Warten. Das war alles, was sie jetzt noch tun konnten. Ben hörte Manannan auf dem Parkplatz bellen – das Zeichen, dass keine Autos mehr dort oben waren. Die Absperrungen und die verzauberten Abfalleimer hatten ihre Aufgabe erfüllt, und auf der Klippe über ihm ließen sich immer mehr Vögel auf den Hausdächern nieder. Sie warteten ebenfalls – auf die erste Spur von Licht unter den Wellen. Doch das Meer war noch immer dunkel wie der Himmel, bis auf das silbrige Licht, das der Mond darauf goss.
Lung und Shrii hielten sich am Fuß der Klippe verborgen, mit Schwefelfell, Lola und Hothbrodd, während die Bärin bei Alfonso und Mary stand. Ihre Gestalt verschmolz mit dem dunklen Stein, an dem sich die Wellen brachen. Die Vertreterin der Erde war kleiner als der Drache und der Greif, doch Ben spürte ihre Kraft so deutlich wie die des Windes und der Wellen.
Seine Eltern saßen ein paar Schritte entfernt nebeneinander im Sand. Jeder konnte sehen, wie erleichtert sein Vater war, seit Vita zurück war – und wie besorgt, weil sie Guinever nicht mitgebracht hatte. Ben konnte es kaum erwarten, die Geschichten zu hören, die seine Schwester aus den Tiefen des Meeres zurückbrachte – aber er würde lange darauf warten müssen, denn er würde die Kapsel der Aurelia zusammen mit Lung nach Schottland bringen. Die Wochen in der Drachenhöhle und der Kampf auf Anacapa … beides hatte Ben gezeigt, dass er nicht mehr von Lung getrennt sein konnte. Der Drachenreiter musste an der Seite seines Drachen sein – auch wenn er seine Menschenfamilie vermissen würde. Sehr sogar. Etwas hatte sich in ihm geöffnet, das sich nicht wieder schließen ließ. Als machte jeder Ritt auf seinem Drachen sie beide ein Stück mehr zu einem Teil des anderen. Wohin würde das noch führen? Er konnte es nicht erwarten, mit Guinever darüber zu reden. Sie hatte eine noch wesentlich tiefgreifendere Verwandlung erlebt, indem sie eine ganz neue Gestalt angenommen hatte. Würde er sich das je trauen? Vielleicht. Aber sicher nicht mithilfe einer Selkie-Haut. Von manchen Stämmen auf diesem Kontinent hieß es, sie könnten sich in Habichte und Adler verwandeln. Das würde ihm besser gefallen. Natürlich! Er konnte hören, wie Guinever über ihn lachte. Du bist Feuer und Luft, Bruder. Und sie? … Würde sie Wasser und Erde sein?
Warten …
Derog Shortsleeves war noch nicht hinunter zum Strand gekommen. Vermutlich bewachte er immer noch den Parkplatz. Ben war sicher, dass der Leprechaun großen Spaß daran hatte, nichts ahnende Spaziergänger zu verscheuchen.
»Die Aurelia müsste bald hier sein, oder?«, fragte er Fliegenbein, der fröstelnd auf seiner Schulter saß.
»Sehr bald, Meister.«
Freddie tanzte auf dem mondbeschienenen Sand, zu einem Lied, das nur er hören konnte. Oder tanzte er vielleicht zum Murmeln des Meeres? Bei Freddie wusste man das nie so genau. Er tanzte zum Klang der Regentropfen, die gegen ein Fenster prasselten, zum Blubbern von kochendem Wasser in der Küche oder zum Rascheln der Seiten, wenn Fliegenbein ein Buch las. Vielleicht hatte der Alchemist Freddie mit dem Lebensfunken einer Grille erschaffen!
Ben hörte die Schritte großer Tatzen hinter sich. Sehr vertraute Schritte.
»Ich habe mich gerade von deinen Eltern verabschiedet«, sagte Lung. »Vielleicht solltest du das auch jetzt tun? Wir brechen auf, sobald die Aurelia ihre Kapseln freigibt, und wir werden lange fort sein. Erst Schottland, dann zum Saum des Himmels … es sei denn, du hast anders entschieden und willst, dass ich dich in MÍMAMEIÐR absetze, bevor ich nach Hause fliege.«
Ben schüttelte den Kopf. »Nein, ich hab mich nicht umentschieden. Und ich hab ihnen schon gesagt, dass ich dich begleite. Aber ja …« Er blickte sich zu Barnabas und Vita um. »… ich sollte mich wohl wirklich schon jetzt verabschieden.«
Fliegenbein räusperte sich, als Lung in den Schatten der Klippe zurückkehrte. Was gewöhnlich hieß, dass er gleich etwas seiner Meinung nach Wichtiges verkünden würde – oder dass ihn das, was er vorhatte zu sagen, nervös machte. »Ich komme natürlich mit Euch, Meister.«
»Sicher?« Ben schlang das Ende seines Schals um den Homunkulus. Es war eine windige Nacht. »Ich hab keine Ahnung, wann ich zurück sein werde. Und in Schottland herrscht Winter. Vom Himalaja ganz zu schweigen.«
Fliegenbein schüttelte vehement den Kopf, auch wenn Ben ihm ansah, dass ihm die Aussicht auf schottischen und tibetischen Frost ganz und gar nicht behagte. »Ihr seid ein Drachenreiter. Ich bin der Homunkulus des Drachenreiters.«
Ben konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Was ist mit deinem Bruder?«
»Ach, der kommt schon zurecht«, sagte Fliegenbein. »Freddie kommt immer zurecht.«
Das stimmte. Doch Freddie würde Fliegenbein vermissen – vielleicht sogar mehr, als sein Bruder vermutete.
»Wir könnten ihn mitnehmen.«
»Nein!«
»Sei nicht so eifersüchtig!«
»Ich bin überhaupt nicht eifersüchtig!«
Ben wusste, dass es sinnlos war, diese Unterhaltung fortzuführen.
Seine Eltern starrten auf die Wellen, als er zu ihnen trat. Hothbrodd saß neben ihnen. Auf dem Wasser war noch immer kein Licht zu sehen, außer dem Silber des Mondes.
»Ich wollte mich verabschieden. Ich denke, dafür bleibt keine Zeit, wenn alles gut geht.« Es fiel Ben sehr schwer, diese Worte auszusprechen. Sein Herz war so voller Erinnerungen – seine erste Begegnung mit Barnabas, in der arabischen Wüste, Vita in der Gruft der Drachenreiter, Guinever im Kloster im Himalaja … und die große Wärme, die ihn umfing, seit er wieder eine Familie hatte.
»Natürlich!« Barnabas kam auf die Füße. »Du wirst sicher keine Zeit zum Abschiednehmen haben. Du hast recht.«
Er zog Ben an sich und umarmte ihn. Vita stand auf und tat dasselbe.
»Wenn alles gut geht«, flüsterte sie Ben zu. »Das wird es! Lass uns das einfach fest glauben. Und du, hab eine wunderbare Zeit mit Lung. Ich bin sicher, du wirst uns kein bisschen vermissen!«
Sie lächelte Ben zu, aber er sah dieselben Tränen in ihren Augen, die er in den eigenen spürte. Barnabas wischte sich auch eine von der Nasenspitze.
»Himmel, das sind sehr gefühlvolle Zeiten«, murmelte er. »Pass gut auf dich auf. Versprich es, Drachenreiter!«
Ben nickte. Hothbrodd drückte ihn so fest, dass es Ben nicht überrascht hätte, wenn die Umarmung ihm ein paar Rippen gebrochen hätte.
»Hier!«, brummte er und hob einen langen Holzschaft auf, der neben ihm im Sand lag. »Den hab ich für dich gemacht. Nur zur Vorsicht. Ich weiß, ihr alle mögt keine Waffen, aber seit dem Kampf auf Anacapa denk ich, dass ein Drachenreiter schon von Zeit zu Zeit eine Lanze brauchen könnte.«
Der Holzschaft hatte eine scharfe Spitze und wog leicht in der Hand, als Ben ihn entgegennahm.
»Danke, Hothbrodd!«, sagte er. Und wandte sich zu Vita um.
»Könnt ihr Guinever sagen, wie leid es mir tut, dass ich nicht hier sein werde, um all die Geschichten zu hören, die sie mitbringen wird?«
Was, wenn Guinever nicht …? Nein. Den Gedanken würde er sich nicht erlauben. Seine Schwester würde er vermutlich am meisten vermissen. Er hatte das noch nie so deutlich begriffen wie an dem mondbeschienenen Strand. Sein Herz würde immer an zwei Orten zugleich sein. Er vermisste Lung, wenn er in MÍMAMEIÐR war. Und er würde seine Familie vermissen, wenn er bei Lung blieb. Doch Ben wusste, dass er von nun an bei seinem Drachen sein musste. Ihr Bund wurde immer stärker, mit jedem Tag.
»Sieht so aus, als würden unsere Kinder flügge, Vita«, sagte Barnabas. »Na ja, im Falle unserer Tochter wohl eher flosse.«
»Nun, diesmal ist es vielleicht kein Abschied für lange.« Vita sah Ben lächelnd an. »Ich hab ja immer noch nicht die jungen Drachen gesehen. Vielleicht warten wir schon am Saum auf dich, wenn du und Lung die Samen abgeliefert habt. Und ja«, wandte sie sich mit einem Lächeln an Fliegenbein, der immer noch auf Bens Schulter saß. »Wir passen auf Freddie auf. Und er auf uns, wie ich ihn kenne.«
Sie blickte nach rechts. Alfonso kam auf sie zu.
»Die Pelikane haben die Aurelia gesichtet«, sagte er.