Es ist schwer, sich zu konzentrieren, wenn man seinen ärgsten Feind nur einen Steinwurf entfernt gefangen hält. Selbst wenn die Aufgabe, auf die man sich vorzubereiten versucht, darüber entscheidet, ob man die meisten seiner Freunde verliert! Aalstrom begann erneut zu schreien, sobald Hothbrodd von seinem Schlafplatz auf der Veranda hinunter zum Teich stapfte, um sich zu waschen. Der Troll brauchte nicht viel Schlaf, aber an diesem Tag waren alle früh wach. Zwei von Alfonsos Männern standen bereits vor dem Schuppen Wache, als Ben aus dem Haus trat. Und die drei Kojoten, die Alfonso gebeten hatte, das Haus nachts zu beobachten, weil Lola sich noch immer Sorgen wegen des Kupfermannes machte, trotteten davon.
Hothbrodd hatte Aalstrom nach Kommunikationsgeräten abgesucht, doch er hatte nur einen Funkschlüssel für ein Auto gefunden.
»Darf ich fragen, wonach du suchst, Troll?«, hatte Aalstrom gehöhnt. »Vielleicht nach einer Fernbedienung für die Tintenfische? Für wie dumm hältst du mich? Ja, sie sind eine andere Liga als eure lächerlichen Homunkuli! Du hast dir die falschen Menschenfreunde ausgesucht, Troll! Du wirst verschwinden, und ich werde unsterblich sein!«
Ben war überrascht, dass Hothbrodd ihn dafür nicht grün und blau geschlagen hatte. »O ja, das hätte ihm gefallen!«, hatte der Troll geknurrt. »Der dumme Troll, den man mit ein paar Beleidigungen zur Weißglut bringen kann. Nein, die miese kleine Made ist keinen Troll-Schlag wert!«
Barnabas hatte Aalstrom immer noch keinen Besuch abgestattet. Ben hatte mehrmals beobachtet, wie er auf den Schuppen zuging. Doch sein Vater war jedes Mal umgedreht, bevor er die Tür erreichte.
»Falls du mit ihm reden willst …«, hatte Hothbrodd schließlich gesagt, »… ich pass auf, dass er nicht an dich rankommt.«
Doch Barnabas hatte den Kopf geschüttelt. »Nein«, hatte Ben ihn sagen hören. »Es hat keinen Sinn. Er würde mich nur wütend machen. Wir haben wichtigere Dinge zu tun.«
Und dann hatte er Ben und Hothbrodd geholfen, Alfonsos Wagen mit der Ausrüstung zu beladen, die sie brauchten, um bei Sonnenuntergang den Zugang zum Strand zu blockieren. Hoffentlich würde kein Ranger vorbeikommen und sich fragen, was das für eine Baustelle war, für die man Absperrungen brauchte und die beiden gewundenen Wege hinunter zum Strand schließen musste. Alfonso und seine Männer würden am Parkplatz aufpassen, dass niemand sie von dort oben aus beobachtete, und der Leprechaun warf gerade verzauberte Lederstücke in die Abfalltonnen, die bei jedem, der sich ihnen näherte, den unwiderstehlichen Wunsch auslösten, sofort nach Hause zu gehen. Ja, sie würden gut vorbereitet sein, zumindest an Land.
»Dein Sohn wird es noch bereuen, dass er und sein stinkender Drache mich wie einen Hasen gejagt haben! Hörst du mich, Barnabas?« Cadoc Aalstrom war inzwischen sehr heiser, doch seine Stimme war immer noch weithin zu hören.
Ben spürte den besorgten Blick seines Vaters.
»Er macht mir keine Angst, Dad!«, versuchte er ihn zu beruhigen. »Hothbrodd hat recht. Vergessen wir ihn, bis die Kapseln der Aurelia in Sicherheit sind.«
Ben glaubte Aalstroms Hass inzwischen fast schon auf der Haut zu spüren. Und eine Stimme in ihm flüsterte, dass er und Lung Cadoc Aalstrom bestimmt nicht zum letzten Mal gejagt hatten. Doch davon erzählte er seinem Vater nichts.
Er ging gerade mit Barnabas zum Haus, um etwas zu trinken, als ein großer Schatten auf sie fiel. Ben dachte zunächst, es sei Lung, doch als er sich umdrehte, erkannte er seinen Irrtum.
Er wusste sofort, dass er vor dem fabelhaften Wesen, das Alfonso als Vertreterin der Erde gewählt hatte, keine Angst zu haben brauchte – trotz ihrer enormen Größe.
Ihr Fell war schwarz, mit einer Spur von Blau, Braun und Grün, und die Krallen an den riesigen Tatzen waren links golden und rechts aus Silber. Sie verrieten, was sie war, mehr noch als ihre enorme Größe. Sie war die Bärin, aber nicht bloß eine der Schwarzbärinnen, die es in diesen Bergen nur noch vereinzelt gab. Sie war der Geist der Bären, ein Fabelwesen, das vermutlich Tausende von Jahren alt war. Freddie hatte Ben das Hörbuch geliehen, dem er auf dem Flug von Norwegen gelauscht und von dem er so viel über die Mythen dieses Landes und seine ursprünglichen Bewohner gelernt hatte. Viele der Geschichten handelten von ihr. Manche behaupteten, dass sie mit ihrem Brüllen Berge zum Erbeben bringen konnte und dass dort, wo sie mit ihren Krallen den Boden aufgrub, Quellen entsprangen. Ben glaubte sie alle, als er in ihre weisen Bernsteinaugen sah. Ihr Blick hatte aber auch etwas Schelmisches, und Ben wusste aus den Geschichten, dass die amerikanischen Ureinwohner glaubten, sie spiele gerne Streiche.
»El Brujo hat mich gebeten, herzukommen, Wiesengrund.« Ihre Stimme war tief, so tief, und warm zugleich. »Und du«, sie sah Ben an, »du bist der Junge, der auf dem Feuer reitet. Das rieche ich.«
Ben sah, dass Lung und Shrii in seine Richtung blickten. Beide breiteten ihre Flügel aus. Das Fell der Bärin sträubte sich in dem Wind, den der Greif und der Drache brachten, als sie nur wenige Schritte entfernt von ihr landeten.
Ben kam sich so klein vor zwischen den dreien – und doch fühlte er sich zugleich ganz zu Hause. Er konnte Barnabas ansehen, dass es ihm genauso ging. Im Schuppen zeterte Aalstrom seine Drohungen, doch die Bärin drehte nicht einmal den Kopf nach ihm um.
»Ich bin so froh, dass du gekommen bist«, sagte Barnabas. »So, so froh.« Seine Brille beschlug, und er nahm sie mit einem glücklichen Lächeln ab, um die Gläser an seinem Hemd zu polieren. Ben sah, wie Mary mit einer Kanne frischem Kaffee auf die Veranda trat – und erstarrte, als sie die riesige, pelzige Besucherin sah.
Neben dem Drachen und dem Greif. Feuer, Luft und Erde …
»Heute Nacht.« Shrii sagte nur diese beiden Worte, während eine warme Brise ihm das leuchtende Gefieder zauste.
»Heute Nacht«, wiederholte die Bärin, so dunkel neben den Farben des Greifs und dem Silber des Drachen. »Und sie wird einen Anfang bringen oder ein Ende. Doch wie ich höre, wird das Wasser das entscheiden.«
»Erde, Luft und Feuer werden ebenfalls dort sein.« Lung beugte den Kopf und trat näher an Bens Seite, als wäre er nicht sicher, ob er seinen Reiter nicht vielleicht doch vor der Bärin beschützen musste. »Alle vier oder keiner.«
»Alle vier oder keiner«, wiederholte Shrii.
»So wird es sein.« Die Bärin verbeugte sich, erst vor Lung, dann vor Shrii. »Ich treffe euch am Strand«, sagte sie. »Und dich auch, junger Reiter des Feuers«, fügte sie mit einem Lächeln für Ben hinzu.
Dann löste sich ihr gewaltiger Körper in einer Wolke aus schwarzer Erde auf, und der Wind und die Strahlen der Sonne trugen die Bärin davon.
»Wie viele magische Gäste bringst du mir denn noch ins Haus, Barnabas Wiesengrund?«, fragte Mary, während sie Kaffee in den Becher goss, den Barnabas ihr hinhielt. »Ich habe die Große Bärin bisher nur im Traum gesehen, und damals war ich erst sieben Jahre alt.«
»Ich habe dir auch einen ziemlich bösen Gast mitgebracht, Mary«, erwiderte Barnabas, »einen, der deine Vorhänge angezündet und dich ohne Zögern bei lebendigem Leibe verbrannt hätte.«
Mary zuckte die Schultern. »In diesem Haus ist gerade so viel Licht, dass es auch ein bisschen Schatten geben muss. Und wir wissen ja alle: Je heller das Licht, desto dunkler der Schatten. Hast du von Vita und Guinever gehört?«
Barnabas schüttelte den Kopf. Ben legte ihm den Arm um die Schultern.
»Es geht ihnen gut, ganz sicher!«, versuchte er ihn zu trösten, doch er musste zugeben, dass er sich auch langsam Sorgen machte. Sie alle machten sich Sorgen. Lola hatte die Ohren des Meeres, die Zopfnixen und Elewese gefragt. Nichts. Als hätte das Meer seine Schwester und seine Mutter verschluckt.
»Sie werden alle fort sein!«, hörten sie Aalstrom schreien. »All eure fabelhaften Freunde. Ausgelöscht. Wie der Dodo und all die anderen Biester, die man nur noch in Büchern besichtigen kann! Und eure lächerliche Zuflucht könnt ihr zumachen!«
Barnabas runzelte die Stirn.
»Hört nicht hin«, sagte Shrii. »Sonst geschieht, was er beschreibt, schon jetzt in eurem Kopf.«
»Ja, ihr könnt nicht sagen, ich hätte euch nicht gewarnt!«, schrie Cadoc Aalstrom. »Ihr könnt mir immer noch eine Kapsel geben und …«
Der Rest seiner Rede ging in Musik unter. In sehr alter Musik, denn Fliegenbein und Freddie hatten sie ausgesucht. Marys Garten war plötzlich von Cembali, Violinen und Viole da Gamba erfüllt, deren Klänge in eine andere Zeit und auf einen anderen Kontinent gehörten.
Freddie kam über den Hof gelaufen. Natürlich streute er ab und zu ein paar Tanzschritte ein.
»Ich hoffe, diese Klänge erfreuen eure Ohren!«, rief er. »Fliegenbein und ich konnten sein Geschrei nicht mehr ertragen. Hothbrodd ging es genauso, deshalb hat er uns geholfen, die Lautsprecher aufzustellen. Er wollte Heavy Metal spielen. Das hätte mir auch gefallen, aber Fliegenbein sagt, das würden seine Nerven nicht ertragen.«
Ben musste grinsen, obwohl Aalstroms Geschrei noch immer ab und zu durch die Violinen hindurch zu hören war. Und sein Vater begann, leise ein Lied zu summen.
Freddie kannte die alte schottische Melodie natürlich. Er fing an, um Barnabas herumzusteppen, und ergänzte die Worte:
When »Friendship, Love, and Truth« abound!
Among a band of brothers,
The cup of joy goes gaily round,
Each shares the bliss of others.
»Ja!«, rief Freddie und drehte sich auf seinem Silberfuß. »Wir werden immer an die Freundschaft glauben! Hörst du das, Aalstrom? Das wirst du uns niemals nehmen!«
Die Musik ertränkte Cadoc Aalstroms Antwort in Wohlklang.