Der Grund, warum niemand von Vita und Guinever gehört hatte, waren Schwarzfische. Tausende von ihnen hatten sich der Aurelia angeschlossen, und diese Schwärme – Wolken aus winzigen, tintenschwarzen Körpern – verschluckten jedes Signal, das Koo aussandte. Der Laternenfisch war sehr aufgebracht. Er hatte die Schuppen so heftig gesträubt, wie er nur konnte, um sein Signal zu verstärken und an den Schwärmen vorbei zu senden. Doch sie waren überall, und als sich Koo wieder einmal stundenlang zwischen ihnen verirrt hatte, bat Lizzie ihn, bei ihnen zu bleiben. Schließlich konnten die Kupfertintenfische sich auch allzu gut hinter den Schwarzfischen verbergen.
Sie hatten die Aurelia nicht noch mal angegriffen. Warum auch? Sie hatten erfahren, was sie wissen mussten, und ihnen war offensichtlich bewusst, dass die Kapseln noch nicht reif waren. Das würde jedoch bald so weit sein. Guinever sah sie an den Armen der Aurelia leuchten wie bunte Perlen, von dem Leben pulsierend, das sich darin verbarg – und noch immer wussten sie nicht, wie sie sie schützen sollten. Acht hatte einen Versuch unternommen, die Tintenfische zu verjagen – trotz der Warnungen der Meermenschen und obwohl Eugene ihn mit seinen Scheren gekniffen hatte, um seinen erbitterten Protest zum Ausdruck zu bringen. Es war dem Kraken auch tatsächlich gelungen, dem größten der Kupferhüte die Scheren abzureißen. Doch das hatte ihn selbst beinahe einen Arm gekostet, und sie alle hatten ihn schließlich davon überzeugt, dass das Risiko einfach zu groß war.
Das Wasser um sie her veränderte sich. Sie alle spürten die Strömungen, die erkennen ließen, dass die Küste nicht mehr weit war. Lizzie schätzte, dass es noch knapp zehn Stunden dauern würde, bis die Aurelia Südkalifornien erreichte.
Der Ozean war von ihrem Lied durchdrungen, und ihr Licht tauchte inzwischen sogar die Schwarzfische in Symphonien aus Farbe. Die Aurelia schienen die Tintenfische nicht zu interessieren, trotz deren Attacke. Hatte es für sie keine Bedeutung, ob sie die Kapseln verlor, weil sie ja ewig lebte und wusste, dass es neue geben würde? Vertraute sie auf ihre eigene Kampfkraft?
Guinever sah Furcht auf allen Gesichtern. Sogar Koo hatte einen trübbraunen Orangeton angenommen. Würden auch die Fische verschwinden? Wer alles hatte sein Leben der Aurelia zu verdanken? Das wusste niemand, weil sie die Aurelia nicht fragen konnten.
Sie waren noch etwa acht Stunden von der Küste entfernt, als Lizzie und Laimomi sie alle in sicherer Entfernung von den Tintenfischen zusammenriefen.
»Wir haben eine Idee«, sagte Laimomi. »Vielleicht ist sie dumm, aber wir sind uns sicher alle einig, dass wir etwas unternehmen müssen, bevor wir nur noch die Wahl haben, entweder von den Tintenfischen zerfetzt zu werden oder nach Neptun-weiß-wohin zu verschwinden. Inzwischen folgen der Aurelia so viele verschiedene Meeresbewohner. Über einige weiß keiner von uns etwas. Vielleicht sind welche unter ihnen, die uns helfen könnten!«
»Helfen, wie?«, signalisierte einer der Meermänner. »Indem sie die Tintenfische mit einem Stich töten?«
»Vielleicht!«, erwiderte Lizzie. »Oder indem sie sie blenden oder lähmen, wie es manche Rochen mit uns tun. Wir wissen es nicht. Also, lasst es uns herausfinden! Wir schlagen vor, jeder von uns sieht sich nach Geschöpfen um, die wir nicht kennen, und findet heraus, welche Fähigkeiten sie haben!«
»Worauf wartet ihr noch?«, signalisierte Laimomi, weil alle sie nur anstarrten. »Uns bleiben nicht mal mehr acht Stunden, und wir haben es mit vier riesigen Tintenfischen zu tun!«
Also schwammen sie los. Vita schloss sich Laimomi an, und Lizzie nahm Guinever mit, denn bei den meisten Fischen war es wirklich von Nachteil, wenn man wie ein Seehund aussah. Guinever kam sich unglaublich dumm vor, als Lizzie ihr die verschiedenen Fischarten nannte, an denen sie vorbeikamen: ein Pazifischer Geigenrochen? Hätte sie geglaubt, dass es so etwas gab? Blaustreifen-Säbelzahnschleimfische, Falterfische, Leoparden- und Engelhaie, Eidechsenfische, Plattköpfe, Dreiflossen-Schleimfische und Stachelmakrelen, Pazifikmakrelen und Adlerrochen, Riesen-Büschelbarsche, Stachelköpfe, Seepferdchen, Seenadeln, Haarschwänze … und keiner sah aus wie der andere: weder in Form, Größe noch Farbe! Verglichen mit den Meeresbewohnern erschien die Vielfalt der Landlebewesen mit einem Mal sehr begrenzt. Doch jedes Mal, wenn Guinever fragte, ob einer von ihnen im Kampf gegen die Tintenfische von Nutzen sein könnte, schüttelte Lizzie den Kopf.
Als sie sich wieder versammelten, sah keiner von ihnen hoffnungsvoll aus. Nicht einmal Acht, der eine große Auswahl von Meereslebewesen in seinen Armen hielt.
Nein, die Engelhaie würden kein ernst zu nehmender Gegner für die Kupferhüte sein, genauso wenig wie es die Rochen mit ihnen aufnehmen konnten. Es würde Dutzende von ihnen das Leben kosten, wenn sie versuchen würden, die Aurelia zu schützen. Guinever spürte ihr Selkie-Herz wie einen Stein in der pelzigen Brust. Den anderen war es gelungen, Aalstrom gefangen zu nehmen. Wie konnten sie nun scheitern, obwohl sie der Aurelia so nah waren? Guinever fühlte sich schrecklich hilflos. All der Zauber, der ihr Herz erfüllt hatte, seit sie die Selkie-Haut übergestreift hatte, wurde von der Angst aufgefressen, dass die Tintenfische angreifen könnten, sobald die Aurelia die Küste erreichte. Bevor wir nur noch die Wahl haben, entweder von den Tintenfischen zerfetzt zu werden oder nach Neptun-weiß-wohin zu verschwinden … Feuer und Tod – würde das alles sein, was die Aurelia ihnen brachte … statt Schönheit und Leben und Hoffnung? Guinever wollte Cadoc Aalstrom mit ihren Selkie-Zähnen packen und ihn …
»Ich glaube, ich habe jemanden gefunden, der helfen könnte!« Die Meerfrau, die sich aus dem Kreis der anderen löste, hatte silbernes Haar und dunkelblaue Schuppen. Ein blasser, fast durchsichtiger Fisch schwamm an ihrer Seite. Er war winzig klein und sah alles andere als Furcht einflößend aus.
»Das ist Haumea«, flüsterte Lizzie Guinever zu. »Sie kennt mehr Fischarten als wir alle. Sie beherrscht Hunderte ihrer Sprachen.«
Haumea deutete stolz auf den kleinen Fisch an ihrer Seite.
»Das ist Zishhh. Sie ist ein Leckfisch. Fast dreitausend ihrer Art folgen der Aurelia, und ich glaube, sie sind genau das, was wir suchen.«
Die anderen sahen mit skeptischen Mienen zu, als Haumea zwei große leere Muschelhälften hochhielt. Zishhh zögerte einen Moment, doch dann schwamm sie auf die linke Hälfte zu. Ihre orangefarbenen Lippen hinterließen einen silbrigen Belag auf der Oberfläche, als sie mit ihrer dünnen, spitzen Schnauze daran leckte. Zishhh schwamm zu der rechten Hälfte, leckte ebenfalls daran und versteckte sich dann schüchtern hinter Haumeas Rücken.
Die Meerfrau lächelte allen zu – und drückte die Hälften zusammen.
»Acht!«, signalisierte sie dem Kraken. »Du bist mit Abstand der Stärkste hier. Versuch, die Hälften auseinanderzuziehen.«
Acht nahm die Muschel vorsichtig aus Haumeas kleinen Händen und zog. Erst versuchte er es mit zwei Armen, dann mit vier und schließlich mit allen acht Armspitzen – doch die Hälften klebten fest zusammen.
Guinever sah, wie ein Lächeln auf den Gesichtern um sie her erschien.
»Ihre Scheren!«, signalisierte Lizzie. »Wir kleben ihre Scheren zusammen! Großartige Idee!«
»Aber Zishhh und die anderen Leckfische«, gab Guinever zu bedenken, »müssen dafür sehr nah an die Tintenfische heranschwimmen. Werden die sie nicht umbringen?«
Zishhh lugte hinter Haumeas Rücken hervor. »Wir können unseren Kleber versprühen«, erklärte sie mit einem Schauer weißen Lichts. »Und wir sind sehr klein. Sie werden uns nicht mal bemerken!«
»Es gibt nur ein Problem.« Haumeas Lichter wurden dunkler. »Damit der Kleber wirkt, müssen die Tintenfische ihre Scheren schließen, nachdem die Leckfische sie besprüht haben …«
Das Lächeln auf den Gesichtern verschwand.
»Also müssen wir ihnen etwas geben, nach dem sie schnappen können«, signalisierte Lizzie.
Sie alle blickten in Richtung der im Dunkeln lauernden Schatten.
»Na ja«, sagte Laimomi, »es sind vier Tintenfische. Wir sind zehn Meermenschen …«
»Nein!«, schrieb Guinever mit ihrer Flosse. »Nein! Ihr könnt das nicht alleine machen! Ich will helfen! Wir müssen viele sein! Um sie zu verwirren. Sie dürfen gar nicht wissen, wonach sie zuerst schnappen sollen – dann werden sie hektisch und lassen ihre Scheren zuschnappen.«
Vita war über diesen Vorschlag nicht sehr glücklich – das sah Guinever ihr an, obwohl sich die Miene einer Selkie nur schwer lesen lässt. Doch ihre Mutter protestierte nicht, denn im Hause Wiesengrund gab es einen Grundsatz, seit Guinever und Ben vierzehn Jahre alt waren: Wenn einer von ihnen bei einer Rettungsmission dabei sein wollte, durften ihre Eltern es nicht verbieten.
»Sieht so aus, als hätten wir einen Plan«, signalisierte Lizzie.
Sie fanden viele, die helfen wollten. Acht war beleidigt, als Lizzie ihn bat, sich im Hintergrund zu halten.
»Tut mir wirklich leid, Acht«, erklärte sie ihm. »Aber wenn du mitkommst, konzentrieren sich die Tintenfische auf dich, und wir müssen erreichen, dass sie wild um sich schnappen, um ihre Scheren zu verkleben.«
Guinever zählte sechsundneunzig Helfer, als sie in Richtung der Schatten aufbrachen, wo die Tintenfische sich aufhielten. Sie teilten sich in sechs Gruppen auf und näherten sich langsam, weil sie wollten, dass ihre Feinde sie kommen sahen. Die Riesenaugen mussten allein auf sie gerichtet sein, weil sie sonst die Leckfische bemerken könnten, die sich von unten zu nähern versuchten.
Guinever hielt nach den tapferen kleinen Fischen Ausschau, während sie Lizzie folgte. Doch sie machte nur ein blasses Huschen aus – so vage, dass sie nicht sagen konnte, ob die winzigen Klebefische sich wirklich den tödlichen Scheren näherten. Inzwischen drang Licht durch die zahllosen nass-salzigen Schichten des Ozeans. Die Aurelia stieg höher, weil sie sich dem Land näherten, und Guinever konnte die Tintenfische mit ihren gewaltigen Augen zum ersten Mal genauer betrachten. Ihre metallene Haut und die Scheren verrieten, dass sie künstlich veränderte Wesen waren. Sie sahen so furchterregend aus, dass Guinever der Mut verließ. Doch weder Lizzie noch ihre Helfer ließen das kleinste Zögern erkennen, während sie sich langsam, aber stetig auf die Monster zubewegten.
Lenkt sie ab! Macht, dass sie nach euch schnappen! Macht sie verrückt!
Laimomis Anweisungen waren deutlich gewesen. Sie hatte nicht erwähnen müssen, dass diese Aufgabe für einige von ihnen tödlich enden könnte. Jeder von denen, die sich den scherenbewehrten Jägern näherten, war bereit, sich selbst für die Kapseln der Aurelia zu opfern. Sie alle bewiesen durch diese Mission, dass ihnen das Leben an sich wichtiger war als ihr eigenes.
Wie seltsam, ging es Guinever durch den Kopf, während sie das Wasser mit ihren Flossen durchtrennte und ein weiteres Mal bewunderte, wie geschmeidig sich ihr neuer Körper bewegte. Wie absolut seltsam, dass Menschen sich für die höchstentwickelten Lebewesen auf diesem Planeten hielten und sich zugleich überhaupt nicht für die anderen interessierten.
Vor ihr ließ Lizzie ihre Gruppe langsamer schwimmen. Sie wollte den Leckfischen mehr Zeit einräumen. Es gab viele Scheren zu besprühen.
Langsamer … und hinter ihnen sang die Aurelia.
Ganz langsam … und die Tintenfische beobachteten sie mit ihren Riesenaugen.
»Mit dem kleinen blicken sie nach unten, mit dem großen nach oben«, hatte Lizzie erklärt, als Guinever sie fragte, warum sie unterschiedlich groß waren. »Das eine sucht die Dunkelheit ab, das andere die helleren Gewässer, deshalb sind sie so verschieden.«
Zwei der Kupferhüte schoben bereits ihre Scheren zwischen den Tentakeln hervor. Guinevers Selkie-Herz raste. Hatten die Leckfische ihr Ziel erreicht? Würde der Kleber wirklich halten?
Sie würden es bald erfahren.
»Nicht vergessen!«, hatte Laimomi sie gewarnt. »Selbst wenn wir es schaffen, ihre Scheren außer Gefecht zu setzen, sind ihre Schnäbel und Arme immer noch sehr gefährlich!«
Ja, Guinever hatte selbst beobachtet, wie der, dessen Scheren Acht abgerissen hatte, einen Hai so mühelos erlegt hatte, wie ein Mensch eine Fliege tötete. Sie tauschte einen Blick mit ihrer Mutter. Nein, Vita war eindeutig wenig begeistert, dass sie hier war, und Guinever wünschte sich ein wenig von den leuchtend gelben Lichtern, die Lizzie nutzte, um zu sagen: »Mir geht’s gut!«
Dann plötzlich – so plötzlich, dass Guinever zunächst wie erstarrt war – ging einer der Tintenfische auf die Jagd. Seine Schere schoss nach vorne, um einen Leopardenhai zu packen. Doch … sie öffnete sich nicht. Auch die zweite Schere blieb geschlossen. Dasselbe geschah bei den anderen Tintenfischen. Sie waren außer sich vor Wut. Sie umschlangen die nutzlosen Scheren mit ihren Tentakeln und versuchten, sie mit ihren Schnäbeln zu öffnen.
Rückzug!, signalisierte Laimomi.
Doch die Tintenfische folgten ihnen, wutentbrannt und mordlüstern. Viele fielen ihren Schnäbeln und ihren verklebten Scheren zum Opfer, die die Tintenfische wie Keulen einsetzten und mit schrecklicher Wucht kreisen ließen. Manche gerieten in Panik und kamen den Saugnäpfen zu nah. Acht war es, der sie schließlich rettete. Er nahm den Kupferhüten mit einer Wolke blauer Tinte die Sicht. Und dann packte er sie. Diesmal hatten sie keine Scheren, um in seine mächtigen Arme zu schneiden. Der Große Krake knotete ihre Tentakel zusammen, bis sie hilflos im Wassser trieben, und katapultierte sie in den Abgrund hinab. Einen nach dem anderen. Als Acht auffiel, dass der Tintenfisch, dessen Scheren er abgerissen hatte, nicht dabei war, war es schon zu spät. Ein Teleskopfisch entdeckte ihn in der Ferne, und eine Gruppe Haie nahm die Verfolgung auf. Doch weder sie noch der Tintenfisch kehrten zurück.
Und die Aurelia war nur noch sechs Stunden von der kalifornischen Küste entfernt.