Auch an Land war die Gefahr noch nicht gebannt. Im Ge- genteil.
Cadoc Aalstrom war zwar nur noch ein schäbiger alter Schuh, als sie zu Marys Haus zurückkehrten. Doch sie alle spürten noch die Angst, die sie auf Anacapa durchlebt hatten, und die Tintenfische folgten der Aurelia weiter, bereit zum Angriff. Hatte Cadoc Aalstrom gewonnen, obwohl sie ihn gefangen hatten?
Ben kam nicht umhin, sich diese Frage zu stellen. Hothbrodd warf den Schuh in einen Metallschrank, in dem Mary ein paar Dinge vor den Bränden schützte, die ihren Berg immer wieder heimsuchten.
»Denkst du wirklich, er ist dort sicher?«, fragte Ben besorgt.
»Na ja, er ist zwar ein Schuh, aber er wird uns schon nicht davonlaufen, oder?«, erwiderte der Troll grimmig, während er die Schranktür schloss. »Keine Sorge. Leprechaun-Flüche sind sehr zuverlässig. Wir haben ihn besiegt, Drachenreiter. Aber jetzt lass Mary nach deinen Wunden sehen. Schon beeindruckend, wie gut deine Menschenhaut diesen Schnäbeln standgehalten hat. Und du hast inzwischen eine beachtliche Kraft. Das haben wir alle auf der Insel gesehen. Du wirst zu einem kleinen Drachen, Ben Wiesengrund. Vielleicht haben Lung, Shrii und du uns allen das Leben gerettet.«
Ben spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Er murmelte so etwas wie »Unsinn, das waren wir alle zusammen« und »Wir müssen immer noch die Aurelia beschützen«. Doch die Worte des Trolls machten ihn sehr glücklich, und sein Herz hatte seit Langem nicht so leicht gewogen.
Sein Vater schlief, als Ben mit Fliegenbein auf der Schulter in Marys Gästezimmer trat, um nach ihm zu sehen. Barnabas sah so friedlich aus, dass Ben ihn nicht wecken wollte, also beugte er sich nur über ihn und flüsterte: »Wir haben ihn gefangen. Und wir haben etwas mitgebracht, durch das es dir hoffentlich bald besser gehen wird.«
Mary und Alfonso versorgten gerade Lungs Wunden, als Ben wieder hinaus auf die Veranda trat. Sie verheilten bereits, ebenso wie seine eigenen.
»Drachenhaut«, flüsterte Fliegenbein ihm ins Ohr, während Mary zusätzlich zu modernen Verbänden und Desinfektionsmitteln eine Tinktur aus Alfonsos Dorf für Bens und Lungs Wunden verwandte. »Lungs Zauber lebt inzwischen auch in Euch. Ich bin so froh. Vielleicht muss ich mir jetzt nicht mehr so viele Sorgen um Euch machen.«
Der Kupfermann stand schweigend zwischen Marys Bäumen und beobachtete sie alle – mit einer Sehnsucht, die seine Einsamkeit erkennen ließ, und den Wunsch, endlich zu seinesgleichen zurückzukehren. Natürlich hatten sie den anderen erklärt, warum sie ihn mitgebracht hatten. Doch Lola, Freddie und Schwefelfell (die sich immer noch gelegentlich übergeben musste) starrten ihn unverhohlen feindselig an, seit er aus dem Helikopter gestiegen war, den Hothbrodd unbedingt selbst hatte steuern wollen.
»Bestens, alle Wunden sind versorgt«, schrillte Lola, als Mary ihr Verbandszeug zur Seite legte. »Und Aalstrom ist verleprechaunt. Darauf ein Hurra! Aber können wir jetzt über den Wespenmacher reden?« Sie wies auf den Kupfermann, der ihren Blick schweigend erwiderte. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass ihr Frieden mit ihm geschlossen habt. Habt ihr auf dieser Insel den Verstand verloren? Ich habe gerade erst die Zopfnixen und die Moosfeen befreit, die er für seinen Herrn gefangen hat. Und was ist mit Barnabas? Der kann sich inzwischen kaum noch rühren!«
Freddie nickte zustimmend, und sogar die Bläulinge applaudierten vom Dach herab, wo sie gerade Marys Regenrinnen säuberten.
Der Kupfermann hatte den Kopf gesenkt, während Lola seine Sünden aufzählte, und als Ben ansetzte, ihn zu verteidigen, hob er seine riesige Hand – die Hand, an der der kleine Finger fehlte, den er abgebrochen hatte.
»Das ist alles wahr, Ratte«, sagte er, den Blick noch immer vor Scham gesenkt. »Es ist der Fluch meiner Art, dass wir jedem Sterblichen dienen müssen, der uns in unserer unterirdischen Welt entdeckt. Manche von uns haben Glück, und ein Mensch wie er –«, er nickte in Bens Richtung, »– kreuzt dort unten unseren Weg. Ich hatte kein solches Glück.«
»Und was passiert, wenn ihr euch weigert, den willigen Diener zu spielen?« Freddie spazierte über das Geländer der Veranda, bis er vor dem Kupfermann stand. »Mein Bruder und ich haben wie du einem finsteren Meister gedient, aber sieh uns an! Wir sind klein und schwach. Das kann man von deinesgleichen wohl kaum behaupten. Ihr verfügt sogar über Magie!«
Der Kupfermann ließ noch immer den Kopf hängen. »Wir können uns nicht weigern, wenn der Fluch einmal wirkt, Homunkulus, oder unsere Magie gegen die einsetzen, die uns versklaven. Es ist, als wären sie in uns und beherrschten sogar unsere Körper. Manche von uns nehmen sich das Leben, um der Gefangenschaft zu entkommen. Aber ich habe drei Kinder und eine Frau, die auf mich warten – falls sie noch glauben, dass ich lebe. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, sie nie wiederzusehen. Mit dieser Schuld muss ich leben.«
»Aber du hättest gemeinsam mit Aalstrom dafür gesorgt, dass sie ebenfalls verschwinden!«, rief Lola. »Hast du daran gedacht, als du all die Kreaturen erschaffen hast, die ihm dabei helfen sollen?«
»Jeden einzelnen Moment, Ratte«, antwortete der Kupfermann. »Aber Aalstrom hat gedroht, sie ebenfalls zu versklaven, falls ich mich ihm durch den Tod entziehe. Und da war immer die Hoffnung, dass wir seine Taten vielleicht doch überleben.«
Lola wollte etwas erwidern, aber sie verstummte, als Ben sich erhob.
»Seht ihr, dass ihm ein Finger an der Hand fehlt?«, sagte er. »Er hat ihn sich selbst abgebrochen, um meinen Vater zu retten. Falls das nicht funktioniert, könnt ihr immer noch euer Urteil über ihn fällen.«
Der Finger schmolz, als Mary ihn in einem kleinen Topf auf ihrem Herd erhitzte. Der Kupfermann griff in das heiße, flüssige Metall und formte einen Ring daraus. Sobald Ben ihn Barnabas auf den kleinen Finger schob, begann er freier zu atmen, und nach ein paar Minuten setzte er sich auf und blickte erst den Kupfermann und dann seinen Sohn an.
»Ich glaube, du musst mir ein paar Sachen erklären, Ben«, sagte er. »Ist er hier«, er wies auf den Kupfermann, der hinter Ben in der Tür stand, »weil wir alle Cadocs Gefangene sind?«
»Nein«, sagte Ben und griff lächelnd nach seiner Hand. »Cadoc Aalstrom ist unser Gefangener. Der Plan auf Anacapa hat funktioniert, und der Gürtel des Leprechauns auch. Ach ja, und Shrii ist angekommen! Gerade rechtzeitig.«
Barnabas blickte erneut zu dem Kupfermann und dann auf den Ring an seiner Hand.
»Da habe ich wohl sehr viel verpasst«, sagte er. »Aber es klingt so, als kämt ihr sehr gut ohne meine Hilfe aus.«