Es waren nur noch wenige Stunden bis zum Sonnenuntergang – und sie hatten noch immer nichts von Lizzie oder Vita oder Guinever gehört. Was, wenn die Tintenfische die Kapseln stehlen würden, bevor Lung und Shrii sie an sich nehmen konnten? Was, wenn sie Acht angriffen? Was, wenn die Bärin mit ihren mächtigen Tatzen vergeblich in die Wellen greifen würde?
Was dann?
Ben konnte nicht anders, als sich solche törichten Gedanken zu machen, während er Alfonso half, die letzten Absperrungen auf den Pick-up zu laden und ein letztes Mal zu prüfen, ob sie alle notwendigen Bauschilder und die Ketten dabeihatten, mit denen sie die Zugänge zum Strand absperren wollten. Nicht, dass sie in den letzten paar Tagen viele Menschen dort unten gesehen hätten. Zum Glück hatte die Aurelia entschieden, im Winter zu kommen. Und was die Fenster der Häuser betraf, die auf den Ozean hinabblickten … sie konnten nur hoffen, dass niemand mitten in der Nacht hinausblicken würde, denn das Licht der Aurelia würde bestimmt zu sehen sein. Elewese hatte die Seevögel gebeten, die Häuser zu umschwärmen, wenn sie auftauchte, und Lola und Hothbrodd hatten eine Art Nebelmaschine gebaut, die sie an der Klippe aufstellen würden, um die Sicht noch mehr zu behindern. Mehrere See-Elefanten hatten sich dem Schutzring angeschlossen, den Elewese und die Delfinmänner für die Aurelia vorbereiteten. Die Pelikane und die Kormorane würden ihre Ankunft aus der Luft bewachen. »Bei den Möwen bin ich mir nicht so sicher«, hatte Lola gesagt. »Sie sind Räuber. Etwas zu beschützen, finden sie nicht sonderlich interessant.« Es war, als würden sie ein Puzzle zusammenfügen, um der Aurelia einen friedlichen Empfang zu garantieren. Wenn nur ein Teil fehlte – nur ein einziges –, würde das ganze Unterfangen scheitern. Und es fehlten noch einige.
»Fort! Fort! Fort! Bald sind sie alle fort!«, sang Aalstrom in seinem improvisierten Gefängnis. »Aber meine Tintenfische hat sie nicht gemacht, und sie werden mir die Kapseln stehlen! Schnipp-schnapp!«
Er krächzte inzwischen mehr, als dass er sang, sodass man ihn kaum noch verstehen konnte. Das »Fort! Fort! Fort!« mischte sich mit Drohungen, höhnischen Beleidigungen und wütendem Geschrei. Mary hatte Aalstrom trotzdem etwas zu essen gebracht, unter den aufmerksamen Augen von Alfonsos Männern. Er hatte es ihr gedankt, indem er ihr den heißen Tee über die Hände geschüttet hatte.
»Dieser Sohn von dir, Barnabas …«, hörten sie ihn krächzen, »… ist dir klar, dass der auch verschwinden wird? Das Feuer, das ich gelegt habe, konnte ihm nichts anhaben, stimmt’s? Der hat schon so viel Drache in sich, dass er nun einer von euren fabelhaften Freunden ist! Fort, fort fort!«
»Barnabas, tu’s nicht«, knurrte Hothbrodd, als dieser letzte Ausbruch Bens Vater schließlich doch dazu brachte, auf den Schuppen zuzumarschieren. »Er spielt mit dir.«
»Hothbrodd hat recht.« Ben stellte sich seinem Vater in den Weg. »Lass mich da reingehen! Bevor«, er zwinkerte Barnabas zu, »ich mich in Luft auflöse?«
Sein Vater sah ihn schweigend an.
»Ich muss mich wohl an den Gedanken gewöhnen, dass meine zwei Kinder inzwischen ziemlich erwachsen sind«, sagte er schließlich. »Ja. Rede du mit ihm, aber Hothbrodd und ich sehen zu.«
Lungs Blick folgte Ben, als er auf den Schuppen zuging, doch sein Drache versuchte nicht, ihn aufzuhalten. Rogelio, der die Tür bewachte, sah Alfonso fragend an, bevor er sie aufsperrte.
Cadoc hockte auf einer Kiste im hintersten Teil des Schuppens. Er blinzelte, als das Licht hereinfiel und Ben durch die Tür trat. Sein Vater wartete vor der Tür, gemeinsam mit Hothbrodd.
»Wenn du irgendwas versuchst, Aalstrom«, knurrte der Troll, »brech ich dir den Hals wie einen dürren Zweig.«
Aalstrom blickte ihn nur feindselig an.
»Hallo, Barnabas!«, sagte er mit seiner wund geschrienen Stimme. »Lange nicht gesehen. Das heißt, ich hab dich schon gesehen, aber da warst du aus Stein!« Er lachte und nickte in Bens Richtung. »Versteckst du dich hinter deinem Sohn? Hast du dich schon von ihm und all deinen fabelhaften Freunden verabschiedet?« Er blickte zu Ben. »Habt ihr ihnen erklärt, dass sie alle verschwinden, nur weil ihr mir keine der Kapseln geben wollt? Die noblen Wiesengrunds – ihre Retter und Vernichter! Ich wäre schon mit einer Kapsel zufrieden!« Die Heiserkeit machte es ihm nicht leicht, aber er tat sein Bestes, wie ein zahmes Kätzchen zu schnurren. »Ja, wirklich! Lasst mich runter ans Meer, und ich rufe die Tintenfische zurück! Es findet sich sicher ein Weg!«
Ben hörte, wie sein Vater hinter ihm tief Luft holte.
»Da sind schon ein paar Falten in deinem Gesicht, Cadoc«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme. »Du wirst ohne die Moosfeen schnell altern … Ich überlasse ihn dir, Ben.«
Dann wandte er sich um und ging davon, während Hothbrodd vor der geöffneten Tür stehen blieb.
»Du kannst nicht ernsthaft denken, dass wir dir auch nur ein Wort glauben, oder?«, sagte Ben mit ruhiger Stimme, obwohl er sein eigenes Blut in den Ohren rauschen hörte. »Also, was soll das ganze Geschrei? Niemand kann die Tintenfische zurückrufen. Der Kupfermann hat uns das sehr überzeugend versichert. Aber wir werden einen Weg finden, die Aurelia vor ihnen zu beschützen. Die Würmer haben wir schließlich auch gefangen. Also, spar dir das Geschrei. Du wirst noch deine Stimme verlieren.«
Ben trat zurück, ohne Aalstrom aus den Augen zu lassen. Er war niemand, dem man den Rücken zukehrte.
»Mein Vater hat recht«, sagte er. »Du siehst wirklich schon etwas angewelkt aus. Ich bin gespannt, wie alt du sein wirst, wenn wir vom Strand zurückkehren.«
»Geh und lös dich in Luft auf, Drachenreiter!« Aalstroms fahle Haut färbte sich rot vor Wut. »Du kommst nicht zurück, und dein Feuerwurm auch nicht.«
»O doch, das werden wir«, sagte Ben. »Schon allein, um dein knittriges Gesicht zu sehen.«
Cadoc fletschte die Zähne wie ein wütender Hund.
»Falls du tatsächlich zurückkommst, wirst du es bereuen! Ich werde dich jagen. Dich und deinen Drachen. Bis mir mein Koch ein Herz auf einem Teller serviert!«
»Meinen Drachen?« Ben trat zurück in den Schuppen, obwohl Hothbrodd ihn mit einem Grunzen zu warnen versuchte. »So siehst du die Welt, ja? Alles ist Besitz, nichts weiter, und gehört dir oder jedem, der nur schnell genug zugreift. Ich warne dich: Wenn du noch einmal versuchst, meinem Vater etwas anzutun, oder meine Mutter bedrohst, meine Schwester oder irgendeinen meiner Freunde, dann finde ich dich, und Lung und ich werden dich wieder wie ein Kaninchen jagen. Und dann stecken wir dich in einen Käfig, wie du es mit den armen Moosfeen getan hast, und du wirst darin alt werden, verrunzelt und hilflos …«
Cadoc sprang mit geballten Fäusten auf ihn los, doch Ben stieß ihn zurück, zwischen Marys Obstbaumnetze und leere Blumentöpfe. Er spürte seine eigene Kraft wie ein schlafendes Tier in sich, während Cadoc versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. Es war ein erregendes und zugleich beängstigendes Gefühl.
»Du hast recht. In mir steckt inzwischen sehr viel Drache«, sagte Ben. »Also versuch das besser nicht noch mal. Wir sehen uns am Morgen.«
»Du bist tot, Drachenreiter!«, krächzte Aalstrom ihm nach, als er den Schuppen verließ. »Du und dein dreckiger Drache! Ich werde euch vernichten! Ich werde alles zerstören, was dir wichtig ist! Ich finde deinen Feuerwurm und lasse dich zusehen, wenn ich ihm das Herz rausschneide! Ich finde eure fabelhafte Zufluchtsstätte und brenne sie nieder! Nein, warte. Ich setze den Basilisken auf die Fährte deiner Schwester an!«
Hothbrodd schloss die Schuppentür, bevor Ben umdrehen und erneut hineingehen konnte.
»Es reicht, Drachenreiter«, knurrte er. »Du kannst dich mit diesem søppel schlagen, wenn die Kapseln in Sicherheit sind.«
»Søppel?«
»Abfall. Auf Norwegisch«, erwiderte der Troll.
»¡Vamos, amigos!«, rief Alfonso aus seinem Pick-up. »Tenemos que dar la bienvenida a un invitado muy importante. Drei meiner Männer passen auf den Gefangenen auf. Gemeinsam mit einem Rudel Kojoten und …«
»Hey! Hier ist eine Klapperschlange!«, hörten sie Aalstrom schreien. »Die ist gerade aus einem Topf gekrochen! Wollt ihr mich umbringen?«
»¡No se preocupe, Señor!«, rief Alfonso in Richtung des Schuppens. »Ich habe sie dort ausgesetzt. Sie heißt Hutash und wird dir nichts tun. Solange du ihr nichts tust. Oder zu fliehen versuchst.«
Jetzt herrschte Stille. Doch sie triefte von Cadoc Aalstroms Hass auf sie alle.