Die Ankunft

Die Aurelia war verstummt. Ihre Lichter verblassten, eins nach dem anderen, und sie hing regungslos im Wasser, während ihre zahllosen Arme sie wie ein Umhang umschwebten. Nur die Kapseln strahlten noch immer wie vom Himmel gestürzte Sterne, und die vier Arme, die sie hielten, trieben ganz langsam an ihre Positionen. Drei schwebten nach oben, der vierte sank hinab, bis er in die Tiefe zeigte, aus der die Aurelia gekommen war. Die Kapsel, die er trug, schimmerte wie eine himmelblaue Perle.

Guinever war bei Lizzie, Koo und Laimomi, als die Große Sängerin auf diese Weise das Ende ihrer Reise verkündete. Alle, die sie begleitet hatten, sahen mit großen Augen zu, als die Aurelia sich langsam emportreiben ließ und dabei mit einem blassen blaugrünen Licht pulsierte, als habe der Atem des Ozeans in ihr Gestalt angenommen. Über ihr war das Wasser silbrig vom Licht des vollen Mondes, und Guinever sah, dass sie umgeben waren von Meeresbewohnern, die ihre Ankunft erwartet hatten. Die Aurelia hielt an, als die Wasseroberfläche nur noch so weit entfernt war, dass sie mit ihren Armen hinaufreichen konnte. Die Kapseln begannen so hell zu leuchten, dass Guinever wünschte, ihre Flossen wären lang genug, um ihre Augen zu schützen. Alle, die der Aurelia gefolgt waren, mussten sich abwenden, und als sie es schließlich wagten, sie wieder anzusehen, hatten sich die Kapseln von ihren Armen gelöst.

Drei trieben zur Oberfläche hinauf. Die blaue Kapsel aber sank in die Tiefe, wo Acht auf sie wartete. Der Krake fing sie so behutsam auf, als wäre es eine Kugel aus feinstem Glas. Er schlang gerade schützend einen weiteren Arm darum, als ein Schatten aus der Tiefe auftauchte und auf die Kapseln zuschoss, die zur Wasseroberfläche emportrieben. Ein allzu vertrauter Schatten …

Drei Meermenschen versuchten, dem Kupferhut den Weg abzuschneiden, doch er schlug so heftig mit seinen Tentakeln auf sie ein, dass sie mit leblosen Gliedern davontrieben. Guinever, Lizzie, Koo und Laimomi schwammen schneller als je zuvor in ihrem Leben, doch sie befanden sich auf der anderen Seite der Aurelia, und als sie ihren Schleier aus Armen passiert hatten, war der Tintenfisch schon weit über ihnen und hielt auf die Kapseln zu, die inzwischen fast die Oberfläche erreicht hatten. Sie trieben darauf zu wie Ballons, rot, grün und violettbraun, jede bedeckt mit einem anderen Muster aus Linien, Flecken und Stacheln. Der Kupferhut hatte seinen Schnabel geöffnet, als machte er sich bereit, zumindest eine der Kapseln zu verschlucken.

Doch die Aurelia hatte ihn bemerkt.

Und hundert Augen und tausend Arme färbten sich feuerrot.

Nein. Nein, das durfte nicht sein! Guinever kämpfte sich verzweifelt mit ihren Flossen durch das Wasser. Von allen Seiten eilten bestürzte Helfer herbei, die, die auf sie gewartet hatten, und all die, die mit der Aurelia gekommen waren. Ihre Arme begannen wie Kohlen zu glühen, einer nach dem anderen. Eine Schule von Delfinen griff den Tintenfisch an. Für ein paar Momente konnten sie ihn ablenken, doch aufhalten konnten sie ihn nicht. Irgendetwas hielt sich an einem der schrecklichen Tentakel fest. Irgendjemand … Elewese! Doch seine Seesternkraft war nichts gegen die des Tintenfisches, den der Kupfermann für Cadoc Aalstrom erschaffen hatte. Er schüttelte ihn so wütend ab, dass Elewese zwischen die Delfine geschleudert wurde, während der Kupferhut erneut auf die Kaspeln zuhielt, den Schnabel weit geöffnet.

Verloren! Alles war verloren. Guinever wartete darauf, dass die Flammen der Aurelia sie verbrennen würden, dass sich ihr Körper auflösen und Lizzie und Laimomi vor ihren Augen verschwinden würden.

Doch stattdessen fiel von oben ein Schatten auf das Wasser.

Silberne Krallen durchbrachen die Oberfläche.

Lung.

Der Drache tauchte so geschmeidig herab wie ein Delfin, mit Schuppen aus Mondschein. Guinever spürte, wie ihr vor Erleichterung das Herz überging, doch dann sah sie Schwefelfell und ihren Bruder auf Lungs Rücken. Ben hielt eine Lanze unter dem Arm. Nein! Sie würden ertrinken! Sie wollte auf sie zuschwimmen, aber Lizzie hielt sie zurück. Der Tintenfisch versenkte seinen Schnabel tief in Lungs Pfote, als der Drache die Kapseln mit seinem Körper vor ihm abschirmte. Doch Ben stieß dem Tintenfisch seine Lanze gegen den kupfernen Leib, und der Drache befreite seine Pfote und grub ihm die Krallen so tief in den Mantel, dass das Monster schließlich losließ und blutend in der Tiefe verschwand.

Die Kapsel! Guinever sah sie schimmernd in Lungs Pfote, als er wieder zur Oberfläche hinauftauchte, mit seinen Reitern auf dem Rücken. Das Rot der Aurelia war verblasst, und sie schillerte stattdessen in tausend Farben. Guinever konnte die Augen nicht von ihr wenden, und sie merkte erst, wie nah sie selbst der Oberfläche gekommen war, als sie sie durchbrach.

Über ihr stieg Lung in den Nachthimmel auf, die Flügel hell vom Licht des Mondes. Er hielt die rote Kapsel sicher zwischen den Vorderpfoten, auch wenn von der linken das Blut tropfte. Ben warf seine Lanze ins Meer und winkte – ja, das da am Strand waren ihre Eltern! Und auf Bens Schulter … war das nicht ein sehr nasser Fliegenbein? Schwefelfell, die hinter ihrem Bruder saß, war mit durchweichtem Fell kaum zu erkennen. Guinever platzte fast das Herz vor Liebe, während der Drache und seine Reiter immer höher flogen, um das, was das Meer ihnen geschenkt hatte, Richtung Osten zu tragen. Natürlich! Ben würde mit Lung die Saat der Aurelia säen. Sie würde ihren Bruder lange Zeit nicht wiedersehen. Die Erkenntnis schmerzte wie der Stich eines Stachelrochen.

Doch dann fielen Guinever die anderen Kapseln wieder ein. Sie drehte sich erschrocken um – und blickte in Lizzies Gesicht.

»Alles in Ordnung.« Lizzie deutete auf Shrii, der über dem Meer kreiste, mit von der Nacht geschwärztem Gefieder, die grüne Kapsel fest in seinen Klauen. Um ihn her schwärmten Pelikane und Kormorane, all die geflügelten Helfer, die sich für die Aurelia versammelt hatten.

Der Greif stieß einen Schrei aus, einen Schrei des Triumphs und der Freude. Dann nahm er Kurs aufs offene Meer, zurück zu den tausend Inseln, die seine Heimat waren.

Drei. Drei waren in Sicherheit. Aber wo war die vierte? Es war die violettbraune Kapsel, und sie war in Richtung Strand getrieben, wie der Schatz aus einem gesunkenen Schiff. Die Kreatur, die sie in Empfang nahm, war riesengroß und pelzig, und ihre Tatzen sahen stark genug aus, um den Mond zu tragen. Es war eine Bärin, aber eine, wie Guinever sie noch nie gesehen hatte. Sie hob die Kapsel auf und betrachtete sie. Dann richtete sie sich auf, legte schützend ihre andere Tatze darüber und schritt auf zwei Beinen davon, bis ihre dunkle Silhouette in der Nacht verschwand.

»Sie sind alle in Sicherheit! Alle vier!« Laimomi tauchte neben Lizzie auf und umarmte Guinever so fest, dass sie ihre eigenen Arme sehr vermisste. Selbst Koo kam dicht an die Oberfläche heran und strich ihr mit der Flosse über den Rücken. Ein Kreis aus Meermenschen bildete sich in den Wellen, während unter ihnen die Aurelia langsam in die Tiefen zurücksank, aus denen sie gekommen war. Guinever sah ihr nach. Sie würde sie vermissen. Fast wäre sie ihr hinterher getaucht, doch Koo schwamm Kreise um sie, bis sie sich zu den anderen gesellte. Ja, der Laternenfisch hatte recht. Jetzt musste gefeiert werden. Unter ihnen erhellte das Licht der Aurelia noch immer das Wasser, und die Oberfläche des Ozeans bestand aus Mondsilber, während die Meermenschen in den Wellen tanzten. Und ja! Natürlich können sie tanzen. Um sie her schwärmten Fische, Aale, Schnecken, Muscheln und Schwämme. Und am Strand … am Strand warteten Barnabas und Vita Wiesengrund auf ihre Tochter.

»Dein Vater hat sich überhaupt nicht verändert!«, sagte Lizzie zu Guinever. »Obwohl er ganz bestimmt keinen Moosfeenstaub benutzt. Komm, sagen wir ihm Hallo. Wir haben uns zu lange nicht gesehen.«