Zu gut, um wahr zu sein

Als Junge war Cadoc Aalstrom oft mit seinem Großvater in den Zoo gegangen. Eines Tages – sein Großvater erinnerte sich später nicht gern daran – hatten sie auf der Bank vor dem Tigergehege gesessen, und Cadoc hatte sich gerade gefragt, was so interessant an einer sehr gelangweilten riesigen Katze war, als ihm klar geworden war, dass sein Großvater nicht den Tiger beobachtete. »Siehst du ihn?«, hatte er geflüstert, als er Cadocs Blick bemerkte. »Sie sind sehr gut darin, sich zu verstecken.« »Wer?«, hatte er zurückgefragt, und sein Großvater hatte sein Augenmerk auf den Wassernapf des Tigers gelenkt. »Du musst lange hinsehen. Ohne es ihn merken zu lassen«, hatte sein Großvater geraunt. »Sie alle sind Meister der Tarnung.« Cadoc hatte gehorcht, und dann … nach einer schier endlosen Zeit, wie es ihm damals erschienen war, hatte er zum ersten Mal einen von ihnen gesehen. Fabelwesen. Der im Tigergehege war ein kaum daumengroßer Wichtel gewesen, der dem Tiger winzige Fetzen seiner Fleischmahlzeit stahl. »Ist er nicht wunderbar?«, hatte sein Großvater geraunt. »Sie sind überall, aber die meisten Menschen bemerken sie nicht.« Cadoc hatte schon damals gewusst, dass er sie alles andere als wunderbar fand. Sie erfüllten ihn mit Abscheu, all die Wichtel und Goblins, Elfen und Nixen, die sich in dieser Welt tummelten. Sein Großvater hatte das bald begriffen und sehr bereut, dass er ihm den Wichtel gezeigt hatte. Aber Cadoc war ihm dankbar, auch wenn sie ihn immer noch anekelten. Denn er hatte schnell herausgefunden, dass man ihre Magie für viele Zwecke nutzen konnte: Ob Reichtum oder Macht … die abscheulichen Geschöpfe konnten einem vieles bescheren, sogar ein wesentlich längeres Leben.

Cadoc war inzwischen fünfundvierzig Jahre alt, aber das ahnte niemand, der ihn sah. Das Leben hatte nicht eine Falte auf seiner blassen Haut hinterlassen, und seine blassblonden Haare zeigten keine Spur von Grau. Nein. Cadoc Aalstrom hatte immer noch den schlanken Körperbau und das glatte Gesicht eines vierzehnjährigen Jungen. Das hatte er einer seltenen Feenart zu verdanken. Die Magie von Moosfeen ließ die Jahre dahinschmelzen wie Butter in einer heißen Pfanne. Das funktionierte allerdings nur, solange man Sonnenlicht mied, weshalb sich die meisten Räume seiner Festung unter der Erde befanden. Doch wer wollte schon da draußen sein? Das Draußen war dreckig, meistens entweder zu heiß oder zu kalt und voll von pelzigen, fedrigen, schmutzigen Kreaturen …

Cadoc runzelte die Stirn und starrte auf den Bildschirm seines Computers. Darauf waren die Grundrisse der neuesten Erweiterungen zu sehen, die er seiner unterirdischen Festung hinzufügen wollte. Er genoss es, die langen, hell erleuchteten Korridore entlangzugehen, von denen die klimatisierten Lagerräume abgingen, angefüllt mit Schuppen, Hörnern, Knochen und anderen Artefakten, die angeblich irgendeine Art von Magie enthielten. Viele hatte er noch nicht durchschaut, aber es konnte nicht schaden, sie zu besitzen. In jedem Raum seines Hauses hingen Gemälde (sehr große Gemälde), auf denen zu sehen war, wie er Elfen, Wassermänner und andere Monstrositäten fing. Es war sehr befriedigend, sich so von Zeit zu Zeit daran zu erinnern, wie erfolgreich er dabei war, ihre Magie zu stehlen.

O ja, er hatte seinen Spaß.

Spaß. Worum sonst ging es im Leben? Spaß war das Einzige, was Cadoc das leere Herz füllen konnte. Es war schon immer leer gewesen. Bis auf einen unstillbaren Hunger – zu besitzen, zu beherrschen, sich einzuverleiben, was immer die Welt zu bieten hatte. Und manchmal auch zu zerstören. Ja, bisweilen konnte das sehr befriedigend sein.

Cadoc legte die Füße auf den Schreibtisch und betrachtete liebevoll seine maßgefertigten Schuhe. Was für ein Leder war das? Kelpie? Wassermann? Er hatte es vergessen. Egal. Sie waren absolut wasserdicht. Er zog einen kleinen Spiegel aus der Westentasche und inspizierte sein Gesicht. Ja. Vierzehn. Kein Jahr älter. Er lächelte sich selbst zu – und runzelte die Stirn. War das etwa die Spur einer Falte, neben seiner Nase? Er würde Kupfer losschicken müssen, um frische Moosfeen zu fangen. Er mochte es, wie vierzehn auszusehen. Das war das perfekte Alter.

Apropos Kupfer … das Klopfen an der Tür klang metallen.

»Komm rein.«

Der Mann, der eintrat, passte kaum durch die Tür des großen, fensterlosen Raumes. Das elektrische Licht ließ seine rostrote Haut schimmern wie poliertes Metall. Sie hatten ihn entdeckt, als sie die Tunnel für die südlichen Korridore gegraben hatten. Natürlich war Cadoc der Einzige gewesen, der ihn entdeckt hatte – trotz seiner enormen Größe. Sein tatsächlicher Name war endlos lang und so gut wie unaussprechlich, also nannte Cadoc ihn bloß Kupfer. Er war unglaublich stark und gab einen guten Bodyguard ab, doch was noch wesentlich nützlicher war: Kupfermenschen waren sehr einfallsreich, wenn es darum ging, existierende Lebensformen zu verbessern. Ihre Magie brachte Erstaunliches zustande, was Effizienz und Gefährlichkeit betraf. Außerdem hatte Kupfer, obwohl selbst ein Fabelwesen, weder Pelz noch Schuppen. Eine Eigenschaft, die Cadoc sehr zu schätzen wusste.

»Hat sich die Sache mit den Vögeln bestätigt?«

»Ja. Sie bilden eine Blume, wie Ihr es vorhergesehen habt.«

Cadoc nahm seine polierten Schuhe vom Tisch und erhob sich aus seinem weißen Ledersessel. Aaah, da war er wieder, der stechende Schmerz in seiner Seite. Nach all den Jahren spürte er noch immer das Gift der verdammten Himmelsschlange, wenn er eine hastige Bewegung machte. Oder sich allzu sehr über etwas aufregte.

Sie bilden eine Blume …

War es wirklich möglich? Hatte sie sich wirklich aus den Abgründen des Meeres erhoben, die Kreatur, an deren Existenz er nie geglaubt hatte? Falls ja, würde er bald keine Moosfeen mehr brauchen! Die größte Magie, die es auf diesem Planeten gab, würde ihm gehören, ihm allein. Cadoc Aalstrom, unsterblich und ewig jung … Vermutlich würden sie ihm einen Tempel errichten. Welche Opfer würde er verlangen? O ja. Das würde unterhaltsam sein. Zumindest für eine Weile.

»Da ist noch etwas, Herr.« Kupfer war offensichtlich unwohl dabei, die nächste Nachricht zu überbringen. »Die Wachen haben die Ratte gesehen. Die fliegende Ratte.«

»Wo?«

»In einem der nördlichen Gänge.«

Nein! Wie war sie diesmal hereingekommen? Cadoc spürte erneut das Gift der Himmelsschlange, Erinnerung an die bislang demütigendste Niederlage, die ihm der Mann beigebracht hatte, dem die dreckige Ratte diente.

Barnabas Wiesengrund …

Nein! Denk nicht an ihn, Cadoc. Falls die Kreatur, die die Vögel ankündigten, sich tatsächlich erhob und er ihre Magie stahl, konnte das das Ende für all die bedeuten, die Barnabas Wiesengrund und seine FREEFAB-Freunde beschützten. Keine schlechte Aussicht! Es würde eine solche Erleichterung sein, sie nicht mehr überall sehen, riechen und herumrascheln hören zu müssen! Und sie nicht mehr zu brauchen, weil die, die sie alle in die Welt gebracht hatte, ihm ihren Zauber überlassen würde.

Ja, es war fast zu schön, um wahr zu sein!

Cadoc summte die ersten Takte von »Paff, der Zauberdrache« und ging zu dem Käfig, der an einer silbernen Kette von der Decke hing. Darin steckten sechs Moosfeen, mit grüner Haut und Flügeln, die in allen Farben des Regenbogens schillerten. Cadoc zog sich Lederhandschuhe über die schlanken Finger, bevor er den Käfig öffnete. Die Zähne der kleinen Biester waren spitz, doch ihr Staub würde die Falte glätten, die die Erwähnung der Ratte in seine Haut gekerbt hatte. Er packte eine an ihren dünnen grünen Beinen und zog sie aus dem Käfig. Die anderen griffen ihn an, doch ihre Zähne drangen nicht durch das Leder der Handschuhe.

Cadoc schüttelte die Moosfee, bis er ein kleines Glas mit ihrem silbrigen Staub gefüllt hatte. Kupfer sah ihm ausdruckslos zu. Der Dummkopf warnte ihn immer wieder davor, sie zu oft zu schütteln. Sie brauchten mehrere Tage, um sich zu erholen. Und? Er würde ihn ausschicken, neue zu fangen. Cadoc stieß das Flatterding zurück in den Käfig und ließ ihren Staub in einen Becher rieseln.

O ja, er war sicher, dass die Ratte für Barnabas arbeitete. Wer sonst würde ein so widerliches Wesen für sich spionieren lassen? Cadoc hatte Barnabas Wiesengrund von dem Moment an gehasst, in dem er in sein Klassenzimmer getreten war. Der Neue! Frisch von irgendeiner Provinzschule in Schottland. So klug und so bescheiden, immerzu großmütig, immerzu lächelnd. Schon an seinem zweiten Tag hatte Barnabas den Nerd mit der dicken Brille vor ihm beschützt. Und die Rothaarige mit der Zahnspange. Ja, das waren Freunde, wie Barnabas sie mochte. Wie hieß noch gleich der Klotz von einem Māori? Er hatte Barnabas sicher schon von den Vögeln erzählt.

Ja …

Cadoc goss heißes Wasser über den Feenstaub.

Er hatte in der Nähe eines leer stehenden Hauses Grasfeen gejagt, nur wenige Straßen von der Schule entfernt, als er herausgefunden hatte, dass auch Barnabas Wiesengrund sie bemerkte. All die Gnome und Feen und Nixen …

Wiesengrund hatte ihn dabei erwischt, wie er einer Elfe einen Flügel ausgerissen hatte. Na und? Elfenflügel verliehen einem für ein paar Minuten die Gabe zu fliegen! Barnabas hatte die Rothaarige dabeigehabt, Lizzie Persimmons. Cadoc erinnerte sich noch gut an den Ekel und die Verachtung in ihren Augen.

Nun … Lizzie Persimmons gab es nicht mehr. Weil sie sich in den Kopf gesetzt hatte, eine Meerfrau zu retten, der er ein paar von ihren geschuppten Fingern hatte stehlen wollen. Die Schwimmhaut zwischen ihnen machte es Menschen angeblich möglich, unter Wasser zu atmen. Er hatte die Finger leider nicht bekommen. Die Meerfrau war ihm dank Lizzie entwischt, aber ihrer Retterin war der Sog der Bootsschraube zum Verhängnis geworden. Lizzie Persimmons war in den Wellen verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Und Barnabas hatte sie nicht retten können, obwohl er sein Leben riskiert hatte.

Doch er hat viele andere gerettet, hörte Cadoc es in seinem leeren Herzen flüstern. Er runzelte die Stirn und nahm einen Schluck von dem Feenstaubtrank. Leider konnte man damit keine lästigen Gedanken auslöschen. Das vermochte nur Einhornblut. Aber tja …, die Einhörner gab es auch nicht mehr. Cadoc hatte das letzte eigenhändig getötet – um anschließend herauszufinden, dass ihre pulverisierten Hufe keine Unverwundbarkeit verliehen, wie es so viele Sagen behaupteten. Das war eine ziemliche Enttäuschung gewesen.

Was machst du da? Siehst du nicht, wie viel du von ihnen lernen kannst, Cadoc? Bis heute hatte er die Verachtung von Barnabas’ Stimme im Ohr. All die Geschichten, die sie inspirieren, all die Verzauberung, die Freude und die Hoffnung, die es uns gibt, von ihnen zu träumen! Fabelwesen sind die Übersetzer zwischen uns und allen anderen Bewohnern dieser Welt. Ja, solche Predigten konnte Barnabas Wiesengrund stundenlang von sich geben, während Lizzie ihm zulächelte und so viele andere bewundernd mit dem Kopf nickten.

Cadoc leerte den Becher.

Er war so viel besser als sie alle. Besser, schlauer, reicher (na ja, dank eines skrupellosen Vaters und einer ebenso gewissenlosen Mutter, aber wen interessierte das).

Er ging zum Schreibtisch zurück und langte spielerisch nach dem Spray, das immer neben seinem Computer stand.

»Ich will diese Ratte tot sehen, Kupfer.«

»Ja, Herr.«

Die glänzenden Augen füllten sich mit Furcht. Kupfermenschen reagieren empfindlich auf Salz. Und auf alles Saure. Deshalb hatte Cadoc immer eine Sprühflasche parat, die Salzwasser versetzt mit etwas Zitronensaft enthielt – ein einfaches Mittel, dafür zu sorgen, dass Kupfer sich elend fühlte, wenn er mit ihm unzufrieden war. So wie jetzt. Doch Cadoc stellte die Flasche zurück an ihren Platz. Sein Verstand war zu sehr damit beschäftigt, über die Vögel nachzudenken.

»Geh«, sagte er. »Das, was in Neuseeland geschehen ist, wird noch drei weitere Male geschehen. Finde heraus, wo genau.«

Der Kupfermann nickte und verschwand durch die Tür. Seinesgleichen bewegte sich erstaunlich geschmeidig und lautlos angesichts seiner Größe.

Als er fort war, ging Cadoc zurück zu dem Käfig und sah zu, wie die Feen panisch umherflatterten, während er mit den Fingern über die Gitterstäbe strich.

Sie erhob sich.

Ja!

Er würde ihr stehlen, was sie aus der Tiefe heraufbrachte. Und wer weiß, vielleicht würde das auch das Ende bedeuten für Barnabas Wiesengrund und all seine Mühen, seine fabelhaften Freunde zu beschützen.

Cadoc schüttelte den Käfig und beobachtete, wie die Feen gegen die Gitterstäbe taumelten.