Väter

Ja, wirklich. Was konnte wichtiger sein als dreizehn junge Drachen? Als Barnabas Wiesengrund die Höhle betrat, in der sie geboren worden waren, vergaß er, was er in Neuseeland gesehen hatte. Er vergaß sogar, dass er fünfundvierzig Jahre alt war. Als der erste Jungdrache ihn ansah, war er wieder ein Kind – der Junge, der schon mit fünf Jahren Drachen gezeichnet und immer davon geträumt hatte, einmal selbst einen zu treffen. Einen! Jetzt war er von Dutzenden umgeben!

Ben und Guinever lächelten einander an, als ihr Vater auf die Knie ging und alle jungen Drachen kamen, um ihn zu begrüßen. Sie flatterten und stolperten übereinander, als wüssten sie, wie viel die Fabelwesen dieser Welt dem Mann zu verdanken hatten, den sie unter ihren kleinen Körpern begruben. Sie beschnüffelten ihn, schnappten nach seinem Haar und streiften sein Gesicht mit ihren Flügeln – und Barnabas Wiesengrund würde diesen Moment von all den magischen Momenten in seinem Leben immer als den schönsten bezeichnen. Den schönsten und unvergesslichsten.

»Welche sind die Kinder von Lung und Maja?«, fragte Guinever, während sie einem winzigen Drachen die Hand hinhielt, der weniger mutig war als die anderen und sich hinter Bens Rücken vor den gerade eingetroffenen Fremden versteckte.

»Das da ist Schuppe!« Ben zeigte auf einen Drachen, der Barnabas Nase abschleckte. »Man erkennt ihn leicht an den blauen Schuppen um seine Augen herum. Niemand weiß, woher er die hat. Der, der gerade auf Dads Schuh herumkaut, ist Stachelschwanz, der Zweitälteste. Den Namen hat er seinem extrem spitzen Schwanz zu verdanken. Und Schuppes Zwillingsschwester …«, er sah sich um, »… ist wie immer verschwunden und wird gleich irgendwo auftauchen, wo es sehr hoch und sehr gefährlich … ah, da!« Er zeigte auf einen steilen Felsen und den winzig kleinen, aber äußerst grimmig dreinblickenden Drachen, der darauf hockte. »Das ist Mondtanz.«

Lung war zu dem Felsen gegangen und sah mit einem besorgten und zugleich stolzen Blick zu seiner kleinen Tochter hinauf.

»Und wer ist das?« Guinever lächelte ein Drachenmädchen an, das an ihrem Knie schnüffelte und knurrte, als sie sie berühren wollte.

»Das …« Ben betrachtete die junge Drachin so gründlich, dass sie schließlich auch ihn anknurrte. »Das ist Schillerschwanz’ und Schneeschnauzes Tochter Nimmersatt. Glaube ich jedenfalls!«, setzte er mit einem Lächeln hinzu.

Ben hatte erwartet, Lungs Kinder ganz besonders zu mögen, doch er liebte sie alle, jeden Einzelnen von ihnen, sogar Schnapper, der ihm mit seinen winzigen, aber scharfen Zähnen beinahe den Finger abgebissen hatte, als er ihn zum ersten Mal gestreichelt hatte.

»Wir müssen reden«, flüsterte Guinever, während sie die Schuppen des schüchternen Drachenmädchens streichelte. »Dad verbirgt irgendwas. Hast du ihn schon mal den Namen Cadoc Aalstrom erwähnen hören?«

Ben schüttelte den Kopf.

»Er scheint ein alter Feind von ihm zu sein. Dad macht sich Sorgen, dass er von den Vögeln erfährt, die wir in Neuseeland gesehen haben.«

»Vögel?« Davon also hatte Fliegenbein geredet.

Guinever runzelte die Stirn, als Ben ihr von der Nachricht erzählte.

»Kamtschatka?« Sie hielt Nimmersatt die Hand hin, die noch immer nicht sicher schien, ob sie dem neuen Menschen erlauben sollte, sie anzufassen.

»Vier, um sie anzukündigen, vier, um sie zu empfangen«, murmelte Guinever. »Dann ist es also schon zwei Mal passiert.«

Ben verstand kein Wort, doch bevor er seine Schwester fragen konnte, was das alles zu bedeuten hatte, landete ein weiterer Drache in seinem Schoß. Zwölf. Sie konnte man leicht von den anderen unterscheiden, weil sie an jeder Vorderpfote eine zusätzliche Kralle hatte.

»Bei Odins Raben! Guckt euch das an!« Selbst die mutigsten Jungdrachen suchten hinter den Beinen ihrer Eltern Schutz, als Hothbrodds Stimme durch die Höhle hallte. Der Troll starrte den Drachennachwuchs so ungläubig an, als ginge er fest davon aus, dass sie sich im nächsten Augenblick in silbrige Luft auflösen würden.

»Überall Drachen! Nichts als Drachen!«, dröhnte er. »Haben die Schwefelfell und die anderen Kobolde aufgefressen? Und ich seh nicht einen von diesen gierigen Steinzwergen! Beim letzten Mal hat es hier von denen gewimmelt! Falls sie die verspeist haben … ich werd sie nicht vermissen!«

Stachelschwanz ging vorsichtig auf Hothbrodd zu und schnüffelte an seinen haarigen Füßen.

»Die Kobolde sind natürlich auf der Suche nach Pilzen«, erklärte Ben. »Und die Zwerge suchen in den Bergen auf der anderen Seite des Sees nach Edelsteinen. Sie haben die jungen Drachen zu Feinden erklärt, weil die sie für Spielzeug halten und gern auf ihnen herumkauen.«

»Auf ihnen herumkauen! Ha!« Hothbrodd beugte sich zu Stachelschwanz hinunter. »Genau das, was man mit Steinzwergen machen sollte. Ihr Kleinen gefallt mir jetzt schon!«

Guinever warf ihm einen tadelnden Blick zu, den der Troll natürlich ignorierte.

»Schwefelfell tut so, als würde sie sie nur deshalb nicht mögen, weil sie ihre Pilzvorräte fressen«, flüsterte Ben ihr zu, »aber ich glaube, der wirkliche Grund ist, dass Lung nicht mehr so viel Zeit für sie hat. Wenn du mich fragst, wirkt es ziemlich anstrengend, Eltern zu sein.«

»Ja, aber das ist es wert!« Ihr Vater stand hinter ihnen, das graue Haar zerzaust, die Brille verbogen, die Kleider mit staubigen Klauenabdrücken übersät und mit einem Lächeln, so breit wie die Sichel des Mondes, auf den Lippen. »Ich habe von Lung gehört, dass Fliegenbein eine Nachricht für mich hinterlassen hat?«

»Ja. Er …«

»Es ist auch in Kamtschatka passiert, Dad!«, kam Guinever Ben zuvor.

Das Lächeln verschwand aus Barnabas’ Gesicht. Er sah nicht länger wie ein Junge aus, sondern wieder wie ein erwachsener Mann – ein Mann, der in seinem Leben zu viele finstere Dinge gesehen hatte. Trotzdem sah Ben nicht nur Besorgnis in seinem Gesicht. Er sah Ungläubigkeit. Vorfreude. Hoffnung. Doch all das war mit Furcht vermischt – ein Gefühl, das man im Gesicht seines Vaters nicht allzu oft entdeckte.

»Also wird die Geschichte tatsächlich wahr«, raunte er. »Kahurangi hatte recht.«

Er starrte die jungen Drachen an, die inzwischen alle den Mut gefunden hatten, sich um Hothbrodd zu versammeln.

»Die Geschichte?« Ben sah Guinever fragend an, doch die schüttelte nur den Kopf.

»Ich sag doch«, sagte sie, »er spricht neuerdings in Rätseln.«

Sie warf ihrem Vater einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte der. »Es gibt vieles, was ich erklären muss. Aber zunächst muss ich selbst besser Bescheid wissen!« Er blickte auf seine Uhr. »In MÍMAMEIÐR müsste es jetzt früher Nachmittag sein. Gilbert hat bestimmt schon an der Karte gearbeitet …«

»Wiesengrund!« Schwefelfell bahnte sich einen Weg durch die Horde junger Drachen, einen Rucksack an sich gedrückt, der stark nach Pilzen roch. »Nerven dich diese Drachenwinzlinge ebenso wie mich?«

Burr-burr-tschans Rucksack war so prall gefüllt wie der von Schwefelfell, und die zwei blickten so zufrieden drein, wie es nur satte Kobolde tun. Barnabas erwiderte Schwefelfells Lächeln, doch er war mit seinen Gedanken sichtlich woanders.

»Stimmt was nicht? Barnabas!« Schwefelfell musterte ihn besorgt. Kobolde sind sehr viel einfühlsamer, als sie erkennen lassen. »Diese Winzlinge ärgern mich sehr, aber sollte es irgendein Monster auf sie abgesehen haben, dann will ich es wissen.«

»Ich würde sie nicht direkt ein Monster nennen«, antwortete Barnabas. »Wenn die Geschichten über sie wahr sind, kommt sie, um neues Leben zu bringen, nicht, um es zu nehmen. Aber …« Er schüttelte den Kopf. »Nein! Vermutlich ist das alles nur falscher Alarm. Und selbst wenn … nein«, er schüttelte erneut den Kopf, »ich kann einfach immer noch nicht glauben, dass sie zu meinen Lebzeiten kommt!«

Er blickte die Drachen an. Und die Kobolde. Dann drehte er sich abrupt um. »Ich muss mit eurer Mutter reden.«

»Ich würde sie nicht direkt ein Monster nennen«, flüsterte Guinever, als er aus der Höhle hastete. »Das klingt, als hätten wir es hier eindeutig mit einem Monster zu tun.«