Ein böses Herz

Ben wusste nicht genau, was ihn geweckt hatte. Lung schlief neben ihm, fast ebenso erschöpft von dem Kampf mit den langschnäbligen Reptilien wie er. Nur noch ein Tag. Ben musste zugeben, er konnte es kaum erwarten, dass all das vorbei war und er endlich auf Lungs Rücken klettern und die Kapsel der Aurelia nach Schottland bringen konnte.

Nur noch ein Tag.

Doch was, wenn das der letzte Tag für Lung, Fliegenbein und all die anderen sein wird?, flüsterte eine Stimme in ihm. Was, wenn der nächste Neumond Cadoc Aalstrom vom Fluch des Leprechauns befreite und alles, was von der Magie übrig blieb, die die Aurelia in diese Welt gebracht hatte, eine Kapsel war, die ihn unsterblich machte?

Unsinn!, verspottete er sich. Falls die Aurelia wirklich alles zurückfordert, was sie in diese Welt gebracht hat, werden Cadocs Tintenfische wohl kaum eine der Kapseln vor ihrem Zorn in Sicherheit bringen können!

Oder doch? In der Nacht kam man leicht auf solche düsteren Gedanken, und Ben beschloss, sie zu vertreiben, indem er ins Haus gehen und die Salbe suchen würde, die Mary ihm für seine Wunden hingelegt hatte. Fliegenbein und Freddie schnarchten in ihrem Haus vor sich hin. Es bot zumindest ein wenig Schutz auf Marys wildem Berg, und Fliegenbein hatte darauf bestanden, in Bens Nähe zu schlafen. Träumte Freddie gerade von den Moosfeen?, fragte er sich, während er sich lautlos erhob, um die Homunkuli und Lung nicht zu wecken. Ben war sicher, dass Freddie sich in eine der Elfen verliebt hatte. Die Bläulinge waren auch sehr von ihnen angetan. Nur Fliegenbein schien gegen ihre Reize immun zu sein. War sein Homunkulus je verliebt gewesen?, fragte sich Ben, während er auf das Haus zuging. Er selbst hatte sich ein paar Monate zuvor in eine von Guinevers Freundinnen verguckt. Es war so peinlich gewesen. Ein Drachenreiter zu sein, war nicht annähernd so schwierig.

Ben war überrascht, dass hinter Marys Wohnzimmerfenster eine Kerze flackerte. Aber er schöpfte dennoch keinen Verdacht, als er die Stufen zur Veranda hinaufstieg. Der Kupfermann fing mit den anderen Würmer am Strand, und Aalstrom war bloß ein Schuh in einem feuerfesten Schrank.

»Mary?« Ben öffnete die Tür und betrat das dunkle Haus.

»Wen haben wir denn da? Den Drachenreiter!«

Cadoc Aalstrom stand neben Marys Esszimmertisch, mit einer brennenden Kerze in der einen und einem kleinen braunen Schuh in der anderen Hand. Zu seinen Füßen erkannte Ben die Reste eines Pilzes, mit Schwefelfells Zahnabdrücken.

»Ich muss schon sagen, diese Gürtel sind wirklich fabelhaft«, sagte Cadoc mit leiser Stimme und grinste Ben spöttisch an. »Diese Waldkoboldin sieht so doch wesentlich besser aus. Ohne ihren schmutzigen, struppigen Pelz.« Er hielt den Schuh hoch und musterte ihn verächtlich. »Wäre sie nicht gerade hereinspaziert, hätte ich den Gürtel bei der alten Dame ausprobiert, aber das wäre weit weniger unterhaltsam gewesen. Guck nicht so überrascht! Nicht mal Kupfer weiß, dass ich mir von meinem Koch an jedem Neujahrsabend die Herzen von dreiundzwanzig roten Eichhörnchen servieren lasse. Ich kann das Rezept nur empfehlen. Es macht Menschen resistent gegen die meisten Flüche. Kupfer hat mich immer so gequält angesehen, wenn er sie für mich fangen musste. Was habt ihr mit ihm gemacht? Lass mich raten. Ihr hattet Mitleid mit ihm und habt ihn gehen lassen, stimmt’s?«

Ben starrte auf den Schuh, der einmal Schwefelfell gewesen war. »Gib sie mir!«, sagte er mit heiserer Stimme. »Gib sie mir, du mieser …«

»Mies? Fällt dir nichts Besseres ein?« Aalstrom grinste ihn erneut spöttisch an. »Verdorben? Grausam? Hinterhältig? Dein Vater hat mich mal ein Monster genannt. Aber dann entschied er, dass das eine Beleidigung für alle Monster dieser Welt sei. Ich habe es natürlich als Kompliment aufgefasst.« Er strich mit der Hand über den kleinen braunen Schuh. »Ich frage mich, was passiert, wenn man das Herz eines Waldkobolds isst. Findet man dann die seltensten Pilze?«

Er lachte.

»Gib ihn mir.« Ben streckte die Hand aus. »Wenn sie hierbleibt, lass ich dich gehen.«

»Mich gehen lassen?« Aalstrom schob den Schuh in seinen Rucksack. »Ich werde dir sagen, was jetzt passiert, Drachenreiter.«

Er warf sich den Rucksack über den Rücken und hielt die Kerze gefährlich nah an Marys Tischdecke.

»Ich verlasse diesen unerfreulichen Ort, und du bleibst, wo du bist. In diesen Bergen brennt es ziemlich schnell, sogar im Winter, und ich habe die alte Dame in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen, was ein kleines Problem für sie sein dürfte.«

Er trat langsam rückwärts auf die Eingangstür zu, den Blick auf Ben gerichtet, der von all den Gedanken, die ihm durch den wütenden Kopf schossen, wie gelähmt war.

»Sag dem Drachen, er kann kommen und mir sein Herz bringen, im Austausch gegen seine Koboldin. Aber erst, wenn ich die Kapseln der Aurelia habe.« Aalstrom stieß die Tür auf. »Wenn ihr versucht, mir zu folgen, werfe ich den Schuh in die nächste Schlucht, und die Kojoten werden ihn zerkauen, bevor der nächste Neumond den Leprechaun-Zauber löst.«

Er hielt die Kerze an Marys Gardinen. »Bis dann, Drachenreiter. Ich bin gespannt, wie gut du mit Feuer zurechtkommst!«

Die Flammen fraßen den dünnen Stoff gierig. Sie schossen zur Decke hinauf und spuckten Funken und Glut, während Aalstrom in der Nacht verschwand. Mit dem Schuh, der einmal Schwefelfell gewesen war.

Ben riss die brennenden Gardinen herunter. Die Flammen versengten ihm nicht die Haut, und er löschte sie, bevor sie Marys Haus in Brand setzten. Feuer wird dir nichts mehr anhaben können, hörte er Lungs Stimme in seinem Kopf. Nicht einmal, als er mit bloßen Händen die Glut auf dem Boden erstickte. Es dauerte trotzdem viel zu lange, bis er alles gelöscht hatte. Er stolperte zu Marys Schlafzimmertür und schloss sie mit zitternden Fingern auf. Mary stand im Nachthemd da, die Augen weit vor Angst.

»Cadoc ist entkommen!«, keuchte Ben. »Ich habe das Feuer gelöscht. Aber er hat Schwefelfell!«

Dann rannte er nach draußen. Lung und die Homunkuli schliefen noch immer. Ben hatte gar nicht bemerkt, dass er schluchzte, bis er neben seinem Drachen auf die Knie ging.

»Lung! Wach auf!«

Der Drache hob den Kopf und öffnete die Augen. Sie waren trüb vor Schlaf.

»Aalstrom hat Schwefelfell! Und ich hab ihn entkommen lassen!« Ben zitterte. Vor Angst. Vor Wut. Und vor Verachtung für sich selbst. »Ich … ich wusste nicht, was ich machen sollte. Er hatte eine Kerze, und … er hat gedroht …«

Lung war so schnell auf den Beinen, dass er Ben beinahe umgeworfen hätte.

»Schwefelfell? Er hat Schwefelfell?« Sein Drache blickte sich um und versuchte, in der kalten Nachtluft die Witterung aufzunehmen. »Steig auf.«

Er spreizte die Flügel, während Ben noch an seiner Flanke hinaufkletterte.

»Er hat den Gürtel des Leprechauns gegen sie eingesetzt. Er sagt, wir werden sie nie wiederfinden, falls wir ihm folgen.«

Fliegenbein und Freddie kamen aus ihrem Puppenhaus gestolpert und starrten zu ihnen hinauf, die kleinen Gesichter blass vor Angst.

Lung ließ ein Brüllen hören. »Natürlich finden wir sie. Und ihn.«

Eine zornrote Flamme drang aus seinen Nüstern.

»Ihr zwei geht zurück in euer Haus!«, rief Ben Fliegenbein von Lungs Rücken aus zu. »Die Kojoten sind unterwegs!«

Er sah, wie Fliegenbein Freddie mit sich zog, während der Drache mit ein paar schnellen Flügelschlägen abhob. Ben konnte Lungs Zorn in jeder Schuppe seines Körpers spüren. Er erinnerte sich nicht, ihn je so wütend gesehen zu haben.

»Aalstrom weiß nicht, wohin wir ihn gebracht haben!«, rief Ben. »Er kennt sich hier nicht aus! Aber bestimmt wird er versuchen, die Straße zu erreichen.«

Lung antwortete nicht. Er flog dicht über dem Boden, um Aalstroms Witterung aufzunehmen. Er hatte die Fährte bald gefunden, das spürte Ben. Ja, Cadoc war zur Straße gelaufen und hatte sich dann nach links gewandt, wo sie sich durch die Hügel zum Meer hinunter wand.

Er kam nicht weit.

Lung holte ihn ein, als er gerade die nächste Kurve der schmalen Straße erreicht hatte. Cadoc griff nach seinem Rucksack, als er den Flügelschlag des Drachen hinter sich hörte, doch Lung packte ihn, bevor er auch nur die Hand hineinschieben konnte. Er warf Aalstrom auf den Asphalt und stellte sich über ihn. Funken regneten aus seinen Nüstern auf Cadoc Aalstroms Kleider und Gesicht hinab.

»Du weißt nichts über das Herz eines Drachen, Mensch!«, knurrte Lung. »Sonst hättest du die Koboldin nicht angerührt.«

»Lass mich gehen, Feuerwurm!« Cadoc bemühte sich, bedrohlich zu klingen, doch seine Stimme war nicht mehr als ein schriller Schrei. Er versuchte erneut, seinen Rucksack zu erreichen. Ben kletterte von Lungs Rücken und zerrte Aalstrom den Rucksack vom Rücken. Er versuchte sich zu wehren, doch Lung presste ihn mit der Klaue aufs Straßenpflaster.

»Sonst was?«, grollte Lung und senkte den Kopf, bis Aalstrom seinen Atem im Gesicht spüren konnte. »Ich war noch nie so versucht, einen Menschen zu töten. Es wäre so einfach. So einfach, wie den Staub aus einer Moosfee zu schütteln. Aber Töten macht mir keine Freude. Es hinterlässt einen Schatten auf dem Herzen, und ich will ganz sicher nicht deinen Schatten darauf spüren.«

Aalstrom stöhnte auf, das Gesicht steif vor Wut und Angst, als der Drache die Vorderklaue enger um seine Brust schloss.

Lung sah Ben fragend an.

Er griff in Aalstroms Rucksack – und tastete nach dem Schuh. Ja, er war noch da. Ben zog ihn heraus und zeigte ihn Lung. Bloß ein kleiner brauner Schuh.

»Sie wird okay sein«, sagte er. »Ich bin ganz sicher. Der Leprechaun sagt, man muss nur das Leder polieren.«

»Ja! Überhaupt kein Grund, sich aufzuregen!«, keuchte Aalstrom. »Ich finde, sie sieht als Schuh viel besser aus.«

Lung schob seine Zähne so nah an sein Gesicht, dass sie Aalstroms Nase berührten. »Noch ein Wort, und ich töte dich. Mit Vergnügen«, knurrte er. »Hast du mich verstanden, Menschlein?«

Lung war furchterregend in seiner Wut. Selbst Ben spürte ihren Schatten, als er wieder auf seinen Rücken kletterte.

Lung klaubte Aalstrom von dem Straßenpflaster auf und spreizte die Flügel.

»Ja, Menschlein, du hast das Ehrenwort eines Drachen …«, sagte er mit bedrohlich ruhiger Stimme, »dein Leben endet heute Nacht, sollte Schwefelfell durch dich zu Schaden gekommen sein. Und nicht einmal Barnabas Wiesengrund wird dich retten können.«