Brüder

Seevögel, die Blumen zeichnen … Vogelschwärme, die über dem Ozean eine Blütenformation bilden … mysteriöse Vogelversammlungen … Fliegenbein tippte schon seit Stunden diese und andere Suchanfragen in seinen Computer. Nichts. Absolut nichts. Es war so ärgerlich!

 

Fliegenbeins Computer, kaum größer als eine Streichholzschachtel, war perfekt für seine Bedürfnisse ausgelegt. Sein Meister hatte ihn für ihn gebaut, gemeinsam mit seinem Physiklehrer. Ben sah ihn noch immer irritiert an, wenn der Homunkulus ihn Meister nannte. »Fliegenbein, wir sind beste Freunde!«, wurde er nicht müde, ihm zu erklären. Doch für Fliegenbein war er für alle Zeiten sein Meister – der Meister, den er sich in den schrecklichen, unglücklichen Jahrhunderten als Nesselbrands Sklave immer gewünscht hatte.

 

Vogelschwarm in Blumenform … merkwürdiges Verhalten von Seevögeln …

Er konnte inzwischen genauso schnell tippen, wie er mit einer Feder schrieb. Er bevorzugte Letztere noch immer, schließlich hatte er sein Leben lang mit Feder und Tinte geschrieben, aber ja, die Maschine hatte in der Regel ihre Vorteile. In der Regel. Aber nicht heute!

Nichts!

Absolut keine brauchbaren Ergebnisse!

Quecksilber und Schwefel! Das bewies es wieder einmal. Wenn es um Recherche ging, waren Computer eben NICHT die besten Werkzeuge. NIEMALS!

Fliegenbein klappte die winzige Maschine mit solcher Wucht zu, dass Freddie beim Steppen aus dem Tritt kam. Sein Bruder tanzte schon seit Stunden auf dem Lesetisch der Bibliothek.

Zum Glück hatte sein Meister ihm auch Ohrstöpsel in genau der richtigen Größe angefertigt. Sie rochen immer noch ein wenig nach Rotwein, weil Ben sie aus Weinkorken geschnitzt hatte, aber Fliegenbein war enorm dankbar, sie zu haben.

Warum wollten Brüder immer so viel Aufmerksamkeit?

Da, schon wieder. Freddie bewegte die Lippen.

»Was denn?« Fliegenbein zog die Korken aus den Ohren.

»Ich bin mir sicher, dass Barnabas oder Ben uns bald sagen werden, was hier vor sich geht, Bruder. Warum warten wir nicht? Du weißt doch, sie sind gerade mit den jungen Drachen beschäftigt.«

Die jungen Drachen … natürlich. Freddie hatte seinen dünnen Finger direkt in die Wunde gelegt! Was um Himmels willen hatte Fliegenbein auf die Idee gebracht, dass sein wiedergefundener Bruder seine Gesellschaft brauchte, wenn er stattdessen Ben zum Saum des Himmels hätte begleiten können? Und warum hatte er so lange gebraucht, zu begreifen, dass Freddie zwar zerbrechlich aussah, aber eigentlich viel zäher war als er? Es war dieses verlorene Bein. Direkt vor Bens Abreise hatte der Stumpf Freddie schwer zu schaffen gemacht. Doch seit Hothbrodd ihm ein neues Bein gemacht hatte, war alles gut! Mehr noch: Er tanzte sogar damit! Tanzte! Während Fliegenbein weit, weit von seinem Meister entfernt war und die jungen Drachen noch immer nicht gesehen hatte. Es war nicht gerecht. Nein.

Der Homunkulus blickte stirnrunzelnd durch die hohen Fenster der Bibliothek nach draußen. Die Vogelmenschen, die in den Bäumen davor lebten, reparierten wieder mal ihre Nester, die der letzte Regen schwer beschädigt hatte. Sie taten das zum dreiundzwanzigsten Mal in diesem Jahr, wenn Fliegenbein richtig gezählt hatte. Sein jüngerer Bruder war genauso irritierend geduldig. Und all die Diskussionen über Kleinigkeiten, etwa wie oft man sich die Zähne putzen muss oder warum Freddie seine dreckigen Socken überall herumliegen ließ … diese Streitigkeiten hatte Fliegenbein komplett vergessen, während er sich nach seinen gefressenen Brüdern sehnte.

Zum Glück hielt sich Freddie nicht halb so gern in der Bibliothek auf wie Fliegenbein. Gewöhnlich hielt er sich sogar davon fern. Freddie genoss die Gesellschaft anderer wesentlich mehr als sein älterer Bruder, und seit seiner Ankunft – am fabelistischsten Ort der Welt, wie Freddie MÍMAMEIÐR nannte – hatte er sich mit jedem Gnom und jedem Pilzling angefreundet, ja sogar mit dem trübsinnigen Fossegrimm, der unter dem Wasserfall am nahe gelegenen Fjord seine Geige spielte. Freddie hatte eine Band gegründet, mit zwei Grüngnomen und einem Borkengnom, und ein Theaterstück darüber geschrieben und aufgeführt, wie sie einander wiedergefunden hatten. Er kannte inzwischen sämtliche traditionellen Tänze der Nisser und Elfen. Er hatte Tallemaja, der Köchin von MÍMAMEIÐR, so oft in der Küche geholfen, dass sie ihn nun liebevoll ihren hoch talentierten kleinen Homunkulus-Koch nannte. Und ja, sogar Gilbert Grauschwanz, FREEFABs für seine schlechte Laune berüchtigter Ratten-Kartograf, erlaubte Freddie, ihm zuzusehen, wenn er seine magischen Karten zeichnete. Über vierhundert Jahre Elend, Entbehrungen und Einsamkeit … ja, Fliegenbein musste zugeben, dass Freddie ein sogar noch härteres Leben hinter sich hatte als er selbst, und trotzdem begegnete sein Bruder der Welt mit einem Lächeln! Hatte der Alchemist, der sie beide erschaffen hatte, irgendetwas in Freddies Flasche gemischt, das ihn immun gegenüber Traurigkeit machte?

Da! Jetzt summte er eines seiner albernen Liedchen und probierte einen neuen Stepptanzschritt auf dem Lesetisch aus. Er benutzte sein neues Bein, als wäre er mit einem Holzbein auf die Welt gekommen! Und natürlich hatte Freddie recht, wenn er ihm riet, zu warten, bis Barnabas genug davon hatte, junge Drachen zu streicheln, und ihm verriet, warum all ihre Späher und FREEFAB-Freunde nach Schwärmen von Vögeln Ausschau hielten, die seltsame Dinge taten. Allein Gilbert schien die Antwort zu kennen. Aber der wollte nicht verraten, was es mit der Karte auf sich hatte, die Barnabas ihn zu zeichnen gebeten hatte. Undankbare Ratte! Wie oft hatte Fliegenbein für ihn Nachforschungen angestellt! Oder dafür gesorgt, dass keine Wichtelkinder über seine kostbaren Karten stapften!

Geduld, Fliegenbein! Doch er konnte seine Neugier und seinen Drang nach Wissen ebenso wenig im Zaun halten wie Freddie seine Füße. Nein! Er würde herausfinden, warum Barnabas plötzlich so von Seevögeln fasziniert war, die es sich in ihre gefiederten Köpfe gesetzt hatten, Blumenmuster zu bilden. Er hatte bloß den Fehler gemacht, sich auf diesen dreimal verfluchten Computer zu verlassen – und das, obwohl er sich in einer der besten Bibliotheken der Welt befand!

Freddie hörte auf zu tanzen, als Fliegenbein begann, an einem der gewaltigen Bücherregale hinaufzuklettern, die die Wände des Raumes säumten.

»Bruder!«, rief er ihm nach. »Darf ich dich daran erinnern, wie leicht unsere Arme und Beine brechen? Bitte, komm da runter!«

Doch das Klettern war für Fliegenbein so selbstverständlich wie das Tanzen für Freddie. Viele Bewohner von MÍMAMEIÐR nannten ihn deshalb Spinnenbein – ein Spitzname, den Fliegenbein hasste, denn eine seiner größten Ängste war es, im Netz einer Riesenspinne zu landen. Na ja, so riesig musste sie bei seiner Größe gar nicht sein. Zum Glück hielten die Wiesengrunds staubfressende Raupen auf den Regalen, um die Bücher zu schützen, und die fraßen auch die Spinnennetze. Ein weiterer Grund, warum Fliegenbein die Bibliothek so liebte.

»Seevögel …«, murmelte er vor sich hin, während er das Regal entlanghastete, in dem die Bücher über fliegende Lebewesen standen. Es war das zwölfte Regalfach von unten. Würde er die Informationen, die er suchte, in Die Vögel Neuseelands finden? Aber was war mit denen in Kamtschatka? Vielleicht war es besser, in den Büchern über Mysterien der Natur nachzusehen. Die standen zwei Fächer weiter unten.

Fliegenbein eilte eine der Strickleitern hinunter, die Ben angebracht hatte, nachdem er ihn dabei erwischt hatte, wie er sich an einem Leseband hinabließ, das aus einem Buch baumelte. Es war wirklich rührend, wie sehr sein junger Meister um seine Sicherheit bedacht war. Fliegenbein hatte in seinem langen und oft so einsamen Leben nicht viele Freunde gefunden, und ganz sicher keinen wie Ben Wiesengrund. Ach, er vermisste ihn. So sehr! Er hätte wirklich mit ihm gehen sollen, anstatt den verantwortungsvollen Bruder zu spielen.

Seufzend kletterte er eine weitere Strickleiter hinunter und lief flink das Regal entlang, bis er zu einem in schwarzes Leder gebundenen Buch kam. Es war so dick, dass der Homunkulus es kaum herausziehen konnte, obwohl er viel Übung im Umgang mit Büchern hatte, die für menschliche Hände gemacht waren. Normalerweise half ihm sein Meister, sie vom Regal zu heben. Wieder entfuhr ein Seufzer Fliegenbeins schmaler Brust. Was, wenn Ben die jungen Drachen so sehr mochte, dass er bei ihnen und Lung am Saum des Himmels blieb? Unsinn, Fliegenbein!, ermahnte er sich selbst. MÍMAMEIÐR ist Bens Zuhause. Hier warten wichtige Verpflichtungen und Aufgaben auf ihn!

Er hatte es gerade geschafft, das schwere Buch aus dem Regal zu zerren, als Tallemaja durch die Tür kam und fragte, ob Freddie und er etwas von der Suppe wollten, die sie zum Abendessen gekocht hatte. Ein Geschenk des Himmels! Fliegenbein brachte sie dazu, dreiundzwanzig Bücher für ihn aus den Regalen zu ziehen, bevor sie in die Küche zurückkehrte, nicht ohne vorher mit dröhnender Stimme zu verkünden, dass sein kleiner Kopf eines Tages ganz sicher explodieren und von ihm nur ein Haufen bedruckter Seiten übrig bleiben werde.

Nun, vielleicht waren die dreiundzwanzig genug. Fliegenbein betrachtete zufrieden die lange Reihe von Büchern, die von einem Ende des Bibliothekstisches zum anderen reichte. Ja, eines von diesen enthielt ganz sicher die Antwort, nach der er suchte.

Fliegenbein bemerkte nicht, dass Freddie leise aus dem Raum huschte, als er das erste Buch aufschlug. Bald erfüllte nur noch das Geräusch raschelnden Papiers die Bibliothek – und das Schnarchen von Gryfydd Langzeh, dem Leprechaun, der seine Werkstatt unter dem Tisch hatte und sich ausschlief, nachdem er zwölf Paar Grüngnom-Schuhe repariert hatte. Die Nacht drückte ihr schwarzes Gesicht gegen die Fensterscheiben, und der Wald, der das Grundstück und die Gebäude von MÍMAMEIÐR umgab, füllte sich mit den Stimmen von Eulen und Wölfen.

Hothbrodd hatte eine kleine Tür in das schwere Bibliotheksportal gesägt, für all diejenigen, die die Türklinke nicht erreichen konnten. Es war schon weit nach Mitternacht, als diese Tür plötzlich aufgestoßen wurde und Freddie ein großes Notizbuch durch die Öffnung zwängte. Fliegenbein erschauderte, als er sah, dass sein Bruder eine Art Seil um das Buch gebunden hatte und es wie einen Schlitten über den Fußboden zog!

»Freddie! So transportiert man in diesem Haus keine Bücher!« Fliegenbein strengte sich wirklich an, nicht wie ein bevormundender großer Bruder oder Besserwisser zu klingen, allerdings mit mäßigem Erfolg.

Freddie nahm seine Kritik natürlich gar nicht wahr. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, das Buch zum Tisch zu zerren.

»Bruder!«, rief er zu Fliegenbein hinauf, strahlend vor Stolz. »Ich glaube, ich habe herausgefunden, warum Barnabas will, dass alle nach diesen Vögelblumen Ausschau halten!«

Fliegenbein holte tief Luft und betrachtete die lange Reihe von Büchern, die er in den zurückliegenden Stunden durchgearbeitet hatte. »Ach, wirklich.«

Freddie befreite das Notizbuch von dem Seil … Moment! War das eine von Barnabas’ Krawatten???? Ja, so war es. Fliegenbein ächzte, als Freddie sie achtlos mit dem Fuß zur Seite stieß und das Notizbuch auf einer Seite aufschlug, die er – Fliegenbein drehte sich der Magen um, beinahe hätte er sich auf den Bibliothekstisch übergeben – mit einem Eselsohr markiert hatte!!!

»Darf ich, äh …« Tief durchatmen, Fliegenbein! »Darf ich fragen, wo du dieses Notizbuch gefunden hast?« Soweit er das von dem Tisch aus sehen konnte, auf dem er stand, enthielt es Briefe, die auf die Seiten geklebt waren, und handgeschriebene Anmerkungen und Notizen.

»Wo? In Meister Wiesengrunds Schlafzimmer!«, antwortete Freddie gut gelaunt. »Ich habe mich gefragt: Freddie, wo hat Barnabas die Bücher, über die er besonders viel nachdenkt? Die, die von all den Dingen handeln, die ihn besonders beschäftigen? Natürlich in seinem Schlafzimmer! Meisterin Wiesengrund hat das bestätigt. Warte!«

Freddie fuhr mit dem Finger über eine handgeschriebene Zeile. Das tat er immer, wenn er las.

»Hier!« Er hob den Finger, als wäre eine wichtige Erkenntnis aus dem Buch entwischt und hinauf zur Decke der Bibliothek geflogen. »Hier ist es, Bruder! Hör zu!«

Fliegenbein setzte sich auf die Kante des Tisches und ließ seine dünnen Beine in der Luft baumeln, während er mit skeptischer Miene auf seinen vormals verloren geglaubten Bruder hinabsah. In Barnabas’ Schlafzimmer! Er selbst würde dieses Zimmer NIEMALS ohne ausdrückliche Erlaubnis betreten, doch Freddie war sicher nicht mal auf die Idee gekommen, um Erlaubnis zu fragen. Wie konnten sie beide nur so unterschiedlich sein? Waren sie vielleicht gar keine Brüder, sondern nur von derselben Art: eine künstlich hergestellte Lebensform, aber beide nach einem anderen Rezept erschaffen? Welche Zutat war für all die Fröhlichkeit und Freddies absoluten Mangel an Respekt vor Regeln und Verboten verantwortlich?

»Fliegenbein!« Der Silberfuß, mit dem Hothbrodd Freddies Holzbein versehen hatte, klopfte ungeduldig auf den Teppich. »Hörst du zu?«

»Ja. Aber dürfte ich zuerst erfahren, was das für ein Buch ist?«

»Oh, ja, natürlich!« Freddie warf einen Blick auf den Umschlag. »Robert Louis Stevenson. Notizen und Erinnerungen an Samoa.«

»Stevenson?« Die Falten auf Fliegenbeins Stirn wurden noch tiefer. »Unmöglich! Das kann nicht der richtige Titel sein. Das ist bloß ein Notizbuch.«

»Und?« Freddie zuckte die Schultern. »Warum nicht das von Stevenson? Ich weiß, er ist berühmt, aber Meister Wiesengrund ist auch berühmt, oder? Und er hat schon viele Notizbücher gefüllt! Ich fand dieses spannend, weil es so aussieht, als hätte er viel darin gelesen. Es stecken jede Menge Klebezettel drin. Mit Anmerkungen, Ausrufezeichen und Fragezeichen!«

Fliegenbein gähnte hinter vorgehaltener Hand. Es war spät, und sein Kopf fühlte sich an, als hätte er viel zu viele nutzlose Wörter gelesen. »Warum sollte das irgendwas mit Seevögeln zu tun haben, die Blumenformen bilden? Robert Louis Stevenson war ein Schriftsteller! Er hat sich Geschichten ausgedacht. Wir suchen nach etwas, was wirklich passiert ist!«

Er stand auf. Es war höchste Zeit, mit seinen Recherchen weiterzumachen.

Freddie jedoch ließ sich nicht so leicht entmutigen. Das Leben hatte viele Narben auf seinem kleinen Herzen hinterlassen, doch Freddie trug einen Funken Licht in sich, der hell strahlte, egal, wie dunkel die Welt um ihn her war. Und er war sogar noch dickköpfiger und entschlossener als ein Leprechaun – denen man nachsagte, die dickköpfigsten Fabelwesen dieses Planeten zu sein.

»Diese Handschrift …«, Freddie beugte sich tief über das Notizbuch, bis seine spitze Nase das Papier berührte, »… zeugt von einer sehr ungewöhnlichen Persönlichkeit. Guck dir die Ts an! Und das R! Ich habe mich viele Jahre lang mit Grafologie beschäftigt. Einer meiner Meister, ein Anwalt, ging keine Geschäfte ein, bevor ich nicht die Handschrift des Klienten analysiert und ihn für vertrauenswürdig erklärt hatte. Das hier ist eindeutig die Handschrift eines großen Künstlers, und diese Passage finde ich besonders interessant.«

Er räusperte sich und fing an, laut vorzulesen:

»In Schottland und Samoa begegnete mir eine merkwürdige Sage, in der ein riesiges Seeungeheuer vorkommt, welches in Zeiten der Not aus den Tiefen des Ozeans emporsteigt. Ihr Kommen – und ja, sämtliche Geschichten sind sich einig darin, dass es eine Sie ist – wird durch Schwärme von Seevögeln angekündigt, die sich in Form der Kreatur auf dem Wasser versammeln. Den Sagen nach geschieht dies an vier verschiedenen Orten. Verbindet man je zwei von ihnen, sodass die beiden Linien sich kreuzen, erfährt man den Ort, wo das Ungeheuer auftauchen und vier kostbare Samenkapseln aussetzen wird. Und jetzt wird es sogar noch faszinierender, mein alter Freund! All diese Sagen enthalten denselben zentralen Satz: Vier, um sie anzukündigen, vier, um sie zu empfangen. Der erste Teil bezieht sich natürlich auf die Vögel und die vier Versammlungsorte, aber ich habe eine Weile gebraucht, um herauszufinden, was der zweite Teil bedeutet. Wenn ich es richtig verstehe, ist dies eine Instruktion, dass die Samenkapseln von vier Fabelwesen in Empfang genommen werden müssen, die die vier Elemente verkörpern. Diese müssen die Kapseln an ihren Geburtsort bringen, wo die Samen Heilung und neues Leben bringen werden.«

Freddie blickte von dem Notizbuch auf. »Vier, um sie anzukündigen, vier, um sie zu empfangen!«, rief er zu Fliegenbein herauf. »Deshalb will Meister Wiesengrund, dass alle nach diesen Vogelformationen suchen! Und das ist der Zweck von Gilberts neuer Karte. Den Ort zu finden, wo sie ihre Kapseln freisetzen wird!«

Fliegenbein schloss die Augen. Freute er sich über Freddies Entdeckung? Nein, er war neidisch! Ach, er war so zornig auf sich selbst! All die einsamen Jahrhunderte hatten ihn ganz offensichtlich unfähig gemacht, ein guter Bruder zu sein. Sein Meister war ein hervorragender Bruder und niemals neidisch auf Guinever, obwohl ihre Brillanz manchmal etwas sehr Einschüchterndes haben konnte.

Freddie ahnte natürlich nichts von seinem Neid.

»Aber warum die Blumenform?«, murmelte er, noch immer vor dem Notizbuch kniend. »Ein riesiges Seeungeheuer, das wie eine Blume aussieht? Das klingt nicht sehr spannend.«

Spannend? Wer wollte denn, dass es spannend klang?

Beide Homunkuli drehten sich abrupt um, als sich die Tür der Bibliothek öffnete.

»Fliegenbein, Freddie.« Vita Wiesengrund rieb sich den Schlaf aus den braunen Augen. »Eine der Pilzlinge hat mich geweckt, weil sie sich wegen des Lichts in der Bibliothek Sorgen gemacht hat. Was ist so dringend, dass ihr beide die Nacht durcharbeiten müsst? Oder hat Freddie Schwierigkeiten mit seinem neuen Bein?«

»Überhaupt nicht!«, versicherte Freddie ihr mit einem breiten Lächeln. »Es funktioniert sogar besser als das echte, das Nesselbrand gefressen hat! Steppen ist mit einem Silberfuß so viel einfacher! Nein. Fliegenbein wollte herausfinden, warum Meister Wiesengrund plötzlich so interessiert an Schwärmen von Seevögeln ist. Gilbert wollte es uns nicht verraten.«

Natürlich. Fliegenbein ließ vor Scham den Kopf hängen. Für was für einen ungeduldigen und schmerzhaft neugierigen Dummkopf musste Vita ihn jetzt halten! Und er hatte sie mitten in der Nacht geweckt. Seine Neugier würde ihn eines Tages noch umbringen, da war er sich sicher. Neugier? Das ist eine sehr freundliche Umschreibung, tadelte er sich selbst. Dein unbeherrschbarer Drang, alles besser zu wissen, Fliegenbein!

Doch Vita lächelte ihn nur verständnisvoll an.

»Ja, Barnabas war in den letzten Tagen sehr ausweichend, was das betraf.« Sie kniete sich neben Freddie auf den dicken roten Teppich, den fünfzehn winzige marokkanische Dschinns gewebt hatten, um sich bei den Wiesengrunds für die Befreiung aus einer Plastikflasche zu bedanken.

»Ihr müsst wissen«, sagte Vita, »dass Barnabas nur dann so geheimnisvoll tut, wenn er nicht genau weiß, ob er eine Geschichte glaubt. Oder wenn er befürchtet, dass ein dramatisches Ereignis bevorsteht. In diesem Fall könnte beides zutreffen.«

Freddies Augen weiteten sich, bis sie so groß wie Erbsen waren. Normalerweise hatten sie die Größe von Stecknadelköpfen.

Vita klappte das Notizbuch zu und sah sich den Umschlag an. »Robert Louis Stevenson?«, sagte sie, während sie es wieder aufschlug. »Ich wollte unbedingt Kapitänin werden, nachdem ich sein Buch Die Schatzinsel gelesen hatte. Barnabas hat nach dem Lesen erwogen, Pirat zu werden. Sein Urgroßvater war ein Freund von Stevenson. Und er hat offensichtlich nicht geahnt, wie berühmt sein dünner schottischer Freund eines Tages werden würde, sonst hätte er seine Originalbriefe ganz sicher nicht in so ein billiges Notizbuch geklebt. Die Briefe wären heute ein Vermögen wert! Aber Barnabas hat entschieden, sie in dem Buch seines Urgroßvaters zu lassen, zusammen mit dessen Notizen. Eine der Eintragungen berichtet, dass Robert Louis Stevenson viele der Geschichten von einer Selkie erfahren hat. Dieser Gedanke gefällt Barnabas natürlich sehr. Und ja, er glaubt, dass eine Verbindung zwischen einer dieser Geschichten und den Vogelformationen besteht.« Sie zwinkerte Freddie und Fliegenbein zu. »Gut gemacht. Sicher habt ihr den Brief gefunden, in dem sie erwähnt werden?«

Freddie nickte, und Vita beugte sich über das Notizbuch.

»Ja, genau das ist der Brief. Es steht alles da«, murmelte sie. »Barnabas ist damals durch ganz Schottland und Samoa gereist, um die Quellen dieser Sage zu studieren. Wir hatten uns gerade erst kennengelernt, und ich bin nicht mitgefahren. Aber zwei enge Freunde haben Barnabas begleitet: Kahurangi, den er gerade in Neuseeland getroffen hat, und Lizzie Persimmons, beides enge Freunde aus seiner Schulzeit, die genau wie wir an die Existenz von Fabelwesen glaubten. Lizzie ist nur wenige Monate nach dieser Reise ertrunken, und seitdem hat Barnabas Angst vor dem Meer. Er redet nicht gern darüber.«

Vita starrte aus dem Fenster, wo die Dunkelheit der Nacht selbst die Bäume, die direkt davor standen, verschluckte. »Auf Samoa haben sie noch ein paar neue Einzelheiten über die Sage erfahren, von der Stevenson berichtet. Recht beunruhigende Einzelheiten. Jede Geschichte hat auch eine dunkle Seite, stimmt’s?«

»Beunruhigend?« Fliegenbein räusperte sich. Dieses Wort war ihm zuwider. Es verursachte ihm Sodbrennen.

Freddie dagegen sprang auf die Füße und blickte zu ihm hinauf, als hätte Vita gerade verkündet, dass Weihnachten von nun an zweimal im Jahr gefeiert werde.

»Diese Einzelheiten …«, seine Füße vollführten ein paar aufgeregte Tanzschritte, »… ich nehme an, die sind ein Familiengeheimnis? Fliegenbein und ich verstehen natürlich, dass wir nicht Teil de-«

»Natürlich seid ihr Teil der Familie, Freddie«, unterbrach Vita ihn. »Dein Bruder ist der beste Freund meines Sohnes!«

Ihre Worte schmolzen Fliegenbein das Herz. Und füllten es bis zum Bersten mit Sehnsucht nach seinem Meister.

»Und nein, diese Einzelheiten sind nicht geheim, jedenfalls nicht in diesem Haus«, fuhr Vita fort. »Ich bin sicher, dass Barnabas sich nur deshalb zu der ganzen Sache ausschweigt, weil er sich noch nicht sicher ist, was das alles bedeutet.«

Nun war Fliegenbein eindeutig besorgt.

»In dem Brief, den Freddie vorgelesen hat …« Er musste sich erneut räuspern. Warum schlug ihm Angst nur immer auf die Stimmbänder? »… ist von einem riesigen Seeungeheuer die Rede. Lässt sich riesig genauer definieren? Sprechen wir von drachengroß? Oder einem Ungeheuer von der Größe einer …«, er schluckte, »… Seeschlange?«

Vita schüttelte den Kopf. »Anscheinend ist nichts auf diesem Planeten mit dieser Kreatur vergleichbar. So groß wie eine Insel, so groß, dass hundert Wale sich in ihrem Schatten verlieren … das sind die Zitate, die Barnabas aus Samoa mitgebracht hat.«

Fliegenbein schloss die Augen, doch er sah nur ein gewaltiges Monster aus dem Ozean aufsteigen, das einen Blauwal verschluckte, als wäre er eine Makrele.

»In Geschichten wird die Größe von Fabelwesen oft übertrieben«, beruhigte Vita ihn. »Und ihr beide wisst, dass die größten meist nicht die gefährlichsten sind. Nein, nicht die Größe des Ungeheuers ist das Besorgniserregende, sondern was passiert, wenn es sich bedroht fühlt. Aber das ist hoffentlich auch nur die Art von apokalyptischem Märchen, die man überall auf der Welt erzählt.«

Apokalyptisch. Das Wort war ganz eindeutig schlimmer als beunruhigend.

»Und was passiert in dem Fall?« Aus Freddies Stimme klang nichts als Neugier. Unglaublich.

Vita klappte das Notizbuch zu und nahm es an sich. »Die Aurelia – so nennen sie das Wesen in Schottland –«, sagte sie, während sie aufstand, »erhebt sich nur in Zeiten, wenn das Leben auf diesem Planeten in Gefahr ist und nach Hilfe ruft. Sie bringt Kapseln mit sich, die die Samen neuen Lebens enthalten, von Fabelwesen, die niemand je gesehen hat, Wesen, die Heilung für Wasser, Luft, Erde und Feuer bringen. Doch wenn die Aurelia sich bedroht fühlt oder jemand versucht, die Kapseln, die sie mit sich trägt, gewaltsam an sich zu nehmen, dann«, Vita starrte erneut in die Nacht, »wird sie die Ozeane in Brand setzen und …«

»… das ist das Ende der Welt!«, rief Freddie, als wäre das ein Ereignis, von dem er immer schon gehofft hatte, es einmal selbst mitzuerleben.

»Nein, nicht das Ende der Welt, Freddie.« Vita schüttelte den Kopf. »Es heißt, dass sie all die, die sie in diese Welt gebracht hat …« Sie zögerte und verstummte.

»Wisst ihr was?«, sagte sie schließlich. »Barnabas hat recht. Wir sollten nicht darüber reden, bis wir sicher wissen, worum es bei all dem wirklich geht.«

Sie lächelte den Homunkuli zu. »Lasst uns schlafen gehen!«

»O nein!«, rief Freddie. »Bitte, Meisterin Wiesengrund! Fliegenbein und ich haben schon viele schlimme Dinge erlebt. Über sie Bescheid zu wissen, ist immer besser, als sich ständig zu fragen, was auf einen zukommt!«

Vita blickte ihn nachdenklich an.

Fliegenbein hatte das Atmen vergessen.

»Ja«, sagte Vita. »Ja, das ist wahr.«

Sie zog einen der Stühle heran, die um den Bibliothekstisch herumstanden, und setzte sich.

»Es heißt, wenn der Aurelia Gewalt begegnet, während sie sich aus dem Meer erhebt, um ihre Kapseln zu überbringen, wird sie niemals zurückkehren, und …«, Vita holte tief Luft, »alle Fabelwesen werden mit ihr verschwinden, weil sie sie einst in diese Welt gebracht hat.«

Jetzt hatten sogar Freddies Füße vorübergehend vergessen, wie man tanzte. Er sah zu Vita auf, als wartete er darauf, dass sie lachte und ihnen sagte, dass sie nur einen Scherz gemacht hatte. Doch Vita Wiesengrunds Miene blieb ernst.

»Es tut mir leid, ihr beiden«, sagte sie. »Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ihr heute Nacht nicht so schlau gewesen wärt. Ich hasse es, euch auf diese Art Angst zu machen, und genau aus dem Grund war Barnabas so verschlossen, sogar mir gegenüber. Er weiß, was für eine schlechte Lügnerin ich bin, sogar noch schlechter als er!«

Schweigen füllte die Bibliothek. Nur der Leprechaun schnarchte unter dem Tisch, nichts ahnend von der Bedrohung, die diese Nacht plötzlich dunkler erscheinen ließ als andere. Als alle anderen …

Fliegenbein musterte die Bücher, die sie umgaben. In den meisten von ihnen ging es um die Fabelwesen dieser Welt. Würden sie alle bald bedeutungslos sein? Würde von ihm und seinem Bruder nichts bleiben außer ein paar toten Seiten in einem Buch?

Es ist eine Geschichte, Fliegenbein, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Bloß eine alte Geschichte. Diese Vögel wissen gar nicht, was sie da tun. Wahrscheinlich ist der Grund nur ein besonders schmackhafter Fisch.

»Du sagst ›sie‹, wenn du von dem Monster sprichst«, sagte Freddie. »Was ist sie?«

Vita setzte ihn auf ihre linke und Fliegenbein auf ihre rechte Schulter. »Die Aurelia soll eine gewaltige Qualle sein, so schön wie eine Blume, die in den Tiefen des Ozeans erblüht.«

Es wurde immer besser. Die tödlichste Kreatur der Meere war Carukia barnesi. Eine Qualle.

Einer der Bildschirme am anderen Ende des Raumes erwachte. Er flackerte und brummte, während ein Bild Gestalt anzunehmen versuchte. Es gab insgesamt dreizehn Monitore in der Bibliothek, die MÍMAMEIÐR mit den FREEFAB-Mitgliedern auf der ganzen Welt verbanden. Ben und Guinever hatten mehrfach versucht, ihre Eltern davon zu überzeugen, dass die technische Ausrüstung von MÍMAMEIÐR dringend erneuert werden musste. Doch ihre Eltern hatten jedes Mal dagegengehalten, dass es zu viele Fabelwesen gebe, die Nahrung oder Schutz brauchten, um das Geld in Kabel, Bildschirme oder Lautsprecher zu investieren. Nun, überlegte Fliegenbein, während Lola Grauschwanz, die beste aller FREEFAB-Späherinnen, aus dem Nebel des Bildschirms auftauchte, vielleicht würde es bald nicht mehr so viele Fabelwesen geben. Denn wie wahrscheinlich war es, dass ein riesiges Ungeheuer, das sich aus den Tiefen des Ozeans erhob, auf diesem Planeten friedlich empfangen werden würde?

Nein, sie waren verloren. Sie waren alle verloren! Die letzten Pegasi, die sie gerettet hatten. Die Greife. Sogar die jungen Drachen, die gerade geboren worden waren. Hothbrodd würde verschwinden, der Leprechaun und all die Gnome und Nisser, die MÍMAMEIÐR bevölkerten, die Vogelmenschen, die Pilzlinge, die Elfen und Feen …

Und die Menschen würden es vermutlich nicht einmal bemerken! Schließlich verschwanden an jedem Tag so viele Tiere, so viele Fische, Käfer, Vögel, weil die Menschen immer mehr von der Welt für sich beanspruchten … Wen kümmerte es da schon, wenn es Feen, Drachen und Homunkuli genauso erging?

Ach, was für eine traurige Nacht.

»Na, da hab ich ja Glück!«, schrillte Lola Grauschwanz mit ihrer wie immer höchst energischen Rattenstimme. »Ich hatte befürchtet, dass zu dieser Zeit niemand wach sein würde. Wie spät ist es in Norwegen? Zwei Uhr nachts? Ich habe versucht, Barnabas zu erreichen, weil es am Saum des Himmels gerade Tag sein müsste, aber ohne Erfolg.«

»Da drüben ist es ziemlich stürmisch«, sagte Vita. »Fliegenbeins und Gilberts letzte Gespräche mit ihnen wurden beide vom Regen unterbrochen. Und Barnabas hat dreizehn Jungdrachen um sich herum …«

Es tröstete Fliegenbein, Lolas Gesicht und ihre Schnurrhaare zu sehen, auch wenn sie verschwommen waren. Keine schlechte Nachricht konnte Lola Grauschwanz ihren Mut nehmen. Doch bei der Erwähnung der jungen Drachen verzog sie das Gesicht. Lola war nicht direkt der mütterliche Typ. Der Klang eines Flugzeugpropellers erweichte ihr viel eher das Herz.

»Also, richtet Barnabas aus, dass ein Albatross von einem dritten Vorfall berichtet hat, nahe der chilenischen Küste«, sagte sie.

Vita und die beiden Homunkuli sahen einander an.

»Wir brauchen die genauen Koordinaten, Lola.« Fliegenbein war es peinlich, wie heiser seine Stimme klang. Die Angst … natürlich.

»Habe ich schon über den FREEFAB-Server geschickt«, erwiderte die Ratte mit leicht beleidigter Miene. »Was glaubst du, mit wem du hier redest, Humklupus? Mit einer Käse stehlenden Hausratte?«

»Drei!«, rief Freddie. »Dann fehlt nur noch einer.«

»Ich war noch nicht fertig, Humpelkus«, korrigierte ihn Lola. »Ein weiterer Schwarm wurde in Neufundland gesichtet. Und ja, auch diese Koordinaten habe ich geschickt.«

Vier, um sie anzukündigen, vier, um sie zu empfangen.

»Ach ja, bevor ich es vergesse, Vita«, sagte Lola, »auch wenn ich das zu gern täte: Cadoc Aalstrom weiß ebenfalls von den Sichtungen. Er trifft bereits Vorkehrungen, seine unterirdische Festung zu verlassen.«