Alte Freunde

Das Meer atmete Sterne aus. Winzige Funken trieben auf den Wellen, Millionen von ihnen, als hätte die Aurelia einen Teil ihres Lichts zurückgelassen. Die Wellen wuschen sie auf den Strand, und der Wind trug sie hinauf in den Himmel. Sie ließen sich auf Guinevers Haar nieder und auf ihrer jetzt wieder menschlichen Haut und ließen die Welt wie neu erscheinen. Und vielleicht war sie das ja. Vielleicht würden die Geschöpfe, die den Kapseln der Aurelia entsprangen, einen Zauber bringen, den sie alle noch nicht vorhersehen konnten. Es war ein wunderbarer Traum, und in dieser Nacht wagte man es fast, daran zu glauben. Ja, alles war gut. Die Welt hatte ihre Fabelwesen nicht an die Gier eines niemals alternden Jungen verloren. Es würde sogar mehr von ihnen geben, und Guinever würde ihr Bestes tun, sie alle zu treffen.

Sie lächelte und blickte zu ihren Eltern hinüber, die neben ihr inmitten des Funkenregens mit Lizzie im Sand saßen. Die drei lachten, umarmten einander, redeten, hörten einander zu, und dann … umarmten sie einander von Neuem. Guinever strich über die Funken, die an dem Selkie-Fell hafteten, das auf ihrem Schoß lag. Sie ließen ihre Fingerspitzen leuchten. Würde sie auch so eine Freundin wie Lizzie haben, wenn sie selbst so alt wie ihr Vater war? Gut, so schrecklich alt war Barnabas noch nicht, aber fünfundvierzig klang mit vierzehn so fern wie der Nordpol. Wen würde sie mit fünfundvierzig so sehr vermissen, wie ihr Vater Lizzie Persimmons ganz offensichtlich vermisst hatte? Guinever war nicht sicher, ob sie eine solche Freundin schon gefunden hatte. Ben. Sie würde ihren Bruder auf die Art vermissen. Ja, ganz sicher. Sie vermisste ihn schon jetzt. Allein die Vorstellung, dass sie eines Tages vielleicht nicht wissen würde, wo er war und wie es ihm ging, war unerträglich.

Ihr Vater lachte laut auf. Er sah so jung aus, wenn er glücklich war, trotz der grauen Haare und der Falten. Warum fiel es selbst ihr schwer, sich ihre Eltern so jung vorzustellen, wie sie selbst gerade war? Guinever musste erneut lächeln … nein, bei ihren Eltern war das eigentlich gar nicht schwierig.

»Ja, ist das nicht unglaublich?«, hörte sie Barnabas sagen. Er klang ziemlich stolz. »Unser Sohn ist ein Drachenreiter, Lizzie! Weißt du noch, wie ich davon geträumt habe, irgendwann einem Drachen zu begegnen, der mich um die ganze Welt trägt?«

Das hatte Guinever nicht gewusst, aber Lizzie nickte. »Natürlich erinnere ich mich! All deine Wände waren mit Drachenbildern bedeckt. Während ich von einem eigenen Pegasus träumte!«

»Guinever hat den Nachwuchs des letzten Pegasus gerettet!«, rief Barnabas. Das stolze Lächeln, mit dem er zu ihr herübersah, schmolz Guinever das Herz.

Aber Lizzies Gesicht war ernst geworden.

»Barnabas«, sagte sie. »Ich weiß, wir alle wollen nicht mal an ihn denken. Aber wir müssen über ihn reden. Was machen wir mit Cadoc?«

Auf einen Schlag sah man Barnabas sein wirkliches Alter wieder an.

»Wir wissen es nicht, Lizzie«, sagte Vita. »Wir haben ihn fürs Erste in den Schuppen einer Freundin gesperrt. Er schreit in einer Tour Drohungen und Beleidigungen, seit wir ihn gefangen haben. Er sieht kaum älter aus als Ben. Dank Moosfeenstaub.«

»Ja, es hat sicher Dutzende von ihnen das Leben gekostet, dass Cadoc Aalstrom immer noch so aussieht wie der Junge, der mit uns zur Schule gegangen ist«, sagte Barnabas bitter. »Wir halten ihn auf dem Grundstück einer Freundin gefangen, oben in den Bergen –«, Barnabas warf einen Blick auf Lizzies Schwanzflosse, »– falls du ihn sehen willst …«

»Sie kann ihn nicht sehen.« Hothbrodd stand plötzlich hinter Barnabas. Lola saß auf seinem Kopf und Freddie auf seiner Schulter.

»Er ist entkommen!«, schrillte Lola. »Ich hatte die ganze Nacht so ein komisches Gefühl, und als die Kapseln in Sicherheit waren, bin ich …«

»… sind wir«, korrigierte Freddie.

»Richtig«, sagte Lola. »Sind wir zu Mary hochgeflogen, um nach dem Schuppen zu sehen. Alfonsos Männer bewachten noch immer die Tür. Aber …« Sie seufzte.

»… der Schuppen war leer«, knurrte Hothbrodd.

Lizzie blickte so entsetzt zu dem Troll auf, als hätte er ihr mit der Nachricht das Herz herausgerissen und verspeist. »Aber wie?«, rief sie. »Wer könnte ihn befreit haben? Der Kupfermann, von dem Barnabas erzählt hat?«

Ein lautes Bellen ließ sie alle herumfahren.

Derog Shortsleeves stand hinter ihnen im Sand, mit Manannan an seiner Seite. Er hielt sich in sicherer Distanz von Hothbrodds Fäusten.

»Mr Aalstrom befindet sich jetzt in meiner Obhut«, sagte er, während Manannan an den Funken schnüffelte, die überall im Sand leuchteten. »Wie ich bei anderer Gelegenheit sagte – ich werde meine Rache bekommen. Und ein Leprechaun hält seine Versprechen immer.«

»Keine Wand, gemacht von Menschenhand«, zitierte Guinever aus der Enzyklopädie der Fabelwesen, »hält einen Leprechaun und seinesgleichen auf.«

Sie tauschte einen Blick mit ihren Eltern. Beide waren aufgestanden.

»Keine gemauerte Wand, und ganz sicher nicht die eines Gartenschuppens«, sagte ihr Vater. »Daran hätte ich denken müssen.«

»Wo ist er?« Lizzie schlug mit ihrer Schwanzflosse auf den Sand. »Heraus damit, Leprechaun!«

Derog Shortsleeves schenkte ihr sein scharfzähniges Lächeln. »Die Frage sollte lauten: Was ist er?«

Er zog eine kleine Flasche aus der Tasche. Es war eine Whiskyflasche, von einer teuren schottischen Marke. Hinter dem durchsichtigen Glas bewegte sich etwas. Es schwamm erbost hin und her, als Derog sich mit den Zähnen den Handschuh von der rechten Klaue zog und mit der Kralle gegen das Glas klopfte.

»Es gibt da einen sehr seltenen und sehr mächtigen Leprechaun-Zauber«, schnurrte er. »Nur wenige kennen ihn. Und ein paar Eichhörnchenherzen bieten ganz sicher keinen Schutz dagegen.« Er schüttelte die Flasche, was den Insassen wie einen Korken gegen das Glas prallen ließ.

»Komm schon, Leprechaun!«, grollte Hothbrodd. »Du kannst es doch nicht erwarten, uns zu erzählen, was für ein Zauber das ist.«

Derog Shortsleeves hielt sich die Flasche vor die grünen Katzenaugen. »Wir nennen ihn den Lass sie ihr eigenes Urteil sprechen-Zauber. Du lässt deine Feinde einfach nur reden, Troll. Du lässt sie fluchen und dich beleidigen … und sie so selbst die Form wählen, die sie annehmen werden.« Er schüttelte die Flasche noch einmal. »Mr Aalstrom hat sich als äußerst kreativ erwiesen. Er nannte mich einen jämmerlichen Wurm, der aus einer Kloake gekrochen ist. Nun … so ein Wurm ist er nun fortan selbst.«

Er zwinkerte Barnabas zu. »Ich habe auch versprochen, dass ich Aalstrom nicht töten würde. Wie schon erwähnt: Ein Leprechaun hält stets, was er verspricht.«

»Ohne Zweifel«, sagte Vita und reichte ihm das Selkie-Fell, das er ihr besorgt hatte. »Ihr habt das sehr eindrücklich bewiesen, Mr Shortsleeves. Eure Hilfe war unverzichtbar.«

Der Leprechaun nahm das Fell und das Kompliment mit einem Nicken entgegen. Doch als Guinever ihm das Fell zurückgeben wollte, das sie getragen hatte, schüttelte Derog Shortsleeves den Kopf.

»Betrachte es als Geschenk, Guinever Wiesengrund«, sagte er. »Seine Besitzerin hat es mir vor langer Zeit überlassen, als sie ahnte, dass ihr Ende naht. Sie war eine sehr gute Freundin. Und sie würde dich mögen.«

Dann verbeugte er sich tief – und war ebenso wie Manannan verschwunden.

Guinever strich über das Fell und konnte kaum glauben, dass es nun tatsächlich das ihre war. Niemand hatte ihr je ein so magisches Geschenk gemacht.

»Du wirst nicht gleich davonschwimmen, oder?«, fragte ihr Vater. Er klang leicht besorgt. »Wir würden ungern kinderlos nach Hause fliegen.«

Guinever umarmte erst ihn und dann Vita zur Antwort. »Nein«, sagte sie. »Nicht sofort. Versprochen.«

Barnabas schien nicht ganz sicher zu sein, was er von ihrer Antwort halten sollte, aber Vita lächelte ihr zu. Sie würden ihre gemeinsame Unterwasserzeit sicher nie vergessen.

Guinever sah ihren Eltern an, dass sie erleichtert waren, nicht länger entscheiden zu müssen, was mit Cadoc Aalstrom geschah. Auch wenn sie sich etwas dafür schämten.

Lizzie blieb noch einige Stunden bei ihnen, bis ihre grüne Haut zu jucken begann und sie ins Meer zurückkehren musste. Sie verabschiedete sich zuerst von Barnabas und Vita. Dann winkte sie Guinever zu sich.

»Du hast jetzt also eine eigene Selkie-Haut, kleine Schwester«, flüsterte sie. »Das heißt, du hast keinen Grund, mich nicht zu besuchen. Dein Vater wird sich vermutlich nicht davon überzeugen lassen, mitzukommen, aber wer weiß …«

»Ich glaube, ich würde gerne alleine kommen«, flüsterte Guinever zurück.

»Dann ist das entschieden!«, erwiderte Lizzie. »Wenn du wieder in Norwegen bist, halte die Ohren offen für eine Einladung aus dem Meer. Ich bin sicher, Koo wird sie sehr gern übermitteln. Sei bereit! Meerfrauen halten ihre Versprechen ebenfalls.«

Das hoffte Guinever sehr.

Sie starrte noch immer auf die Wellen hinaus, als Lizzie längst verschwunden war.