum Strand gebracht hatte, erst zwei, dann vier, dann acht Reptilien wurden, die alle mit schrillen Schreien den Drachen angriffen.

Ben saß bereits auf Lungs Rücken, als der die Flügel ausbreitete, um ihnen in der Luft zu begegnen. Sein Feuer zerstörte drei, doch einer der Angreifer stieß ihm den Schnabel in die Schulter, direkt unterhalb des Flügels, und Ben spürte Lungs Schmerz so klar und scharf, als wäre es sein eigener.

Unter ihnen hatte Hothbrodd Aalstrom mit dem Gesicht nach unten in den Sand geworfen, und der Chumash hatte den Kupfermann gefesselt, der noch immer kniete und keinen Widerstand leistete. Aus dem zerplatzten Ei jedoch schlüpften immer mehr von den Degenschnäbeln, und sie wurden sogar noch größer als ihre Vorgänger. Ben wünschte sich selbst einen Degen oder ein Schwert, als er versuchte, sie von Lung fernzuhalten, doch ihm blieben nur seine Füße und Hände. Seine Haut schien wirklich fast so unempfindlich gegen die Schnäbel wie Lungs Schuppen, doch von Zeit zu Zeit stießen sie fest genug zu, um eine Wunde zu hinterlassen. Die Schreie, die den Schnäbeln entkamen, schmerzten – ein unerwünschter Beweis dafür, wie viel empfindlicher seine Ohren inzwischen waren, und auch wenn er Lungs Kraft und sein Feuer in den Gliedern spürte, waren es einfach zu viele Angreifer.

Hothbrodd starrte verzweifelt zu ihnen hinauf, während Alfonsos Männer Steine sammelten und die Reptilien damit bewarfen. Sie bildeten inzwischen einen dichten Schwarm, der Lung und Ben komplett umschloss, obwohl der Drache noch immer Dutzende mit seinem Feuer schmolz und weitere mit Krallen und Zähnen zerriss. Es waren so viele. Zu viele.

»Ein Wiesengrund tötet nicht!«, glaubte Ben, Barnabas’ Stimme zu hören. »Sonst werden wir zu genau solchen Monstern, wie sie es sind.« Doch als ihm erneut ein Schnabel die Haut aufriss, malte Ben sich aus, wie er Aalstrom denselben Schnabel ins Herz stieß. Obwohl Hothbrodd ihn gefesselt hatte und in den Sand drückte, sah er triumphierend zu ihnen hinauf, während seine Kreaturen Lung und seinem Reiter eine blutende Wunde nach der anderen zufügten …

Er hätte sich die Tasche greifen sollen! Lung hätte ihn an seinem dünnen Hals packen müssen! Er …

Ein weiterer Schrei zerschnitt Ben das Trommelfell. Doch dieser klang anders. Er stammte aus weit entfernten Dschungeln.

Der Schatten, der den Strand verdunkelte, war gewaltig und hatte Flügel, wie die Angreifer. Er kam aus dem blauen Himmel auf sie herab. Ben sah Federn in allen Farben der Welt, und die Freude ließ die Verzweiflung in seinem Herzen dahinschmelzen. Sie löschte sogar den Wunsch zu töten aus.

Shrii, der König der letzten Greife, kam wie ein Sturm über Anacapa. Seine Federn erfüllten den Himmel, als wäre der Regenbogen zum Leben erwacht. Er packte die Degenschnäbel und zerdrückte sie mit seinen Klauen. Lung begrüßte Shrii mit einem Brüllen, und Seite an Seite pflügten der Drache und der Greif durch den Schwarm der geflügelten Angreifer, bis der Strand mit spitzen Schnäbeln und kupferfarbenen Federn übersät war.

Waren sie lebendige Wesen?, fragte sich Ben. Oder nur künstliche Dinge, die der Kupfermann aus Lebewesen hergestellt hatte? Nun ja, auch Fliegenbein ist künstlich, Ben Wiesengrund, flüsterte eine Stimme in ihm, während er sich das Blut von den Händen wischte und den Wind von Shriis Flügelschlag auf dem heißen Gesicht spürte. Die Welt war ein so komplizierter Ort, und es war schwer zu entscheiden, was richtig und was falsch war.

Die Klauen des Greifs gruben sich tief in den Sand, als er wenige Meter neben Lung landete und die enormen Flügel faltete.

»Genau zum richtigen Zeitpunkt, mein Freund«, sagte Lung und senkte den Hals, um Shrii zu begrüßen. »Ich war noch nie so glücklich, dich zu sehen.«

»Ich bin froh, dass ich nicht später gekommen bin«, erwiderte der Greif und zupfte sich die Reste eines Schnabels aus dem Gefieder. »Ich musste durch ein paar Stürme fliegen. Und als ich ankam, waren alle so in Sorge, dass ich beschloss, besser hier nach dem Rechten zu sehen. Ich dachte, es sei unsere Aufgabe, ein paar kostbare Geschenke aus dem Ozean in Empfang zu nehmen – statt Feinde mit spitzen Schnäbeln zu bekämpfen.«

»Das ist die Aufgabe.« Ben zitterten die Knie vor Erschöpfung, als er auf den Greif zutrat. »Aber es gibt jemanden, der diese Geschenke stehlen will, und wir mussten dafür sorgen, dass das nicht passiert. Ohne dich wären wir vielleicht gescheitert.«

Hothbrodd zerrte Aalstrom auf die Füße und schüttelte ihn wie ein Kaninchen, das er gefangen hatte. »Du dachtest immer noch, dass du sein Herz kriegst, was?«, knurrte er ihn an. »Stell dir vor, ich hätte große Lust, deins an die Möwen zu verfüttern! Aber die würden wahrscheinlich tot vom Himmel fallen.«

»Troll, du stinkst!«, fauchte Cadoc ihn an. »Und deine Art werde ich ganz sicher nicht vermissen. Oder diese Freaks da.« Er nickte in Richtung der Delfinmänner und Elewese. »Ich werde die Aurelia zornig machen, nur um euch alle endlich loszuwerden! Dich zuallererst!«

Er versuchte, nach dem Kupfermann zu treten, doch Hothbrodd hielt ihn zurück.

»Ich bin sicher, dass du auch nichts dagegen hättest, wenn die Leprechauns verschwinden würden«, sagte Ben. »Wir haben dir ein Geschenk von einem mitgebracht.« Er nickte Hothbrodd zu.

Der Troll griff mit grimmiger Miene in eine seiner großen Taschen und zog einen Gürtel hervor.

»Nein!« Ben entdeckte eine Spur von Angst auf Cadoc Aalstroms Gesicht. »Hände weg von mir, ihr alle! Das wirst du bereuen, Drachenreiter!«, brüllte er. »Ich werde das Herz dieses Drachen verspeisen und mir die goldenen Augen des Greifs holen, damit ich jeden Schatz der Welt damit sehen kann!«

»Kannst du mal mit anfassen, Elewese?«, knurrte der Troll, weil sein Gefangener sich wie ein Fisch wand.

Der Seesternmann trat näher und hielt Aalstrom mit all seinen Armen fest.

»Im Wasser gehen Gerüchte um, dass du die Aurelia von Kreaturen verfolgen lässt, die Tintenfischen ähneln«, sagte er zu Aalstrom. »Und dass sie in einen ihrer Arme geschnitten haben. Fast hätte sie uns alle verbrannt. Ruf sie zurück.«

»Niemals!«, zischte Cadoc. »Ihr alle seid in ein paar Tagen nicht mehr da! Und mir bleibt alle Ewigkeit!«

»Er kann sie nicht zurückrufen.« Der Kupfermann kniete noch immer. »Keiner kann es. Er hat mir befohlen, sie so zu erschaffen.«

»Das war’s dann wohl mit deiner letzten Chance.« Hothbrodd begann, den Gürtel um Cadocs Hüfte zu legen.

»Sag deinem Vater, dass ich das letzte Einhorn getötet habe, Drachenreiter!«, schrie Cadoc, während er verzweifelt versuchte, sich aus dem Gürtel zu winden. »Barnabas hat immer nach ihnen gesucht. Jetzt gibt es sie nicht mehr! Und ihre Magie war eine echte Enttäuschung.«

Ben spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Einhörner. Ja, sein Vater hatte immer eins finden wollen.

Cadoc spuckte dem Troll ins Gesicht, als er den Gürtel des Leprechauns schloss.

Doch das half ihm nichts.

Im nächsten Augenblick ließ Elewese einen schäbigen alten Schuh in den Sand fallen.

»Guckt euch das an«, knurrte Hothbrodd, als er ihn aufhob. »Ich dachte, der würde nagelneu sein wie seine Kleider und das junge Gesicht. Hab ganz vergessen, dass Leprechaun-Magie die wahre Natur der Dinge aufdeckt.«

Er zog einen weiteren Gürtel aus seiner Tasche. »Jetzt bist du dran, Kupferkinn.«

»Warte!«, sagte Lung.

Der Drache ging langsam auf den Kupfermann zu und sah auf ihn hinab. »Was meintest du, als du mich gebeten hast, dich zu befreien?«

»Nur das Feuer eines Drachen kann den Zauber brechen, mit dem Aalstrom mich verflucht hat«, antwortete der Kupfermann.

»Tu’s nicht, Lung«, brummte Hothbrodd. »Er hat die Viecher gemacht, die dich und Ben fast umgebracht hätten. Er hat das Monster geweckt, das Barnabas krank gemacht hat, und die erschaffen, die jetzt die Aurelia verfolgen.«

Der Drache blickte noch immer auf den Kupfermann hinab. »Die sind alle in Aalstroms Kopf entstanden, Hothbrodd«, sagte er.

Dann holte er tief Luft und hüllte den knienden Mann in sein blaues Feuer.

Sobald der Drache einen Schritt zurücktrat, zerriss der Kupfermann das Seil, mit dem sie ihn gefesselt hatten. Er stieß Elewese und Hothbrodd ohne Mühe von sich, als sie ihn zu packen versuchten.

Doch dann sank er wieder auf die Knie – nicht vor Lung, sondern vor Ben.

»Ich kann die Kreaturen nicht zurückrufen, die zu erschaffen mich Aalstrom gezwungen hat, Drachenreiter«, sagte er. »Aber nimm dies, als Dank für meine Freiheit.«

Er brach sich, ohne das Gesicht zu verziehen, den kleinen Finger von der linken Hand ab und hielt ihn Ben hin.

»Das hier sollte deinen Vater heilen. Sag ihm, dass es mir sehr leidtut. Aalstrom hat mich gezwungen, die Wut des Monsters auf ihn zu richten. Aber wenn man dieses Kupfer einschmilzt und es zu einem Ring formt, den er am kleinen Finger trägt, verschwindet die Wut, die ihn verletzt hat, und der Ring wird ihn von nun an gegen solche Flüche schützen.«

Ben sah auf den Finger in seiner Hand. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Es sah aus, als hätte ihn jemand von einer Metallskulptur abgebrochen, so perfekt war er, und doch steckte eine merkwürdige Form von Leben darin, die er noch nie zuvor wahrgenommen hatte.

Der Kupfermann erhob sich und wischte sich den Sand von den Knien.

»Vielleicht kann ich euch auch bei den Kreaturen helfen, die ich am Strand ausgesetzt habe«, sagte er. »Aber ich muss euch warnen. Sie sind recht abscheulich.«